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Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg
Herausgegeben von:
Bettina Jander, Severin Richter-Devroe, Melanie Rücker, Maria Steeg, Nina Weisweiler,
Impressum
ISBN 978-3-86408-088-3 (epub) // 978-3-86408-089-0 (pdf)
Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1987.
Rodenberg, Julius, Bilder aus dem Berliner Leben, Berlin 1987.
Digitalisierung: Vergangenheitsverlag.
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readbox publishing, Dortmund
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die letzte Pappel
Sonntag vor dem Landsberger Tor
In den Zelten
Die Kreuzberger Gegend
Die frühen Leute
Der Norden Berlins
Im Herzen von Berlin
Unter den Linden
Personenverzeichnis
Straßenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Anmerkungen
Einleitung
„Es ist das bescheidene Geschäft oder Amt eines Chronisten, das ich beanspruche.” So erklärt Julius Rodenberg seinen Schreibstil in seiner Berliner Chronik „Bilder aus dem Berliner Leben”. Im Hinblick auf seine herausragenden Leistungen als Herausgeber der „Deutschen Rundschau” ist dieses literarische Werk Julius Rodenbergs bisher auf weniger Beachtung gestoßen. Er bietet uns jedoch eine detaillierte und eindrucksvolle Schilderung des Berliner Lebens vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Besondere an den „Bildern” sind die Beschreibungen des alltäglichen Berliner Lebens, des einfachen Bürgertums und der gehobeneren Schicht des Literatur- und Kulturbetriebs sowie auch des tiefgreifenden Wandels des Stadtbildes. Rodenberg gewährt uns eine neue Perspektive auf die großen politischen, kulturellen und urbanen Ereignisse des Berlins dieser Zeit.
Für jeden, der Berlin schon einmal erlebt hat und die Stadt kennt, ist es eine Freude, gemeinsam mit dem Autor durch ihre Straßen zu wandeln und zu bemerken, was sich seit seinen Spaziergängen verändert hat und was bis heute noch immer beinahe gleich geblieben und leicht wiederzuerkennen ist. Auch Berlin-Neuentdecker kommen auf ihre Kosten und können sich der Hauptstadt auf eine völlig neue Weise annähern. Allen Berlin-Begeisterten wird es ermöglicht tiefer in den Werdegang des jungen Berlins zur europäischen Metropole einzutauchen und einen Teil seiner Geschichte mitzuerleben. Mit seinen Erzählungen greift Rodenberg zum Teil weit in der Zeit zurück, so dass man schließlich ein komplexes Bild vom Berliner Stadtleben des 18. und 19. Jahrhunderts und dessen Persönlichkeiten vor Augen hat. So gibt es Orte, die von Rodenberg noch als ländliche Gegenden mit Feldern und Wiesen beschrieben werden und heute längst zu bebauten und von Menschen wimmelnden Plätzen an Hauptverkehrsstraßen geworden sind. Auch Gegenden wie der Tiergarten mit dem Großen Stern und der Siegessäule in dessen heutiger Mitte, welche zu seiner Zeit kaum Veränderungen erfahren haben, spiegeln sich in seinen Beschreibungen wieder und laden ein Rodenbergs Wegen zu folgen. Ausführlich beschreibt er unter anderem auch die Entstehung der Kaiser-Wilhelm-Straße, der heutigen Karl-Liebknecht-Straße, und bedauert den Verlust vieler historischer Bauwerke, die für den Bau dieser wichtigen Verkehrsader weichen mussten. Die lebhaften und äußerst detailgetreuen Beschreibungen erwecken ein intensives Bild vor dem inneren Auge, so dass der Eindruck entsteht als stünde man selbst neben dem schwärmenden Erzähler und beobachtete gemeinsam mit ihm die Szenerie. Julius Rodenberg, selbst Wahlberliner und ein Kenner vieler europäischer Großstädte dieser Zeit, eröffnete sich dadurch auch ein immer wieder neuer Blickwinkel auf Berlin.
Das künstlerische, speziell das literarische, Leben der Stadt macht einen Schwerpunkt des Werks aus. Seine Spaziergänge führen ihn immer wieder zu Kirchplätzen und Friedhöfen, auf denen wichtige Persönlichkeiten des städtischen Kulturlebens ruhen. Von hier aus beginnt er seine Gedanken schweifen zu lassen und aus seinem tiefen Wissensschatz zu schöpfen. Er weiß ausführlich über jenePersonen zu berichten, unter anderem E. T. A. Hoffmann, den Berliner Verleger Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn oder die großen Damen der Berliner Salons, besonders Henriette Herz und Rahel Varnhagen. Auch der Aufstieg von Großindustriellen wie August Borsig wird von ihm leidenschaftlich beschrieben.
Die „Bilder aus dem Berliner Leben” zeichnen sich durch einen nahezu tagebuchartigen Schreibstil aus. Das mag unter anderem daran liegen, dass Julius Rodenberg seit seinem 20. Lebensjahr geflissentlich Tagebuch führte. Er sagt selbst, er habe die „Bilder” so verfasst „wie man ein Tagebuch schreibt”, wodurch es Rodenberg gelingt einen sehr persönlichen Einblick zu vermitteln. Auch sein feuilletonistischer Schreibstil, den Rodenberg sich in seiner jahrelangen Arbeit als Journalist angeeignet hat, spiegelt sich in seinem Werk deutlich wieder.
Rodenberg, den man heute zumeist nur als Herausgeber und Begründer der „Deutschen Rundschau” kennt, war ein ruhiger Mensch mit einer konservativen Haltung und einem großen Harmoniebedürfnis. Er glaubte an „soziale Harmonie” und an eine mögliche „freundschaftliche Annäherung” zwischen Bürgertum und Arbeitern. Dabei verschloss er weitestgehend die Augen vor den unschönen Seiten der Stadt und in der Rezeptionsgeschichte der „Bilder aus dem Berliner Leben” entstand der Vorwurf, er würde die durch die Industrialisierung hervorgerufenen Missstände ausblenden. Das Leid der Arbeiterbevölkerung sowie die aufkommende, ihr Recht einfordernde Arbeiterbewegung wurden von ihm in der Tataußer Acht gelassen. All dies ist jedoch kaum verwunderlich, wenn man seinen Lebensweg betrachtet. Der Schriftsteller führte ein angenehmes, unaufgeregtes Leben. Für ihn bestanden keinerlei Gründe an den bestehenden Verhältnissen etwas ändern zu wollen, so wie er sagt: „Das Bild eines mäßigen bürgerlichen Glücks ist mir das liebste von allen Bildern aus dem Berliner Leben.”
Er selbst sah sich als jemand, der „das Schauspiel menschlicher Tätigkeit betrachten darf wie ein unbefangener Zuschauer und nicht wie einer, der auf der Bühne selber etwas vorstellen will”. In dieser Aussage zeigt sich sein bescheidener und zurückhaltender Charakter: Julius Rodenberg suchte die Ruhe und sah dem bunten Treiben lieber vom Rand aus zu. Er konnte sich dennoch im höchsten Maße daran erfreuen. So wäre es für ihn undenkbar gewesen, auf seine täglichen Spaziergänge durch die Stadt zu verzichten, denen wir heute diese wunderbaren Erinnerungen an das alltägliche Berliner Leben verdanken, welche in anderen historischen Werken in dieser Art seltener zu finden sind. Er gibt uns nicht die Milieustudien eines Heinrich Zilles und äußert sich auch nicht staatskritisch wie Ernst Dronke. Er nimmt sich aber die Zeit, eine Entwicklung innerhalb Berlins zu beschreiben, die nicht von Armut und Repressalien geprägt ist und schildert auf seine spezielle Weise den städtebaulichen und kulturellen Werdegang der noch jungen Metropole.
Hier ist es interessant einmal einen Blick auf den Lebenslauf und die persönliche Entwicklung des Wahlberliners zu werfen: Julius Rodenberg wurde 1831 als Julius Levy und ältestes von sechs Kindern geboren. Er wuchs in einer wohlhabenden, literarisch interessierten jüdischen Familie auf. In demselben Jahr, in dem er sein Abitur in Rinteln machte, veröffentlichte er die Gedichtsammlung „Geharnischte Sonette für Schleswig-Holstein”, eine Sammlung von der Revolution von 1848 inspirierter, politischer Lyrik mit nationalistischem Eifer. Rodenberg strich sie jedoch im Nachhinein aus seiner Gesamtgedichtsammlung, da sie ihm zu radikal erschien.
In den folgenden Jahren absolvierte er ein Jurastudium, welches ihn zum ersten Mal nach Berlin führte. Schon im Alter von 23 Jahren verkehrte er in bekannten Literatenkreisen, denen Paul Heyse, Gottfried Keller, sowie die Brüder Grimm angehörten. Die Großstadt wirkte auf den jungen Studenten zunächst verwirrend und beängstigend, doch schon bald begann er mit seinen ersten Streifzügen durch die Stadt, die ihn sein Leben lang faszinieren sollte.
Ab 1854 arbeitete er in Marburg als Redakteur am Feuilleton des „Hannoverschen Kurier”. Im selben Jahr riet ihm sein Mentor, der Schriftsteller und Diplomat Karl August Varnhagen von Ense, zur Namensänderung und zur Konvertierung zum Christentum, wovon Rodenberg jedoch nur das erstere verwirklichte. Es folgten weitere Reisen, bei denen er oft als Korrespondent über die damals populären Weltausstellungen berichtete. Wichtigste Stationen waren London und Paris, wo er das Großstadtleben besser kennen lernte und seine Fremdsprachenkenntnisse vertiefte. Nach seiner Promotion in Marburg verlagerte sich sein Interesse weg von lyrischen Arbeiten hin zu Reiseberichten, die seine ersten größeren Erfolge wurden.
1859 erfolgte die endgültige Übersiedlung nach Berlin. Er arbeitete als freier Journalist für das Feuilleton der „Preußischen Zeitung, der „Breslauer Zeitung” und als Korrespondent für die Wiener „Presse” und knüpfte dadurch Kontakte zu national-liberalen Kreisen.
Auf einer Italienreise begegnete er Justina Schiff, Tochter eines reichen Fabrikanten, die er 1863 heiratete und mit der er eine Tochter, Alice Rodenberg, hatte.
Seine Laufbahn als Publizist begann 1862 mit der Herausgabe des „Deutschen Magazins”, einer monatlich erscheinenden Unterhaltungszeitschrift, die jedoch bereits nach zwei Jahren wieder eingestellt wurde. Anschließend übernahm er die Leitung der belletristischen Beilage der Frauen- und Modezeitschrift „Bazar”. 1867 gründete Rodenberg zusammen mit Ernst Dohm die Zeitschrift „Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft”, die er ab 1871 alleine weiterführte.
Mit Hilfe seines großen Netzwerks an literarischen und kulturpolitischen Kontakten, rief er im Jahr 1874 schließlich seine eigene Zeitschrift ins Leben: Die „Deutsche Rundschau”. Diese wurde vierzig Jahre lang von ihm persönlich redigiert und entwickelte sich zu seinem Lebenswerk. Sie etablierte sich zu einer anspruchsvollen, monatlichen Revue und wurde bald zum Forum der Intellektuellen der Gründerzeit. Es handelte sich um ein bürgerlich-konservatives Blatt, das den Anspruch erhob, gleichermaßen liberal wie national ausgerichtet zu sein. Die Zeitschrift förderte viele Autoren, die später teilweise zu Weltruhm gelangten, unter anderem Theodor Storm, Gottfried Keller, Paul Heyse, Conrad Ferdinand Meyer, Ernst Robert Curtius oder Theodor Fontane, mit dem Rodenberg einen regen Briefwechsel pflegte.
Neben seiner Tätigkeit als Publizist verfasste er weiterhin zahlreiche literarische Schriften, beispielsweise den dreibändigen Gesellschaftsroman „Die Grandidiers” (1878), der heute als sein Hauptwerk gilt. Die „Bilder aus dem Berliner Leben” wurden ebenfalls in drei Bänden herausgegeben undim Zeitraum von 1885 bis 1888 in der „Deutschen Rundschau” veröffentlicht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Rodenbergs publizistische Tätigkeit in seinem Leben eine bedeutendere Position einnahm als seine schriftstellerische.
Im Jahre 1867 zog Rodenberg mit seiner Familie in die Margarethenstraße 1 in Berlin. Hier lud er sich abends gern eine Schar von Gästen ein, speiste mit ihnen und tauschte sich über das Kulturleben Berlins aus. Als Ehrung für seine 25-jährige Redaktionstätigkeit bei der „Deutschen Rundschau” verlieh man ihm 1899 den Professorentitelund er wurde 1911 zum Ehrenbürger der Stadt Rodenberg ernannt.
Julius Rodenberg starb am 11.7.1914 in seinem Wohnhaus in Berlin und wurde auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde begraben.
Heute jedoch erinnert kaum noch etwas an diesen leidenschaftlichen Verehrer der Stadt Berlin. Lediglich eine Straße und ein mittlerweile geschlossenes Gymnasium im Stadtteil Prenzlauer Berg sind nach ihm benannt worden, sowie eine Grundschule in seiner Heimatstadt. Doch es lohnt sich, ihn und sein Berlin in die Erinnerung zurück zu rufen und ihm auf seinen Spaziergängen durch diese faszinierende, lebendige Stadt zu folgen, wenn er fragt: „Wohin nun, mein Freund? Ganz Berlin gehört dir; entscheide, triff deine Wahl!”
Julius Rodenberg, Bilder aus dem Berliner Leben
Die letzte Pappel
(Dezember 1875)
Der Sturm von gestern nacht hat sie gefällt. Es war aber auch ein furchtbarer Sturm. Die Fenster klapperten, die Ziegel fielen von den Dächern, draußen war ein solcher Rumor und in meinem Schlafzimmer ein solcher Zug, dass ich zum ersten Male nach langer Zeit wieder in einer Schiffskajüte zu schlafen glaubte. Die ganze Nacht träumte ich von der See, und als ich einmal aufwachte – meine brave Schwarzwälder Uhr draußen auf dem Gange schlug gerade drei –, da war mir, als ob ich den alten Kapitän rufen hörte – den alten dicken Kapitän mit der roten Nase und den kurzen Beinen, denselben, mit dem ich vor Jahren einmal in einer ähnlichen Nacht unterwegs war, zwischen Leith und Hamburg –, und dann vernahm ich ordentlich das Ächzen des Schiffes und das Brausen der Wellen, und ein Ton war in der Luft, als ob ein Baum bräche, als ob Holz splittere ... »Mein Gott, mein Gott«, rief ich, »wir sind verloren« – und ich wollte mich eben anschicken, das sinkende Schiff zu verlassen, um in einem der Böte Rettung zu suchen, als ich zum Glück bemerkte, dass ich in meinem Bette sei und dass sich alles in guter Ordnung befinde, mit Ausnahme der Wettergardinen und Ringe, welche vor dem Fenster zusammen mit dem Winde klingelten und musizierten, dass einem der Schlaf wohl vergehen konnte. Doch es war Sphärenmusik, verglichen mit den Schrecken der heulenden See, welche sich mir so lebendig aufdrängten, dass ich nicht nur den gischtüberschäumten Steuerbord gesehen, das Tosen der Brandung gehört, das Gemisch von Salz und Teer gerochen, sondern auch gewissermaßen den Grog geschmeckt hatte, den ich gestern abend mit dem alten Kapitän getrunken. Der friedliche Zuruf meiner Uhr beruhigte mich indessen auch über diesen letzteren Punkt; es ward mir plötzlich klar, dass ich allerdings gestern abend Grog getrunken, starken Grog obendrein, aber nicht mit dem Kapitän – der, Gott weiß es, schon lange kein Schiff mehr führt. Ich schlief also wieder ein. Aber in derselben Nacht und um dieselbe Stunde ist sie vom Sturme gebrochen worden, die letzte Pappel.
Abbildung 1, Julius Rodenbergs Wohnhaus in der Margaretenstraße 1, 1935
Als ich zuerst in diese Gegend der Stadt kam, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, da waren mehr Pappeln hier; in der Tat, mehr Pappeln als Häuser. Das Haus, in dem ich jetzt wohne1, war noch nicht, und die Straße, in der es steht, war noch nicht, und alle anderen Straßen um sie her waren auch noch nicht. Gärten waren da, mit kleinen, niedrigen, einstöckigen Häuschen und gemütlichen Leuten darin, denen man in die Fenster sehen konnte, wenn man vorüberging. Man konnte sie, bei der Lampe, rund um den Tisch sitzen und ihr Abendbrot essen sehen, welches ihnen in der Regel ausgezeichnet schmeckte. Still war es hier wie auf dem Lande; Wagen kamen selten, und Omnibusse gab es noch nicht. Aber Pappeln gab es, die schönsten und die größten, die man sehen konnte; alte Bäume, die zur Zeit Friedrichs des Großen gepflanzt und schon stattlich in die Höhe gegangen sein und eine hübsche Allee bilden mochten, als er, in seinen späteren Jahren, in seiner Kalesche von Potsdam nach Schöneberg und von Schöneberg nach Berlin fuhr. Saatfelder waren damals zu beiden Seiten der Pappelallee und Wiesen und Gräben, und etwas davon war noch übrig vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, wiewohl das Saatfeld hier und da schon hinter Holz- und Kohlenplätzen verschwand, die Wiesen sich in Baugrund verwandelten und die Gräben in einen Kanal, auf welchem Torfkähne gingen und demnächst der erste Apfelkahn erschien.
Wo der Apfelkahn erscheint in Berlins Gewässern, da darf man auf eine Wendung der Dinge gefasst sein; heute noch ein einsames Zeichen der vordringenden Kultur, wird er morgen oder übermorgen von neuen Häusern, neuen Straßen, neuen Menschen umgeben und in dieser sich überstürzenden Menge des Neuen das einzige Ding sein, welches mit einem gewissen Ausdruck von Alter, Stabilität und Ehrwürdigkeit seinen Platz behauptet.
Indessen litt die Pappelallee vorläufig keinen Schaden; sie gewann sogar durch die Nähe des Wassers einen malerischen Reiz mehr, und da, wo sie in einer Art von spitzem Winkel auf den Kanal stieß, lag ein Garten, der von allen Gärten in dieser Nachbarschaft der merkwürdigste war. Es war nur ein kleiner Garten; aber einen großen Raum müsste ich haben, wenn ich all seine Eigenschaften beschreiben wollte. Er war dreieckig; man musste, wenn man von der Straße kam, ein paar Stufen hinabsteigen, und man hatte, wenn man darin war, die Vorstellung, nicht nur in einem tiefen, sondern auch in einem niedrigen Garten zu sein, wenn so etwas von einem Garten gesagt werden kann. Denn die Bäume wuchsen hier nicht in die Höhe, wie Bäume sonst zu tun pflegen, sondern sie waren, ich weiß nicht durch welche Kunst, in die Breite gestreckt worden, so dass sie den ganzen Garten mit einem Geflecht von Zweigen bedeckten, durch welches zwar der Regen, aber niemals ein Sonnenstrahl dringen konnte. Dennoch war es ein schöner Aufenthalt, und halbe Sommernächte lang habe ich darin gesessen.
Ich vergaß zu sagen, dass es ein Bier- und Kaffeegarten war; doch das werden die Leser wohl erraten haben. Wie wäre ich sonst in den Garten gekommen? Fliederbüsche wüchsen an den Ecken des Gartens und erfüllten ihn, zur Zeit der Blüte, mit ihren süßesten Düften. Auch ein Hügel erhob sich nach der Wasserseite hin über den lückenhaften Bretterzaun, der den Garten umgab; und hier, wenn die Jahreszeit und das Wetter es erlaubten, pflegte sich an jedem Nachmittage, präzis vier Uhr, ein kleiner Kreis von Damen zu versammeln, welche, sobald sie ihre Sitze eingenommen, unaufhörlich strickten und unaufhörlich miteinander redeten. Ich habe mich, in jenen Tagen, oft darüber gewundert, was sie mit all den Strümpfen anfangen und woher sie all den Stoff zu ihren Gesprächen nehmen könnten. Doch sie müssen es wohl gewusst haben, und auch ich gewöhnte mich zuletzt daran wie an irgendeine andere gegebene Tatsache des Lebens. Denn ich war, wie gesagt, ein regelmäßiger Besucher, ich darf sagen, ein Stammgast des Gartens und lernte allmählich die Gesichter der übrigen Gäste kennen und in gebührender Reihenfolge ihre Namen, ihren Stand, ihren Charakter und bis zu einem gewissen Punkte, soweit es sich auf den Garten bezog, ihre Geschichte.
Schon am Schritt, wenn er noch draußen in der Pappelallee war, unterschied ich den alten Major von dem alten Regierungssekretär, die beide den Garten liebten und an jedem Tag an demselben Tische saßen, ohne jemals ein Wort miteinander zu wechseln. Dennoch, obwohl sie sich nicht einmal grüßten, bestand ein höchst intimes, auf das feinste Maß gegenseitiger Achtung gegründetes Verhältnis zwischen diesen beiden. Beide trafen fast gleichzeitig auf ihren Posten ein, beide teilten brüderlich unter sich die Zeitungen des Lokals, beide fuhren mit demselben Ingrimme auf, wenn irgendein anderer, mit dieser ihrer berechtigten Eigentümlichkeit unbekannt, ihnen ein Blatt streitig machen wollte, und beide, nachdem sie ihre Lektüre beendet, ihren Kaffee getrunken und ihre Zeche bezahlt hatten, erhoben sich kurz nacheinander vom Tisch und gingen, wie sie gekommen waren. So habe ich sie jahrelang beobachtet und immer von einem Tag zum anderen Tag erwartet, dass sie sich anreden würden. Doch das geschah nicht, so dass ich, wenn ich die Damen auf dem Hügel, die den Faden niemals verloren, mit diesen beiden Herren verglich, die ihn trotz täglichen Beisammenseins nicht anknüpfen wollten oder konnten, zwei der größten Gegensätze der menschlichen Natur vor mir sah.
Ferner waren ein paar Schachspieler da, verhältnismäßig junge Männer, aber mit einer guten Aussicht vor sich, in ihrem Amt älter zu werden: nämlich zwei königliche Gerichtsassessoren; ferner ein hagerer, knochiger alter Mann, der einen dicken Schal um den Hals und einen Sommerhut trug und nach der Aussage des Kellners (mit dem er sich regelmäßig jeden Tag eine halbe Stunde lang unterhielt) ein berühmter Gelehrter sei – in welcher Wissenschaft, konnte mir der Kellner nicht sagen, aber ich vermutete damals in irgendeiner von den schönen Wissenschaften, der Ästhetik oder Philosophie; ferner ein dicker Metzger, der, wie ich aus dem Wohnungsanzeiger erfuhr, auf Wollanks Weinberg wohnte und alle Tage den weiten Weg in seiner Equipage2 machte, um hier, vor dem, was damals noch das Potsdamer Tor war, Kaffee zu trinken und die Gerichtszeitung zu lesen.
Ich muss bemerken, dass diese Gesellschaft, die sich während des Sommers im Garten versammelte, in das kleine Haus rückte, sobald der Herbst gekommen war. Dieses kleine Haus, in welchem die Wirtschaft betrieben wurde, war in seiner Art ebenso merkwürdig wie der Garten. Ich begriff damals nicht und begreife noch heute nicht, wie zwischen diesen vier Mauern alles Platz hatte, was sich wirklich darin bewegte: die Kellner, die Köchin, die Gäste und, um das Beste zuletzt zu nennen, die Wirtin. Das Etablissement befand sich nämlich in weiblichen Händen. Die Wirtin, eine Witwe in reifen Jahren, ließ sich im Garten selten sehen, so dass Besucher, die nur während des Sommers kamen, kaum eine Ahnung von ihrer Existenz gehabt haben mögen. Dagegen waltete sie mit umso größerer Sorgfalt im Hause, und wer in das Innere desselben zugelassen und nach einer gewissen Probezeit in das Vertrauen der Wirtin aufgenommen war, der konnte sich nicht beklagen; der saß wie in Abrahams Schoß3. Das Meublement4 war zwar von der einfachsten Sorte (ich wende mich von meinem biblischen Bilde wieder zurück zu der kleinen Gartenwirtschaft); die Stühle hatten weder Polster noch Strohgeflecht, sogar einer hölzernen Bank erinnere ich mich. Allein niemand verlangte etwas Besseres, jeder war damit zufrieden und dankte Gott, wenn er, am Abend eintretend, seinen Platz unbesetzt fand. In diesem Punkte jedoch verstanden die Gäste der Gartenwirtschaft keinen Spaß, und ich entsinne mich noch sehr wohl des Spektakels, welchen der Professor machte, als eines Abends ein blonder, schüchterner Jüngling, der die Gesetze des Instituts nicht kannte und eigentlich nur aus Irrtum hineingeraten war, auf seinem Stuhle saß; sonst aber ging es sehr friedfertig und ordnungsmäßig her, einen Tag und Abend wie den andern. Öllampen brannten in dem langen, niedrigen und schmalen Gemach, welches dicht an die Küche stieß und in welchem die Gäste ihr Abendbrot erhielten, dampfend, wie es vom Herde kam.
Hinter dem Kellner her, in den späteren Abendstunden, machte die Wirtin die Runde, und es war ein Vergnügen, sie zu sehen, wie sie hier einen Augenblick stehen blieb und dort sich einen Augenblick niederließ; wie sie mit einer ungezwungenen Vereinigung von Zutraulichkeit und Würde in ihrem Benehmen an jeden einzelnen das Wort richtete und allen gleichmäßig das Gefühl des Behagens zurückließ. Wir jüngeren Adepten ihrer Wirtschaft nannten sie »Mutter«, und eine Mutter war sie uns, bedacht für Speise und Trank und sonstiges Wohlbefinden, bewandert in allen Angelegenheiten unseres täglichen Lebens, zuweilen mit einer kleinen Aufmunterung und zuweilen mit einem leisen Tadel; eine stattliche Person in einem baumwollenen Kleide, den glattgestrichenen Scheitel schwarz, mit kaum einem Verdacht von vordringendem Weiß, und das Gesicht voll, mit just einem Anflug von Kupfer, jenem vertrauenerweckenden Zuge der Gastlichkeit.
Übrigens gab es auch ein einziges Sofa im Zimmer; es war mit großgeblümtem Kattun5 überzogen und nach stillschweigendem Übereinkommen für den weiblichen Teil der Gesellschaft reserviert. Denn auch Damen kamen in das Winterlokal des Gartens; besonders eine Dame mit zwei Töchtern, einem Paar der hübschesten Wildfänge, die ich je gesehen. Die Dame, eine würdige Matrone, hatte im Sommer ihren Ehrensitz auf dem Hügel, wo sie, umgeben von ihren Freundinnen, die Präsidentin des kleinen Damenklubs zu sein schien. Aber sie wich auch im Winter nicht, wenn der Hügel verödet war, wenn die Bänke und Tische im Garten übereinandergehäuft standen, wenn die Pappeln ihre Blätter umhergestreut hatten und auf ihren kahlen Ästen sich die Krähen wiegten. Da kam die Dame mit den beiden Töchtern in das Gastzimmer, und da war es, wo die kleine Familie mein ganzes Herz gewann. Sie waren die glücklichsten drei Menschen, die mir in meinem Leben begegnet; sie sahen sich niemals an, ohne vor Vergnügen zu lachen, und freuten sich ihres Daseins auf jegliche Weise. Diese unmotivierte Heiterkeit gab mir häufig Anlass zum Verdruss; denn manch eine Stelle in den Reden des Landtags (die damals noch nicht so interessant waren, wie sie heute sind) musste ich zweimal, ja dreimal lesen, wenn das Gelächter plötzlich erscholl. Und ich muss es bekennen! – kaum hatten die beiden Mädchen, die eine von zwölf, die andere von zehn Jahren, bemerkt, dass ich ein verdrießliches Gesicht machte, wenn sie lachten, als auch ihre gute Laune sich verdoppelte und die Ausbrüche ihrer Lustigkeit sich verdreifachten. Was diese beiden kleinen Mädchen mir an den Augen absehen konnten, das taten sie, um mich zu ärgern, mit Auf- und Zuwerfen der Türen, mit Herein- und Hinauslaufen, mit allem, was man einem ordentlichen und gesetzten jungen Manne nur zufügen kann, der den Zug nichtliebt und ungestört seine Zeitung lesen will. Und was mich noch am meisten ärgerte, das war, dass einer von den beiden Schachspielern, anstatt gemeinschaftliche Sache mit mir gegen die Störenfriede zu machen, sie vielmehr in ihren Tollheiten noch unterstützte und namentlich an dem älteren Wildfang – dem ärgsten der beiden – sein ganz besonderes Wohlgefallen zeigte. Ich zweifelte nicht länger an der traurigen Wahrheit, dass ich ein Hauptgrund des Vergnügens für die beiden kleinen Mädchen und eine Hauptanziehung ihrer Besuche sei; diese wurden immer regelmäßiger und immer länger, und zuletzt schien die glückliche Familie ganz in dem Lokal zu wohnen. Des Nachmittags, wenn ich meinen Kaffee trank, waren sie schon da, und am Abend, wenn ich zu Nacht speiste, waren sie noch da. Die Mutter, eine brave Frau, hatte nicht Zeit, sich um ihre Töchter viel zu bekümmern, denn neben ihr im Sofa saß immer eine oder die andere von den Matronen des Hügels, und am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag spielten sie Whist6. Die beiden kleinen Mädchen fingen an, mir den Garten zu verleiden, und ich versuchte, demselben fernzubleiben. Aber damals gab es noch nicht so viele Restaurationen wie heute; man hatte keine Wahl, und außerdem – ich bin schwach genug, es einzugestehen – die beiden kleinen Mädchen fehlten mir! Man gewöhnt sich allmählich auch an den Ärger, und nach einer Woche war ich wieder da.
Den Jubel hätte man hören sollen! An dem Tage stand die Türe keinen Augenblick still, als ob mein Wiedererscheinen auf gar keine bessere Weise hätte gefeiert werden können.
Außerdem hatten die beiden kleinen Mädchen eine neue Attraktion in Gestalt jenes Apfelkahns entdeckt, der damals ungefähr zuerst Anker warf im Kanal. Nun waren die Äpfel an der Tagesordnung; Äpfel mit Wangen, so rot und blühend, wie die der beiden Mädchen. Alle möglichen Spiele mit Äpfeln und um Äpfel kamen aufs Tapet, sie warfen sich – und mitunter auch mich – mit Apfelschalen, und ich hatte bei meinem Weißbier Zeit, über dieses Symptom nachzudenken.
Doch nicht allzulange; höchstens zwei bis drei Jahre. Da blieb eines Tages das ältere der beiden Mädchen aus. Es ging mir ordentlich wie ein Stich durchs Herz, als die gemütliche Frau, zum erstenmal, seitdem ich sie kannte, nur mit der jüngeren ihrer Töchter hereintrat. Sie schien nicht weniger glücklich und zufrieden, als sie es vorher war; aber mir fehlte sie – mir fehlte das muntere Lachen meiner kleinen Feindin. Denn auch die Schwester war verstummt, seit die Spielkameradin verschwunden, und zu meinem Schrecken bemerkte ich, dass sie lange Kleider trage.
Um diese Zeit begannen die Veränderungen, welche aus der geschilderten Gegend das gemacht haben, was sie heute ist. Ein paar Pappeln wurden gefällt, ein paar Häuser wurden gebaut – scheinbar ohne Zusammenhang. Aber mehr Pappeln und mehr Häuser folgten, und der Zusammenhang stellte sich bald genug heraus: es war auf ein neues Stadtviertel und eine vollkommene Vernichtung der ländlichen Allee abgesehen, und wir armen Gartenbewohner lebten, sozusagen, nur noch auf Wartegeld. Ich kann nicht beschreiben, wie das von Tag zu Tag weiterging; aber wiederum nach ein paar Jahren, da sah man den Unterschied. Da sah man Straßen mit Namen, die man bisher nicht gekannt; riesenhohe Gebäude, zwischen denen sich der dreieckige Garten und das winzige Haus fast lächerlich ausnahmen. Von allen Pappeln waren nur noch drei oder vier übriggeblieben, welche den Saum des Gartens begrenzten; aber auch in jenem selbst bemerkte man den Einfluss der Zeit. An dem Tische der beiden Freunde, die niemals in ihrem Leben ein Wort miteinander gesprochen, saß nur noch einer; der andere war gestorben. Von den beiden Schachspielern war der eine in die Provinz versetzt worden, und der andere war immer noch Assessor7. Der reiche Metzger von Wollanks Weinberg brachte seinen Sohn mit, einen stämmigen Burschen von sechs Fuß Höhe; nur der Magister der freien Künste war unverändert derselbe, trug seinen Sommerhut im Winter und seinen dicken Schal im Sommer, ein wahrhaft tröstliches Bild der Philosophie, zu der er sich bekannte.