Читать книгу: «Das Erbe der Väter», страница 4
»Ihr kommt als Gast in meine Hallen«, polterte der Sanglor, trat zurück und breitete die Arme aus, woraufhin alle Feuer aufloderten und erstmals die wahre Größe dieses gewaltigen Saals zu erkennen gaben. »Ihr nehmt meine Freundschaft in Anspruch und erteilt mir die Anweisung, an einer Intrige teilzunehmen, um die Königsfamilie zu stürzen!«, schrie der fette Sanglor, dass ihm der Speichel aus dem Mund spritzte. Mit vor Wut gerötetem Kopf und geweiteten Augen blickte er sich im Saal um. »Kommt, oh meine Diener!«
Schatten regten sich, Krallen kratzten an den steinernen Säulen, schwere Tatzen schlugen gegen den Boden, als die Schattentänzer und Pogloraen hervortraten und wie Raubtiere ihre Beute umzingelten. Kurus heulte auf, tänzelte zurück, zeigte Furcht, wie der Bärtige es noch nie zuvor gesehen hatte.
»Stopft diesem Villar, diesem Drecksgetier, das Maul!«, schrie der Sanglor wütend, woraufhin einer der Pogloraen vortrat, die Stiefel schlurfend, in der Rechten eine Spitzhacke haltend.
»Wagt es nicht … ich bin ein Quarandor des Hohen Sanglors Echandus von Dagosturas! Niemals wurden je ein Quarandor und seine Begleitung angegriffen.«
»Wagt es nicht, mich zum Narren zu halten!«, unterbrach der Beleibte den Phindorch. »Ihr, Ermon, wagt, mich aufzusuchen und den Feind des Königs als einen Gast zu laden?«
Entsetzen breitete sich im Bärtigen aus. Wie konnte der Sanglor ihn erkannt haben, wo er all die Jahre verborgen gelebt hatte? Kaum jemand kannte seinen Namen oder gar sein Gesicht.
Doch all dies schien dem Sanglor nur pure Freude zu bereiten, als dieser die Verzweiflung in den Augen des wehrlosen Bärtigen sah. »Ja, ich weiß, wer Ihr seid, Rachomus von Tarangien. Ihr seid eine Plage! Männer, die einst einen Schwur ablegten, brachen diesen Eid, um jene zu bekämpfen, die sie einst zu schützen gelobten. Feige, hinterhältige, weibische Verräter seid ihr!«
Nahezu mit vollkommener Gelassenheit wandte er sich dem Phindorch und Quarandor zu, der nun auf die Knie gefallen war, das Gesicht erblasst, die Augen voller Leere. »Prinz Vindigor von Tallân war eher hier bei mir zu Gast und machte mir wahrlich ein großzügiges Geschenk. Ein Handel, den nur ein Narr hätte ausschlagen können. Er warnte mich zudem vor Euch und Eurem Manarch, Ihr würdet kommen und einen jämmerlichen Plan ausfassen. Aber ich nehme natürlich Euer Angebot an und werde zur Königsstätte reisen und all Eure Hilfe in Anspruch nehmen.« Dabei wedelte der Beleibte mit dem Stück Pergament, das der Phindorch ihm zuvor gegeben hatte, zog einen Dolch hervor und leckte mit seiner Zunge genüsslich über die Klinge. »Euer Herr und Manarch, der Hohe Sanglor von Dagosturas, fürchtet Prinz Vindigor zu Recht. Der Prinz wird Eure Familie vernichten, die Kinder rauben und Weiber schänden!« Dann stach er mit seinem Dolch zu, durchstieß alles Fleisch, das Blut spritzte dem Beleibten ins Gesicht, der sich an jedem Hieb ergötzte, bis der leblose Körper des Schreibgelehrten zurückfiel und der schwarze Nebel ihn verschlang.
Der Bärtige wollte schreien, doch entkam kein Laut seiner Kehle, er wollte fliehen, doch war er noch gefangen in den Fängen des gleißenden Lichts.
»Tötet den Villar!«, befahl der Sanglor mit belangloser, leiser Stimme.
Es war, als zerreiße seine Brust, als die Pogloraen Kurus grob am Genick packten und hinunterdrückten, als sei der Villar ein lebloses Wesen. Dann holte ein Bergmann mit der Spitzhacke aus und durchstieß den Leib des treuen Gefährten, trieb das Metall so tief durch Knochen und Fleisch, bis der Schädel gespalten war.
3. Kapitel
Dichter Nebel zog durch den Wald. Marbana sah sich nach allen Seiten um, doch nirgends konnte sie etwas erkennen – außer schmale Fichten-, Tannen- und Kiefernstämme, die zwischen dem Dunst hervorlugten. Langsam kletterte sie von ihrer Nächtigungsstelle hinunter und klopfte sich die Rindenstücke und Nadeln von der Kleidung. Dann folgte sie weiter dem Weg durch den Wald. Es mochte wohl bereits Mittag sein, doch der Nebel hing noch tief zwischen den Bäumen und es hatte nicht den Anschein, dass er sich noch im Verlauf des Tages lichten würde.
Marbanas Magen knurrte, ihr Mund hatte schon viel zu lange kein Trinkwasser mehr gekostet. Der Proviant war ihr am Abend zuvor ausgegangen, der letzte Schluck aus dem Trinkschlauch war getrunken. Verzweifelt warf sie den Kopf in den Nacken und starrte zum grauen Himmel empor. Ob die Götter sie wohl für ihren mangelnden Glauben straften? Im Nebel waren keine Tiere auszumachen, die sie hätte jagen können. Den Pfad zu verlassen, um erste Früchte zu sammeln, wäre zu gefährlich gewesen. Selbst die Suche nach einem Bach war unmöglich. So blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterzugehen, vor sich hinstarrend, hoffend, bald diese trostlose Gegend zu verlassen.
Irgendwann lichtete sich der Nebel schlagartig. Die Bäume standen nun in einem größeren Abstand zueinander, während der Pfad einen Hügelkamm hinaufführte. Kaum hatte sie den nun lichten Nadelwald verlassen, konnte sie ihren Blick über die weite Landschaft schweifen lassen. Über ihr war der Himmel klar, die Nachmittagssonne stand dem Horizont nah.
Erschöpft erklomm sie den Sattel des Hügelkamms und blickte nun auf eine weite Alm hinab. In der Ferne konnte man eine kleine Herde Weidetiere ausmachen. Unweit des Pfades, der nun breiter und fester wurde, plätscherte ein kleiner Bach. Der Anblick zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Erschöpfung und Durst trieben sie über die magere Wiese auf den Bach zu. Dort ließ sie sich auf die Knie fallen und tauchte gleich ihre Hände unter. Sie schöpfte sich das eisige Wasser gierig in den Mund, gluckste vor Freude und rief ein Dankeswort gegen das ewige Blau des Himmels, hatte doch zumindest die Göttin Helemâs Erbarmen mit ihr gehabt und sie hierhergeführt. Sie wusch sich die Arme und das Gesicht, als plötzlich eine Hand ihre Haare von hinten packte und sie grob zurückzog. Ein schriller Schrei entkam ihrer Kehle, der sogleich erstickte, als ihr die kalte Klinge eines Dolches gegen den Hals gedrückt wurde, dass es schmerzte.
»Du … ein Kind … ein Weib … jagen … jagen!« Die Stimme gehörte einem Mann, doch es schien ihr, dass die Worte weder bedrohlich noch mit Überzeugung ausgesprochen waren. Es war eher Furcht, die die Stimme erzittern ließ, als würde ihr wirrer Angreifer selbst bedroht werden. »Nach all den Jahren … den Jahren … kommt … ein Weib … ein Kind … sie schicken dich?« Neben ihrem Gesicht tauchte der Kopf eines älteren Mannes auf, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht tief in Falten gelegt, das Haar fettig und verfilzt.
»Habe das Schwert geführt … Seelen getötet … war groß und stark … und sie schicken dich!« Der Fremde schrie sie laut an, drückte ihren Kopf vor und tauchte ihn gewaltsam unter Wasser. Dann zog er das Mädchen an den Haaren wieder heraus, um es augenblicklich wieder unterzutauchen.
»Kenas von Gardanal!«, rief eine kräftige, zweite Stimme aus unmittelbarer Nähe.
Plötzlich hielt der Angreifer inne, bevor er Marbana erneut ins kalte Wasser tauchen konnte. Die Klinge, die er mit seiner Rechten fest umschlossen hielt, senkte er, während er langsam den Griff in ihren Haaren lockerte.
»Kenas, du solltest den Feind von einem wandernden Mädchen unterscheiden können!«, sprach erneut die nun ruhig gewordene Stimme.
»Sie kam … waren zwei … den Weg ins Dorf«, stammelte der Angreifer und stieg aus dem Bach.
»Ach, du kennst bereits ihre Geschichte?«
»Sie kamen … mich … zu holen … wusste, sie werden folgen … habe dich in Lamarn gesucht … sind hierher zurück … lauerten und sieh! Sie kamen … mich … zu holen.«
Schritte näherten sich Marbana, die noch immer vorgebeugt im Bachbett saß, die Arme zitternd um die Brust gelegt, den Kopf gesenkt.
»Du stammst nicht aus den südlichen Quaranenreichen, sondern aus einer der großen Stadtstaaten im Osten, nicht wahr?« Gepflegte schwarze Lederstiefel stiegen neben ihr ins Wasser. Ein dunkler Mantel umhüllte den Körper des Mannes, der sie von oben herab musterte. »Steh auf!«
Sie rührte sich nicht, zu starr war sie vor Angst.
»Wir müssen … töten!«, zischte der närrische Angreifer.
»Hast du ihr ins Gesicht geblickt? Sie ist ein junges Ding! Wohl kaum eine Gefahr für einen erfahrenen Krieger wie dich!«
Bei diesen Worten stieg Wut in Marbana auf. Sie nahm all ihren Mut zusammen, zog blitzartig ihr Messer, sprang vor und umfasste das Bein des Fremden, um ihm sogleich die Klinge gegen seinen Schritt zu drücken. »Wagt es nicht, mich anzufassen!« Nun hob sie den Kopf und blickte den Fremden erstmals an. Helle Augen sahen zu ihr herab. Das dunkle Haar war am Hinterkopf zusammengebunden, die Lippen waren von einem gestutzten Bart umgeben und zogen sich zu einem Lächeln hin. Überrascht lockerte Marbana ihren Griff, zu sehr war sie über sein ebenmäßiges Gesicht verblüfft.
»Nun, du für deinen Teil scheinst jedoch keine Hemmungen zu haben, mich anzufassen.« Der Fremde war sichtlich amüsiert. Er umfasste mit einem überraschend sanften Griff ihr Handgelenk und zog sie auf die Beine. »Einem Krieger ein Messer gegen den Schritt zu drücken, wird als tiefste Beleidigung verstanden. Es gehört sich nicht für eine Dame, schon gar nicht für eine so junge – und hübsche obendrein.«
Ohne dass Marbana es verhindern hätte können, nahm der Fremde ihr das Messer ab und stieg aus dem Bach. Er hob die Decke auf, die sie zuvor fallen gelassen hatte, und reichte sie ihr.
»Wer seid Ihr?«, brachte Marbana leise hervor. Sie ließ den Blick von dem Fremden, der seiner Statur und dem Schwert an seinem Gürtel nach zweifellos ein ausgebildeter Krieger war, zu dem zweiten Mann, dem Angreifer, wandern. Jener stand in buckliger Haltung da, er trug einen abgetragenen Mantel, der Kopf wippte, sein Gesicht war von Zorn und Furcht angespannt. Dies war also der Abtrünnige, den ihr Meister gesucht hatte! Der Mann, der einst ein Krieger, ein Sohn der Göttin Helemâs war, der sich seinem Schicksal entzogen hatte, um nicht länger jenen zu dienen, die die Wehrlosen schützten.
Sie sollte überrascht sein, sich freuen, ein Gefühl der Erleichterung verspüren. Doch sie fühlte nur Fassungslosigkeit. Wie konnte nur ein solch Verrückter, ein Narr, diese Bedeutung haben, dass ihr Meister den Weg in dieses Bergdorf zu dieser frühen Jahreszeit gewagt hatte, sein Leben für diese Kreatur gelassen hatte, diesen Versager, diesen gebrochenen Mann?
»Ich bin Lophanus von Dimiral, dies ist Kenas von Gardanal. Bei uns heißt er schlicht ›der Narr‹«, antwortete der Fremde mit seiner angenehm ruhigen Stimme. »Nun sprich, wer bist du?«
»Ich heiße Marbana. Mein Lehrmeister und ich kommen von weit her, um den Narren … um Kenas von Gardanal aufzusuchen. Er wollte …«
»Schweig!«, unterbrach Lophanus sie mit strengem Ton. Besorgt sah er sich nach allen Seiten um. »Wie ist der Name deines Lehrmeisters und warum bist du allein gekommen?«
»Das Unwetter hat uns überrascht, er hatte den Regen nicht …« Ihre Stimme versagte.
»Wie war sein Name?«, zischte der Narr unruhig, die rechte Hand hielt den Dolch fest umschlossen, während er wirr umherblickte.
»Tandûn von Amosthal«, antwortete sie zögernd.
»Wir sollten gehen!«, beschloss Lophanus bestimmend.
»Lamarn … ein weiter Weg … für diesen Tag … hoch hinauf.«
»Wir gehen nicht nach Lamarn.« Der Krieger wandte sich um und eilte mit schnellen Schritten zum Weg zurück.
Der Narr starrte das Mädchen an, ohne sich von der Stelle zu rühren. Seine Hände umschlossen noch immer seinen Dolch, mit dem er sie zuvor bedroht hatte. Schließlich wandte sich Marbana zögernd von ihm ab und folgte Lophanus, ohne zu wissen, ob sie den beiden Männern vertrauen konnte.
»Warum wart Ihr hier? Habt Ihr … mich erwartet?«, fragte Marbana keuchend, nachdem sie den kräftigen Krieger eingeholt hatte.
»Kenas von Gardanal hatte … Freunde … in Lamarn getroffen. Ich hatte dort den Tempel aufgesucht, um den Priester zu sprechen. Als Kenas erzählte, dass der Fluch der Götter sein Bergdorf trifft, war ich mir nicht sicher, ob er … dem Wahn verfallen war. Doch dann sprach er von zwei Fremden, die auf das Dorf zugingen. Wärt ihr Freunde gewesen, Reisende, Händler, so hättet ihr den Weg, der aus Dumgust oder Lamarn zu dem Bergdorf führt, gewählt. Daher war ich misstrauisch.
Wir sind sogleich aufgebrochen und haben am Waldrand nahe dem Weg seit gestern gewartet. Ein idealer Ort des Hinterhalts. Die meisten Fremden werden nach zehrendem Marsch durch die Ödnis des kargen Waldes beim Anblick dieser herrlichen Weide leichtsinnig. Sie stürmen vor, zum Bach, ihre Kehlen lechzen so sehr nach Wasser, dass jedes Gefühl der Vorsicht ausgeblendet wird.
Als wir dich sahen, war ich verunsichert. Kenas sprach von zwei Fremden. Ich wollte warten, doch da war er bereits vorgestürmt.«
Das Klingeln von kleinen Glocken erweckte ihre Aufmerksamkeit. Suchend hob Marbana ihren Kopf. Lophanus, der ihren Blick bemerkt hatte, deutete nach Süden, wo einige Kreaturen Gras fraßen. Um ihre Hälse waren bronzene Glöckchen gebunden.
»Was sind das für Tiere?«, fragte sie neugierig. Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Von Weitem hatte sie geglaubt, es wären Schafe, doch nun erkannte sie ihre deutlich längeren Beine. Ihr Rücken, welcher von dichter Wolle umgeben war, hatte eine schlanke Statur, die Schultern waren kräftig. Wuchtige Hörner ragten zu beiden Seiten aus ihrem Haupt. Der Kopf war zudem recht breit und die Augen stachen wie bei Fröschen hervor, während der Schwanz dem Schweif eines Pferdes glich.
»Dies sind Schareen, Bergweidetiere. Lass dich jedoch nicht von ihrem friedlichen Anblick täuschen, sie können ziemlich gefährlich werden, wenn du ihnen zu nahe kommst!«
»Und warum werden sie dann von Menschen gehalten?«, fragte sie misstrauisch mit Blick auf die Glocken.
»Wenn man den richtigen Umgang mit ihnen pflegt, sind sie ganz zahm, sie haben ein gutes Gedächtnis, erinnern sich über Jahre hinweg an das Gesicht eines bestimmten Menschen – oder einer anderen Gestalt. Fremden gegenüber sind sie hingegen eher misstrauisch. Nicht selten greifen sie Reisende an, zertrampeln sie und zerfleischen ihre Leiber.«
»Dann bin ich beruhigt, dass wir keine Fremden sind!«, antwortete sie gereizt und fühlte sich sichtlich unwohl.
Ihr Weg war nicht weit. Sie begannen ihre Wanderung nahe einer Baumgruppe, wobei sie stets darauf achteten, genügend Abstand zu den Tieren zu halten. Die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden, der Himmel hatte sich dunkel gefärbt, als sie schließlich zu einer kleinen Hütte hinter dem Wäldchen gelangten. Die Tür der Hütte wurde aufgestoßen und ein Mann, mit einem langen Hirtenstab bewaffnet, trat heraus.
»Simon, mein Freund!«, rief Lophanus von Dimiral und hob abwehrend die Arme. »Ich habe gehofft, dass du zugegen bist und wir deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen können.«
Sie kamen näher heran und Marbana erkannte, dass der Hirte ungewöhnlich jung war, vielleicht nicht älter als sie selbst.
»Freunde sind mir stets willkommen! Tretet ein! Doch ich kann Euch nur ein spärliches Mahl aus Wasser, Brot und Käse anbieten.«
»Das ist mehr, als wir zu hoffen gewagt haben.« Lophanus klopfte dem Jungen auf die Schulter und verschwand in der Hütte.
Marbana zögerte, doch der Narr hantierte wild mit dem Dolch herum und bedeutete ihr, dem Schwertkrieger zu folgen. Sie speisten schweigend, während Simon ihnen kaltes Wasser nachschenkte und einen weiteren Laib harten Brotes herumreichte. Marbana konnte sich währenddessen am Kaminfeuer wärmen und ihre Kleidung trocknen. »Sagt, warum seid Ihr gekommen, wo Ihr doch auch ein Haus in Lamarn besitzt? Und Ihr habt mir gar nicht Eure Begleiter vorgestellt!«
»Städte sollten wir wohl meiden«, antwortete Lophanus in geheimnisvollem Flüsterton. »Dies ist Kenas von Gardanal. Er lebte in dem Bergdorf östlich von hier gelegen.«
»Der Narr, ich weiß, Ihr habt von ihm erzählt.«
Sogleich warf der Narr einen wütenden Blick dem Hirtenjungen zu, dann seinem Freund, schnaubte kurz auf und verfiel wieder in nervöses Vor- und Zurückwippen.
»Das Mädchen heißt Marbana, es kommt aus den Städten jenseits der weiten Einöden.«
»Warum kommt Ihr von einem so weit entfernten Ort?«, fragte der Gastgeber das Mädchen, und erstmals sahen sich die beiden direkt an. Er hatte zwar eine leicht gekrümmte Haltung, hängende Schultern und müde Augen, doch schien ihr, als würde er etwas hinter der Maske eines schüchternen Hirtenjungen verbergen, als stecke ein anderer Mensch in diesem zierlichen Körper.
»Es war der Wille meines Lehrmeisters. Gemeinsam waren wir von Bermos aus aufgebrochen, um jemanden zu suchen. Mein Lehrmeister starb auf der Reise, noch bevor ich erfuhr, wer dieser Jemand wohl sei.« Sie warf dem Narren einen verächtlichen Blick zu, verstand nicht, warum ihr geliebter Lehrmeister für einen verkommenen Verrückten das Leben lassen musste.
»Mehr hat dir dein Lehrmeister nicht verraten?«, fragte Lophanus mit spöttischem Unterton.
»Er sprach von Kriegern, die einer Bruderschaft gedient hatten. Einige von ihnen hatten einen Schwur gebrochen. Sie hätten dem Volk dienen müssen, stattdessen waren sie in die Einsamkeit geflohen.«
Es kehrte Stille ein.
Der Schwertkrieger fuhr sich nachdenklich mit der Rechten über den gestutzten Bart. »Dein Lehrmeister, du sagtest, sein Name sei Tandûn von Amosthal?« Marbana nickte.
»So frage ich mich, ob er dir nicht noch etwas mitgegeben hat. Ein geheimes Wort, einen besonderen Gegenstand, eine Karte vielleicht?«
Zögernd ließ das Mädchen seinen Blick von Lophanus zum Narren und zum Hirtenjungen und wieder zurück wandern. Langsam griff sie unter ihr Hemd und holte das Bündel mit den Schriften hervor, welches sie öffnete und auf dem Tisch ausbreitete. Sie zögerte kurz, warf einen letzten misstrauischen Blick zu den fremden Männern, dann nahm sie den Brief, welchen Tandûn ihr geschrieben hatte. »Er gab mir dies, ich sollte es dem Krieger geben, der den Schwur gebrochen hat.« Dann reichte sie Lophanus das Schriftstück und lehnte sich tief durchatmend zurück.
Der Krieger überflog den Brief, anschließend nahm er das Siegel genau in Augenschein, ehe er das Schriftstück dem Narren übergab, der inzwischen das Wippen eingestellt hatte und nur noch leise vor sich hin flüsterte.
»Was hat das zu bedeuten? Warum bin ich hier?«, fragte Marbana verzweifelt und legte ihre Stirn in Falten.
»Wie viel weißt du über das Leben des Weisen Tandûn von Amosthal?«
Das Mädchen war sichtlich über die Frage verwundert, überdachte seine Worte, ehe es antwortete. »Mein Lehrmeister war ein Ratgeber. Er zog umher, oft von einem Sanglorenhof zum nächsten. Auch beim König kannte man seinen Namen – so erzählte er. Doch mit dem Alter zog er die Ausbildung seiner Schüler vor und in jüngerer Zeit waren wir kaum noch bei den Herrschergeschlechtern zu Gast.«
»Hat er nie verraten, warum ihr die Höfe der hohen Adelsfamilien gemieden habt?«
»Er war darin bemüht, mich auszubilden …« Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, zweifelte sie an ihren Worten. Es gehörte zu den bedeutenden Aufgaben eines Lehrmeisters, hohen Amtsträgern mit Rat zur Seite zu stehen, nicht selten waren die Schüler zugegen, um zu lernen. Tandûn von Amosthal hatte Marbana hingegen nur wenige Male zu Niederen Sangloren mitgenommen. Oh, wie naiv sie doch war!
»Hast du dich nie gefragt, warum ein erfahrener und gebildeter Lehrmeister, wie Tandûn von Amosthal es war, kaum noch zu einem Hof geladen worden war? Ihr wart Reisende, seid von Stadt zu Stadt gezogen. Sein Wissen wäre von großer Bedeutung gewesen!« Lophanus von Dimiral lächelte matt und schüttelte den Kopf. »Du musst ein junges Mädchen gewesen sein, als dein Lehrmeister den Groll des Königshauses und der Wächter des Tempels des Timerus auf sich gezogen hat.«
»Wie konnte dem sein?«
»Einst waren die Söhne der Helemâs eine stolze Bruderschaft. In ihren Anfängen bestand sie nur aus Kriegern, die sich ihren Idealen verpflichteten. Tatsächlich sahen sie sich als eine Leibwache der Schutzlosen. Sie kämpften in den Gassen, einzeln, ohne Führung, ohne Ordnung. Sie waren gefürchtet und beliebt gleichermaßen, sodass sich auch andere Männer der Bruderschaft anschließen wollten. Sie erkannten, dass den Menschen durch geplante Einsätze und eine straffe Führung der Kämpfer mehr geholfen werden konnte. Auch übernahmen einige Gelehrte im Namen der Helemâs bei Prozessen die Verteidigungsrede von angeklagten Bürgern.
Nach dem Bruch mit den Sangloren, der Königsfamilie und den Wächtern des Tempels des Timerus kam es zum Zerwürfnis auch innerhalb der Bruderschaft. Manche wurden zu treuen Dienern der Herrscherfamilien, andere zu radikalen Einzelkämpfern, oder sie zogen sich als Verfluchte in Einöden zurück.«
Lophanus von Dimiral legte eine Pause ein und blickte zum Narren, der den Kopf schüttelte und in Gedanken versunken seine Lippen bewegte, als spreche er ein Gebet.
»Tandûn von Amosthal war zwar nie einer der Führer – oder ein Oberer, wie man sie nennt – gewesen, doch er war ein Ratgeber, ein Stratege, ein Verteidiger. Er diente der Bruderschaft als Vermittler und konnte bei hohen Amtsträgern und Sangloren vorsprechen, um sich für die Armen oder verfolgten Brüder einzusetzen. Man erzählt sich, eines Tages hätte er jedoch zu viel gewagt. Er sprach eine Verteidigungsrede für einen Verfluchten, der sowohl gegen die Machenschaften seiner Herrscherfamilie vorgegangen war als auch sich den Anordnungen der Bruderschaft widersetzt hatte. Dein Lehrmeister war auch ein Phindorch, ein Ratgeber der Adelsfamilie. Er hätte den Streit zwischen der Bruderschaft und dem Sanglorenhaus beenden können, hätte er den Verfluchten schuldig gesprochen, gegen die Oberen gehandelt zu haben. Tandûn sprach ihn jedoch frei von jeder Schuld. Denn obgleich der Verfluchte ungehorsam war und nicht länger der Gemeinschaft angehört hätte, wäre er trotzdem seinen Idealen – den Idealen der Söhne der Helemâs – treu geblieben. Die Treue zu den Idealen steht über den Befehlen eines Oberen. Tandûn von Amosthal wusste, man würde ihn selbst als Verräter anklagen, doch er sah keine Schuld im Handeln des Verfluchten und blieb seiner Überzeugung treu.«
Lophanus atmete tief durch, als empfände er Schmerz bei dem Gedanken an den Vorfall.
»Was geschah mit dem Verfluchten?«, fragte Marbana mit leiser Stimme, ahnend, wie das Urteil lautete.
»Er wurde hingerichtet. Da er bereits als Verfluchter von der Bruderschaft ausgestoßen worden war, galt ihm kein Schutz mehr vor dem Urteilsspruch. Die Verteidigungsrede wurde von den Wächtern des Tempels des Timerus als ungültig erklärt. Noch in derselben Nacht verschwand Tandûn von Amosthal. Zwar drohte ihm lediglich eine Verbannung aus der Bruderschaft, welche von den Oberen ausgesprochen werden musste, doch die Tempelwächter hegten einen Groll gegen ihn. Er hatte es gewagt, sich ihnen trotz ihrer Androhungen zu widersetzen, und diese Rede gehalten. Fortan mied er die Adelshäuser, obgleich sein Name trotz allem einen hohen Stellenwert bei den Sangloren genoss, deren Herrschaftsreiche fern der Königsstätte mit dem Tempel liegen. In den letzten Jahren machte er es sich zu seiner neuen Aufgabe, all die Verfluchten zu suchen. Er wollte sie einen – genau wie ich.«
Lophanus lächelte matt. »Tandûn sah die Hoffnung in ihnen, denn sie waren die Einzigen, die sich treu geblieben waren. Weder wurden sie von Oberen geführt, noch dienten sie den Sangloren. Er nannte sie auch ›die Unentschlossenen‹, die man finden und an ihren Schwur – dem Schutz der Wehrlosen zu dienen – erinnern musste, auf dass der Fluch von ihnen genommen werde.«
»Auch der Narr gehört dazu?«
Marbana blickte verächtlich zu dem einst stolzen Krieger, der nun wippend, betend in der Ecke saß, als sei er dem Wahn verfallen.
»Ganz besonders der Narr! Es gibt nur einen Grund, warum dein Lehrmeister zu dieser noch kalten, gefährlichen Jahreszeit in die Berge gekommen ist: Er wollte diesen einen Verfluchten aufsuchen!«
»Nur um sie zu vereinen? Um diesen … Narren … an den Schwur zu erinnern?«
Lophanus lachte amüsiert auf und schüttelte den Kopf. »Oh nein, die Rolle des einstigen Schwertmeisters Kenas von Gardanal ist in dieser Geschichte weit größer, als du dir vorstellen kannst!«
»Was wollte mein Meister von ihm?«, fragte das Mädchen ungeduldig und blickte erneut zu dem Narren, der ungeachtet des Gesprächs seine Gebete sprach.
»Es geht vielmehr um die Verlobung von Timus von Hêmen mit Ilorene von Milang.«
Beim Klang der Namen horchten der Narr und der Hirtenjunge plötzlich auf.
»Ja, Timus wird Ilorene ehelichen – und ich fürchte, die Zeit drängt.«
Marbana runzelte die Stirn, sowohl der Narr als auch Simon wirkten nachdenklich und beunruhigt zugleich. Sie verstand nichts von diesen Worten.
»Eine Hochzeit?« Gereizt atmete Marbana tief durch. »Warum ist diese Eheschließung von solcher Bedeutung? Wer ist dieser Timus von Hêmen?«
»Die Frage ist nicht, wer Timus von Hêmen ist, sondern Ilorene von Milang.« Lophanus schüttelte mürrisch den Kopf. »Das Haus Milang hat nur geringe politische Macht, zu weit entfernt liegt es von der Königsstätte, betreibt Handel mit den fernen Städten im Süden, jenseits des Salzigen Sees. Doch der Handel hat der Adelsfamilie zu enormem Reichtum verholfen. Eine Eheschließung mit Ilorene ermöglicht – sollte Sanglor Bargodon versterben – der Familie des Ehemannes den Zugang zu den größten Schätzen des Königreichs.« Lophanus seufzte und atmete tief durch. »Die Familie der Hêmen hingegen ist bekannt für ihre tapferen Krieger. Sie hat nur geringen Einfluss auf die Politik und man sagt, es gäbe kaum noch Geld, um den Sold der Diener, Knechte und Soldaten zu bezahlen. Das Erbe Milangs würde die Quaranenreiche hier im Süden und Westen festigen und das Machtverhältnis zu den Adelsfamilien in den Stadtstaaten und zur Königsstätte ausgleichen. Es würde den Frieden sichern, denn niemand der Einflussreichsten würde mehr so viel Macht erlangen, dass die Königsherrschaft neu erkämpft werden könne. Eine eheliche Vereinigung zwischen dem reichen Quaranenreich Milang und einer der Adelsfamilien in der Königsstätte würde das ganze Reich jedoch in den Abgrund stürzen! Es gäbe Kämpfe, Fehden – womöglich auch einen Krieg. Zugleich ist das Königshaus schwach, der König ist krank, wie man berichtet. Stirbt der König, könnten die mächtigen Hohen Sangloren Anspruch auf ein neues Königsgeschlecht erheben. Sollte zu dieser Zeit auch das Haus Milang an einen neuen Erben fallen, würde dies den Begünstigten außerordenlich stärken, wenn nicht gar zu einem neuen Thronfolger bestimmen.«
»Aber wenn, wie Ihr sagtet, das Haus Milang so reich ist, warum hat der Sanglor von Hêmen nicht längst seinen Sohn entsandt?«
»Sanglor Genôron von Hêmen hält strikt an Traditionen fest. Zudem ist er nicht einfältig. Er wartet auf eine Einladung des Hauses Milang, ehe er seinen Sohn nach Süden entsendet.«
»Was wollte mein Meister von dem Narren?«, wiederholte Marbana ihre Frage noch einmal und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war es leid, stets nur Anweisungen zu folgen, nicht erfahren zu dürfen, welche Rolle sie in diesem Spiel der Strategen einnahm.
»Kenas von Gardanal hat einst im Quaranenreich Hêmen gelebt. Obgleich er ein Verfluchter ist, so hat er dennoch Einfluss auf den Sanglor.«
»Einfluss? Welchen Einfluss könnte ein Verfluchter – ein Narr – auf Genôron von Hêmen haben?« Es war Simon, der fragte. Er saß mit hängenden Schultern und schlaffer Haltung auf seinem Schemel, sein Blick war gesenkt, verunsichert sah er zu Lophanus auf, als fürchte er dessen Worte.
»Ich denke, es ist an der Zeit, dies herauszufinden!« Der Krieger sah den Hirtenjungen auffordernd an.
»Ich kann nicht fort! Hier, die Schareen, sie brauchen mich. Vater Pastan übertrug mir die Aufgabe, hierzubleiben. Ich kann nicht gehen – nicht ohne seine Einwilligung, nicht ohne seinen Segen!« Simon schüttelte wild den Kopf, in seinen Augen glänzte ein Ausdruck von Verzweiflung und Aufregung zugleich.
»Vater Pastan gab dir bereits seinen Segen.«
»Aber die Gräser in diesen Höhen sind von einzigartiger Natur! Dank der klaren Luft, der wärmenden Sonne und der beständigen Kälte und dem regelmäßigen leichten Regen kann das Grün der Weide gedeihen, verschiedenste Kräuter, die die kalte Zeit unter dem Schnee, der längst geschmolzen ist, überdauert hatten, führen zu einem einzigartigen Geschmack der Milch der Schareen …« Simon hielt inne, als zweifle er erstmals an seinen eigenen Worten, an den Worten der Priester von Lamarn, die ihn als Hirten auf diesen Berghang geschickt hatten.
»Es war nie deine Bestimmung, diese Weidetiere zu hüten. Du bist hier, weil wir dich hier brauchen!«
»Aber …«, Simon suchte stammelnd nach Worten. »Ich bin ein Diener der Priester, ein Tempelschüler, ein Hüter, ein Einsiedler in den Bergen. Meine Familie schickte mich zu den geweihten Männern, um für ihr Seelenheil zu beten. Sie würden mit Schande auf mich blicken, wenn …«
»Sorge dich nicht um das Seelenheil deiner Familie. Das tun bereits andere«, unterbrach ihn der Krieger.
Marbana sah von Lophanus zu Kenas von Gardanal, der wie gebannt auf Simon blickte. Das Mädchen musterte nun ebenfalls den Hirtenjungen. Sie kannte das häufige Vorgehen, jüngere Nachkommen als Soldaten an Herrscherhäuser oder als Schüler an Tempelschulen zu verkaufen. Zumeist sprach man davon, jemand müsse für die Seelen beten, doch nur selten war dies der wahre Grund. Raue Winter, knappe Ernten zwangen die Familien, sich von den jüngsten Söhnen zu trennen. Manchmal tat man dies auch, um unliebsame, schwache und unfähige oder dem Wahnsinn verfallene Familienmitglieder zu verbannen. Simon war wohl einer dieser Fortgeschickten, die nie die Entscheidung ihrer Eltern hinterfragten.
»Deshalb braucht Ihr den Narren! Weil er Einfluss auf den Sanglor hat? Weil er die Hochzeit … vorantreiben kann?«, überlegte Marbana und sah zu Kenas von Gardanal, der reglos in die Flamme der Kerze starrte, welche sie entzündet und auf den Tisch gestellt hatten.
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