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15. Dezember 2017

Beim Frühstück saßen wir alle zusammen in der Küche: Alchemist Teaz, Rainer, Lucy und ich. Alchemist Teaz kaute knirschend auf Froot Loops rum und schmunzelte vor sich hin. Überall war kalter Rauch und mein Bewusstseinszustand war dämmrig. Lucy und ich aßen Honigbrote mit Mandelmus. Rainer saugte an einer Zigarette. Dann richtete er sein Phone auf mich und sagte: »Was willst du von Al wissen?«

»Ich weiß nicht, was ich von ihm wissen will«, sagte ich.

»Frag mich nach meiner Angst«, sagte Alchemist Teaz.

»Was ist mit deiner Angst?«, fragte ich.

»Warte, ich filme noch nicht«, sagte Rainer.

»Ich dachte, dass Wrestling ein Weg wäre, um die Ohnmacht zu überwinden«, sagte Alchemist Teaz, »weil es um Konfrontation geht. Aber die Konfrontation findet nicht statt, alles läuft nach den immer gleichen Mustern ab. Wenn du wirklich was klären willst, halten sie dich zurück. Sie sagen dir, dass du was klären kannst, aber das stimmt nicht. Ich habe Angst davor, dass ich nur ein Template ausfülle. Ich fühle mich vorgefertigt, fast vollständig durchdacht. Ich habe nur minimale Möglichkeiten, eigenmächtig zu handeln. Und alles, was ich mache, findet nachträglich statt, verstehst du? Ich hoffe, dass die Aufstände die Konfrontation herbeiführen können. Zwischen allen, zwischen uns allen, befindet sich Luftpolsterfolie, spürst du das? Und wir müssen sie überwinden. Deshalb ficken wir so hart miteinander, so oft wie möglich.« Während er das sagte, legte er seinen muskulösen Arm um Rainers Schulter. Rainer zitterte leicht, filmte aber weiter. Dann fuhr Alchemist Teaz fort: »Ich glaube eigentlich nicht an die Eigenständigkeit unserer Gegenwart. Es findet ein Umbruch statt, das ist offensichtlich. Wir alle existieren irgendwo in einer Zwischenablage. Wir sind kopiert worden. Die Entscheidung, ob wir eingefügt werden, wurde noch nicht getroffen. Und ich habe keine Ahnung, wer überhaupt so mächtig ist, dass er diese Entscheidung treffen kann. Cleve Backster glaubte, dass alles verbunden ist. Alles, was Zellen hat, ist miteinander verbunden. Ich habe Angst davor, dass es stimmt, aber dass gleichzeitig Luftpolsterfolie um alle Zellen gewickelt ist. Es ist wie ein Protokoll, das ständig in meinem Hirn hämmert: Anbindungsversuche erfolglos beendet. Wenn Triple H eines Tages in Elektroluchs auftaucht, dann werde ich ihn vergewaltigen. Das ist mein Beitrag. Wenn ich das mache, wird die Luftpolsterfolie vielleicht für einen kurzen Augenblick verschwinden. Und alles wird verbunden sein.« Nach einer kurzen Pause sagte er zu Rainer: »Ich glaube, wir haben es, du kannst stoppen.«

Ich ging zum Spülbecken und trank vier Gläser voll Leitungswasser hintereinanderweg. Nur der Kühlschrank brummte. Lucy nahm ihr Phone und tippte zögerlich darauf rum. Ich ging aufs Klo. Danach meinten Alchemist Teaz und Rainer, dass sie gemeinsam baden würden und dass wir jederzeit dazukommen könnten. Sie würden das Badezimmer nicht absperren. Sie würden Pinienöl verwenden, das sei gut für die Haut. Außerdem seien genügend Kondome da, falls wir Vorbehalte hätten. Ich überlegte, ob ich abreisen sollte. Ich stellte meine Reisetasche zu Lucy ins Zimmer. Die Katze strich um meine Beine. Ich hob sie hoch.

Später bestellte ich mir ein Taxi und verließ zum ersten Mal seit meiner Ankunft das Haus. Die Katze nahm ich mit. Der Taxifahrer meinte, er hätte vorhin Schusswechsel gehört.

»Kann sein«, sagte ich.

»Ja, kann sein«, sagte er.

»Ich möchte einfach nur zum Strand«, sagte ich.

17. Dezember 2017

Ich habe Lucys Katze geklaut. Den Flug hat sie gut überstanden. Sie lebt jetzt bei mir in Nürnberg.

28. Dezember 2017

Keine Ahnung, ob es stimmt, aber Alchemist Teaz soll seit zwei Tagen tot sein. Es heißt, er habe sich umgebracht. Vorhin tauchte ein kurzes Video auf seinem Instagram-Account auf. Er sitzt am Küchentisch in Rainers Wohnung und sagt: »Wir alle leben in der Zwischenablage, du, ich, einfach alle. Und es kann dauern, bis wir reaktiviert werden. Was habe ich gerade gesagt? Reaktiviert? Wirklich? Fuck, lass das noch mal filmen.« Daraufhin folgt ein weißer Schriftzug auf schwarzem Hintergrund: Documentary coming soon.

Ich in REWE

Was mich bestürzt und verwirrt hat, war, als die REWE-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter plötzlich sehr auffällige schwarze Plastikheadsets trugen und ganz beschämt hinter den Kassen vorlugten. Das war im Sommer 2018, in der Nürnberger Brückenstraße. Ich fühlte mich die ersten Male richtig unwohl beim Einkaufen, genauso wie meine damalige Freundin, weil uns war, als würden wir ungewollt ein Sozialexperiment unterstützen, das erforschen sollte, ob wir alle uns immer wieder neu an Zustände gewöhnen können, die eigentlich nicht hinnehmbar sind. Dieses Unwohlsein schloss sich mit der Zeit in mir ein, oder flaute ab, aber es existiert nach wie vor, und eigentlich wird mir meine Abscheu vor dem Spätkapitalismus nirgends deutlicher gewahr als im Supermarkt. Ich mochte es früher immer, über Lautsprecher mithören zu können, wo gerade eine Notwendigkeit entsteht: eine weitere Kasse öffnen, Pfandflaschenbehälter leeren, Obst nachfüllen etc. Das war cool und swaggy, weil die permanenten Verschiebungen, die durch Verbrauch, Nachschub, Frischeversprechen und Künstlichkeit entstehen, nachvollziehbar wurden, als Teil der Welt, der sie ja sind und den sie einnehmen sollten. Mittlerweile gibt es REWE-Radio, quasi einen Propagandasender, der mir jede Experience vereitelt, weil ich immerzu das Gefühl habe, durch einen zähflüssigen Traum von J. G. Ballard zu waten. Manchmal treffe ich in den Gängen auf Mitarbeiter, die gerade Koala Schoko oder Büffelmozzarella oder eingelegte Artischocken nachfüllen, und sie kommen mir vor wie Cyborgs. Ich empfinde Mitleid mit uns allen, oder Entsetzen. Und dann beginnt der Teil des Trips, in dem ich immer wieder das Creamspeak-Meme Ich in REWE reenacte; es wurde am 13. November 2018 auf Twitter gepostet und ist für mich ein großes, entlarvendes Kunstwerk: Es zeigt, übersteuert und drastisch, welche Zumutung es bedeutet, bei REWE einkaufen zu gehen. Genutzt wird das Cover einer Ausgabe des Man’s-Life-Magazin von 1956, gemalt von Wil Hulsey; eine Horde brutaler Marder umzingelt einen schreienden, nackten, blutenden jungen Mann, der bis zur Hüfte im Wasser steht. Verzweifelt und schmerzerfüllt versucht er sich zu wehren, was vollkommen aussichtslos ist. In diesem Sinne ist REWE auch eine Aporie; die Angebote des Supermarkts dringen auf mich ein, und ich lasse mich fast freiwillig foltern, als würde sich dadurch auf irgendeinem Layer Heldenhaftigkeit ausdrücken lassen: »Haben sie Ein Payback Karte«, »Nimm Sticker bitte«, »Kein Plastiktüte du Hund«, »Kauf doch Noch ein Wurst evtl«, »5kg Putenbrust 3€«, »Kein Kostenlose Probierkäse mehr da«. REWE ist eine Anormalität, die offenbar nicht wahrgenommen wird und die sich um uns herum materialisiert, auf eine Weise, die unanzweifelbar zu sein scheint; wie Baudrillard schreibt: »Die positive Kristallisation, diese Aufhebung des Zweifels bezüglich der realen, zwangsläufig realen Welt bleibt völlig rätselhaft. Das wirft die ganze Frage nach der Intelligenz des Bösen auf.« Das Meme macht diese Anormalität in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit begreifbar. Manchmal löst nichts schneller eine bestimmte, umfassende, existenzielle Angst oder Überforderung oder Trostlosigkeit in mir aus, als wenn ich durch die Gänge des REWE gehe. In dem Meme von Creamspeak erahne ich zumindest eine Empfindsamkeit für die Gewalt, die im Spätkapitalismus steckt. Und es gibt natürlich auch dieses glückliche Gefühl, das die Farbe von Softdrinks hat – was allerdings das Stocken meines Atems nur verschlimmert, wenn ich währenddessen die Leere und Aufdringlichkeit und Penetranz erahne, die hier zusammenfinden und innerhalb derer ich mir immer wieder von Neuem klarmachen muss, dass ich an all dem nicht unbeteiligt bin. Ich bin schon wieder nackt ins Wasser gestiegen und kam zurück mit dem mittlerweile fünften Monopoly-Kartenspiel (kostenlos ab 30€-Einkaufswert), um sagen zu können: »WEASELS RIPPED MY FLESH«. Aber weil in diesen Momenten alles den Geschmack von rohem Fleisch hat, bin ich definitiv auch die Weasels.

Minztee

Neulich explodierte am Nürnberger Airport eine Boeing 737, während ich nur ein paar Kilometer entfernt im Marienbergpark lag; halbschlafend in der Sonne, um in meinem Körper die Vitamin-D-Produktion anzuregen. Aber bevor ich erzähle, was dann passierte, will ich noch festhalten, dass an diesem Tag niemand starb. Das Flugzeug sollte damals in Kürze gewartet werden, um zurück nach Ibiza zu fliegen, woher es gekommen war, aber zum Zeitpunkt der Explosion befand sich niemand im Zerstörungsradius. Ich selbst, der ich mich auf einer engwachsenden, warmen Wiese befand, hatte in diesem Moment meine Augen geschlossen. Ich schreckte kurz zusammen, aber weniger, als zu erwarten gewesen wäre, weil das Geräusch, das von der Explosion verursacht wurde, eher dumpf klang und sich danach schubweise ausbreitete, konzentrisch. Erst später erreichten mich Detonationswellen, fein geschichtet hinter- oder übereinander. Ich sah eine pulsierende Rauchwolke in den blauen Himmel quellen, dazu die Erschütterungen, und irgendwas daran bestürzte mich so sehr, dass ich in einen inneren Fall geriet, wodurch sich bald ein mikrogravitätischer Zustand einstellte.

Um mich herum hörten auch andere Menschen mit dem auf, was sie gerade taten, alle ließen von sich selbst ab und starrten auf die Rauchwolke; sie standen auf den Kieswegen, die überall durch den Park führten, ihre Fahrräder neben sich, die Hunde waren eingeschüchtert, die Kinder verängstigt. Sofort geriet alles in mir aus dem Gleichgewicht, weil sich mein Organismus nicht anpassen konnte an die Erwartungshaltung des Weltalls. Und während im Äußeren nur ein paar wenige Sekunden vergingen, in denen ich bewegungslos auf meinem Rücken lag, den Kopf leicht angehoben, dehnte sich in mir die Zeit aus, ich spürte den zunehmenden Kalziumverlust in den Knochen, das Abnehmen meiner roten Blutkörperchen, die dröhnende Desorientierung und die schwarzlöchrigen Sinneskonflikte in meinem Gleichgewichtssystem. Ich glaube, was sonst immerzu auf mich einwirkte, verringerte sich plötzlich fast um den Faktor von einer Million, und diese neue, vorübergehende Unbeschwertheit intensivierte, was ich davor hatte niederdrücken können. Alles entglitt mir, der Schwund war mental, und mein Leben offenbarte sich mir in der Abwesenheit meines Lebens. Dass ich beispielsweise ein Hohlkreuz hatte, war in der Mikrogravität nicht entscheidend, und meine Zahnfleischprobleme waren nur der Ausdruck eines größeren Problems, nämlich meiner Unfähigkeit, überhaupt in diesem Ungleichgewicht funktionieren zu können. Ich trieb gewissermaßen, vielleicht verschwand ich sogar allmählich, dabei war es immer meine Sehnsucht gewesen, mich zunehmend zu materialisieren. Aber mir war nicht klar, wer ich werden wollte, also flirrte ich, und jetzt konnte ich es wahrnehmen, ganz kirre, wenn ich meine Hände betrachtete oder überhaupt an mir runterschaute, auf den, der ich geworden war, schon jetzt ratlos, weil ich nicht mehr wusste, welche Verirrungen dadurch entstanden sind, welche Unumkehrbarkeit es bedeutete, aus den eigenen Bedingungen heraustreten zu wollen oder sie sogar hinter sich zu lassen. Und wie wichtig es gewesen wäre, wenn ich mindestens hätte telepathieren können, weil sich diese Mühsal, so vieles gleichzeitig zu denken, dann wenigstens durch mich selbst vermittelt hätte. Aber ich spürte auch, dass ich äußerlich so wirkte wie Harz, das aus einem Baumstamm fließt. Einer Frau hatte ich mich verpflichtet gefühlt, in meinem überbordenden Schuldbewusstsein, ich konnte es dann aber nicht aushalten, diese Verlorenheit, die entstanden war, andauernd. Eigentlich hatte ich es doch viele Jahre aushalten können, bevor ich, entrückt, wie ich war, mit meiner Erstarrung begann. Und was war das für eine unbegreifliche Verbindlichkeit gewesen? Wovon hätten wir uns angezogen fühlen sollen, wenn es keine Anziehungskraft gab aufgrund der Weise, wie wir uns miteinander durch den Raum bewegten? Wenn unsere Hände einander durchdrangen, wie konnte diese Abwesenheit des anderen dann bedeuten, dass wir beide umhüllt gewesen wären von etwas, das physikalisch berechenbar ist? Ich wusste in diesen Sekunden nicht, wie schmerzlindernd oder tröstend es sein kann, wenn eine Beschränkung vorhanden ist, wenn man gestützt wird durch eine Energie, die gegeben ist und nicht vorgestellt. Ich wusste in diesen Sekunden nicht mal, dass es nur Sekunden waren. Ich konnte wahrnehmen, dass ich mich nicht kausal verhielt, dass Kausalität gar nicht mehr existierte – für ein kurzes Intervall. Es musste sich ja um einen Gärungsprozess handeln, oder wie sollte man es sonst erklären können? Das Intervall gärte durch mich hindurch in die Welt. Die vergangenen Jahre, in denen ich zuerst verbunden gewesen war, dann verloren, und dann alleine, diese Jahre vermischten sich in einer klebrigen Flüssigkeit, oder sie äußerten sich als Ektoplasma um mich herum, wie ein gefüllter Kokon, in dem ich mich schwerelos bewegte, in dem ich mühelos atmen konnte, ein Kokon, der sich innerhalb des Zeit-Raum-Gefüges ausbreitete und dessen Membran ich vielleicht doch erahnte, mehrere Lichtjahre entfernt. Eine Bewegung ging davon aus, wellenförmig, und wie hätte ich das mitbekommen können, wenn ich wirklich nur ein paar Sekunden auf dieser Wiese gelegen wäre, erstaunt und entsetzt zugleich. Was erfuhr ich währenddessen über meine Erstarrung? Ich erfuhr, dass ich mich wieder würde bewegen können, oder zumindest, dass das erstarrte Ektoplasma zu einem späteren Zeitpunkt porös werden würde, oder dass ich es durch psychokinetische Impulse würde zerstören können, möglicherweise. Wie konnte ich aus Harz sein und trotzdem bewegt durch die Detonation? Gleichzeitig war es gefährlich, in diesem Kokon zu verweilen, mein Knochenmark löste sich wahrscheinlich auf, und mein Herzrhythmus war fremdbestimmt oder mehrmals vorhanden, ich selbst war wie immer mehrmals vorhanden (so many different people to be). Ich spürte, dass ich mich, ausgelöst durch mein Erstarren, distanziert hatte, besessen von einer Traurigkeit, die mich davon abhielt, sympoietisch zu sein, wobei es gleichermaßen gar nicht möglich ist, davon abgehalten zu werden. Diese Einsicht bestürmte mich mehrmals, oder durchfloss mich, weil der Sturm doch das Los sein soll, von einem konditionierten Wesen. Ich weiß aber auch noch, dass ich mich bald wieder beruhigte, oder zumindest irgendwann später. Vielleicht war all das gar nicht geschehen. Ich richtete mich auf. Ich saß dann mit angezogenen Knien im Park und sah noch immer die Rauchwolke aufsteigen. Der Rauch über den Häusern und Bäumen war fast weiß im Schein der hellen Sonne. Ich bemerkte, dass sich überall wieder Kausalitäten entwickelten, viele filmten, Hunde bellten sich an, und trotzdem blieb eine anhaltende Unerklärbarkeit zurück. Ich sah mich um, schaute den anderen Menschen zu, und ich fragte mich, was sie in den wenigen Sekunden, die seit der Explosion vergangen waren, empfunden hatten. Ich hörte Sirenen von allen Seiten, es war windstill.

Ich erhob mich, klopfte mir das Gras von den Klamotten und radelte angespannt ein paar Hundert Meter, hinein ins Industriegebiet, das an den Park angrenzte und auf dessen gegenüberliegender Seite der Airport war. In einer alten Fabrikhalle hatte im Sommer ein Fitnesscenter eröffnet. Ich kaufte mir einen Tagespass. Wie ich war, ohne mich umzuziehen, ging ich in den fensterlosen Trainingsraum, komplett leer, abgesehen von den Geräten. Die Leuchtpanels flackerten unregelmäßig. Ich trank den heißesten Minztee aus einem Plastikbecher. In einem Sonderbericht wurden die ersten Aufnahmen vom Airport übertragen, bald schon standen Reporter vor der Abflughalle, zuckten unwissend mit den Schultern, aber sie redeten dabei einfach weiter, überfordert, geschäftig. Ich klaute mir einen Proteinriegel und kaute angewidert darauf rum. Ich riss wahllos Handtücher aus einem Regal und schleuderte sie umher, aber die Anspannung entwich nicht aus mir. Während ich, ohne davon ablassen zu können, auf die stumm geschalteten Flachbildschirme schaute, die von den Decken hingen, powerte ich mich über eine Stunde lang komplett geisteskrank auf dem Stepper aus, um Mangelzuständen entgegenzuwirken, von denen ich mir einbildete, dass sie existierten.

Nürnberg, warum machst du diese?
1

Einmal im Luitpoldhain saßen Manu und ich auf einer versteckten Bank und rauchten Marihuana; meistens entfernten wir uns nicht so weit vom Maffeiplatz, wo sich unsere Wohnung befand, sondern hingen hauptsächlich auf unserem Balkon rum und betrachteten die lilafarbenen und rötlichen und grauen Südstadtwolken über dem Innenhof.

Ich weiß nicht mehr, warum wir an diesem Tag umherschlurchten, wahrscheinlich waren wir auf der Suche nach einem Imbiss oder Zerstreuung. Dass wir, während wir die gigantischen Wiesen des Luitpoldhains wahrnahmen, langsam high wurden, war an sich nicht sehr trippy, sondern öffnend und korrelierend mit dem kaltgepressten Grün des kauernden Frühlings; da war so eine Zögerlichkeit überall, oder eine Zartheit, die misstrauisch verbarg, dass die Welt, die wir kannten, aber vergessen hatten, bald aus sich selbst herausbrechen würde, übermächtig und schrill. Na ja. Ich weiß noch, dass wir damals meistens schwermütig waren, obwohl alles immer heller wurde. Allerdings waren wir auch angefixt von der wurmlochartigen Unübersichtlichkeit unseres haltlosen Denkens – worin auch eine Zartheit lag, ein Abdriften; der Versuch, über das hinauszukommen, was wir jeweils einzeln waren: zwei Zellanhäufungen, die Vorsicht und Angst meistens verwechselten. Manchmal gelang es uns gemeinsam, der gesicherten Fixiertheit zu entkommen und zu flexen – auf einem brüchigen, vorsichtigen, fluoreszierenden Untergrund, den wir paradoxerweise erst dadurch erschufen, dass wir ihn betraten.

Wir entwickelten zusammen Geheimwissen. Ich freestylte abends, während Manu Mandoline spielte, und wir schauten zusammen alte B-Movies an, die wir auf verseuchten Websites streamten, und wir diskutierten über theoretische Texte und ernährten uns hauptsächlich von Toastbrot, Paprikacreme und Weichkäse.

Nachdem wir eine Weile high im Luitpoldhain herumgesessen hatten, gingen wir weiter über das Gelände, verloren in einer zerfließenden Müdigkeit oder versunken in ihr; wir überquerten die Bayernstraße und kamen zum Volksfestplatz; er war mit Bauzäunen abgesperrt. Der Himmel war irgendwie schlonzig, auch wenn die Sonne schien, mit einer irritierenden Kraftlosigkeit. Die Kongresshalle hatte sich grau ins Universum reinbetoniert, logischerweise ging kein Glanz von ihr aus, nur ein Erbe der Unkultur, dessen Schaden auf uns allen lastete, wie Charlotte Wiedemann schreibt.

Es kam an diesem Tag zu einer eigenartigen Begegnung, von der ich erzählen will: Auf der anderen Seite des Volksfestplatzes lagen die Einzelteile eines Zirkuszelts, das offensichtlich bald aufgebaut werden sollte, rote Planen, Paletten und Gestänge waren auf dem Asphalt verteilt, ein Tieflader parkte daneben; außerdem waren ein paar kleinere Laster des Zirkus auf der weiten Fläche abgestellt worden. Niemand war da, kein Mensch, nirgends. Nur mittendrin, auf dem Kies, stand ein Elefant, in einem winzigen Gehege, das eigentlich nur aus vier Eisenstäben bestand, um die eine rote Schnur gespannt war; ein kleines Viereck, das den Elefanten umgab. Von da, wo wir uns befanden, wirkte er bedroht in einem existenziellen Sinn, wir konnten das telepathisch spüren, oder aufgrund einer chemischen Empfindsamkeit.

Es war, als wäre der Elefant umgeben von Abgründen gewesen, als wäre nur dieses eingezäunte Viereck halbwegs befestigt, aber gleichzeitig auch invertiert; das Tier war gefangen in einem Prozess der zunehmenden Isolation, also da war dieser fragwürdige Boden, und die Ahnung, dass der Elefant nur hier, genau da, wo er ausharrte, weiterhin bleiben könnte, obwohl er eigentlich überall hätte sein sollen, nur hier nicht. Jetzt war es so weit gekommen, dass er überall anders einfach durch die Oberfläche gefallen wäre und in einem ewigen Fall die verschiedenen fragwürdigen Schichten des Planeten durchdrungen hätte. Seine Isolation, unter der er litt, fand umgeben von Haltlosigkeit statt.

An den Bauzäunen, die den Volksfestplatz absperrten, hingen neonfarbene Plakate an den Gitterstäben, die für den Zirkus warben. Manu und ich hoben ein Teilstück des Bauzauns aus seiner Halterung und schlüpften hindurch. Zuerst schauten wir uns vorsichtig um, weil wir sichergehen wollten, dass tatsächlich keine Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des Zirkus anwesend waren, außerdem prüften wir, ob wir beobachtet wurden, von Passanten beispielsweise. Ich meinte ja, dass es sich für uns manchmal unklar anfühlte, was Vorsicht und was Angst war. Und dann kommt in Bayern sofort noch diese belastende Paranoia dazu, wenn man high ist, weil Bayern ein Bundesland ist, in dem Polemik vor Verhältnismäßigkeit kommt. Es ist seltsam, tagsüber durch ein abgesperrtes Gebiet zu laufen, das von allen Seiten einsehbar ist. Aber ungefähr so fühlte sich diese Stadt immerzu für uns an. Wir schlurchten über asphaltierte Wege, durch eingedickten Kies, unter einer blassen Sonne, die viel tiefer stand, als es nötig gewesen wäre. Wir näherten uns dem Elefanten vorsichtig, obwohl wir sofort spürten, dass er uns wohlgesonnen war. Allerdings erschraken wir (es ging von den Oberarmen aus), weil das Tier so traurig wirkte, und ich meine damit nicht, dass wir den menschlichen Mood des Traurigseins auf ihn übertrugen – er befand sich in einem Zustand, der traurig war. Dass er überhaupt alleine eingesperrt war, von einer lächerlichen roten Schnur gefangen, die er sofort hätte durchbrechen können, das war traurig. Außerdem war er ungepflegt, seine lehmige Haut war verdreckt, verklebt, rau, garstig. Er wirkte ausgestoßen, er wirkte eingefallen. Langsam suchte er mit seinem Rüssel den Boden ab, und wenn er ausatmete, stiegen winzige Staubwolken langsam nach oben; dabei beobachtete er uns neugierig und müde. Wir liefen um ihn herum, umkreisten ihn mit Achtung, gleichzeitig waren wir von der Situation überfordert, aber auch dankbar für diese Begegnung; wir wurden auf unvorhersehbare Weise verwandelt, wie es bei Anna Lowenhaupt Tsing heißt. Ich ging in die Hocke und beobachtete den Elefanten.

1 773,44 ₽
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241 стр. 2 иллюстрации
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9783957579416
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