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Josephina Richardt

Noras Weihnachtstagebuch

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Inhaltsverzeichnis

Titel

NORAS

WEIHNACHTSTAGEBUCH

M ontag, 1. Dezember

Dienstag, 2. Dezember

Mittwoch, 3. Dezember

Donnerstag, 4. Dezember

Freitag, 5. Dezember

Samstag, 6. Dezember

Sonntag, 7. Dezember

Montag, 8. Dezember

Dienstag, 9. Dezember

Mittwoch, 10. Dezember

Donnerstag, 11. Dezember

Freitag, 12. Dezember

Samstag, 13. Dezember

Sonntag, 14. Dezember

Montag, 15. Dezember

Dienstag, 16. Dezember

Mittwoch, 17. Dezember

Donnerstag, 18. Dezember

Freitag, 19. Dezember

Samstag, 20. Dezember

Sonntag, 21. Dezember

Montag, 22. Dezember

Dienstag, 23. Dezember

Mittwoch, 24. Dezember

ANMERKUNGEN DER AUTORIN

BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

Impressum neobooks

NORAS

WEIHNACHTSTAGEBUCH

Josephina Richardt

Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erschienen.

© 2019 Josephina Richardt

1. Auflage 2019

Umschlaggestaltung, Layout: Josephina Richardt

neobooks

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Basierend auf dem Tagebuch von Josephina Richardt

For the Lorelei to my Rory

- Meine Mutter, Freundin, Vertraute und die Omi meines 1/4-Dackels…

Danke für das Leben, das du mir jeden Tag ermöglichst. Ohne deine Unterstützung wäre auch dieses Buch niemals zustande

gekommen.

Ich liebe dich über alles.

Dieser Zauber ist der deine.

Und für Venedig. - Die Stadt meines Herzens. Mein erstes eigenes zu Hause. Die Stadt, die mir so viel gegeben hat.

Unter anderem die besten Menschen, die ich mir für diese Erfahrung hätte wünschen

können.

Here’s to you!

When I went to Venice, I discovered that my dream had become - incredibly, but quite simply - my address.

- Marcel Proust


Ungefähre Skizze der wichtigsten Orte (-jegliche Ungenauigkeiten sind Noras Orientierungssinn zuzuschreiben)


M ontag, 1. Dezember

Liebes Tagebuch,

hier bin ich nun. In einer fremden Stadt, in einem fremden Land, mit einer Aufgabe, die nur damit zu erklären ist, dass das Universum wirklich voller Ironie steckt.

Na gut, es ist keine komplett fremde Stadt und kein komplett fremdes Land. Immerhin war ich als Kind ein paarmal in Venedig, wenn auch nur für jeweils einen Tag. Was mir davon am meisten in Erinnerung geblieben ist, sind die Tauben. Damals war es noch eine richtige Touristenattraktion, jene zu füttern. Wie stolz war ich, wenn mir eine auf dem Kopf gelandet war.

Einmal als Teenager habe ich Silvester hier gefeiert und dabei die meisten Sehenswürdigkeiten abgeklappert.

In Italien habe ich gefühlt mein halbes Leben verbracht. So oft bin ich hier im Urlaub gewesen, am Strand, auf Studienreise und einen Teil meiner Familie besuchen, die in der Nähe Mailands lebt. Italien war immer ein Teil von mir. Vielleicht dachten sie deswegen, es wäre eine gute Idee, mich hierher zu schicken. Obwohl ich es in meinen ganzen dreißig Jahren noch nicht geschafft habe, endlich diese verflixte Sprache zu lernen.

„Dies ist deine große Chance, Nora. Das ist es doch, worauf du die ganze Zeit gewartet hast“, haben sie gesagt. „Das ist die Tür zu deinem Traum. Jetzt liegt es an dir, sie aufzutreten.“

Und was liegt hinter dieser Tür? - Weihnachten in Venedig.

Das ist es, worüber ich berichten soll. Weihnachten in der Lagunenstadt. In einer Stadt auf Holzstelzen muss das schließlich ein besonderes Event sein. Ganz Venedig ist einzigartig.

Fast einen Monat geben sie mir. Beinahe den ganzen Dezember, vom ersten an (also heute) bis zu Heiligabend. In dieser Zeit soll ich die Stadt kennenlernen – und ich meine richtig kennenlernen – und am Ende einen Text über Venedigs zauberhaftes Weihnachten schreiben. Dass es zauberhaft sein wird, daran besteht schon vor Antritt meiner Recherche kein Zweifel. Pressefreiheit? Sicher. Selbst wenn es keiner ausspricht – und das tut auch niemand, denn nach außen hin bewahren wir schön den Schein einer unverfälschten Geschichte – so ist doch allen klar, dass es keinen Text über ein ödes, enttäuschendes, langweiliges Weihnachten geben wird. Stattdessen wird es eine Geschichte, die am besten die Adjektive berührend, schön, magisch und liebevoll aufrichtig miteinander vereint. Ehrlich, ich weiß nicht, weshalb sie sich die Mühe machen, mich tatsächlich hier herunter zu schicken. Genauso gut könnte ich mir von meinem Schreibtisch in München oder noch besser, von meinem Bett aus, ein paar schnulzige Worte aus den Fingern saugen. Es würde eine Menge Geld sparen.

Vielleicht bin ich nicht ganz fair. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich mir die linke Hand abgesägt (die rechte brauche ich zum Schreiben), um solch eine Chance zu bekommen. Für eine Story

verreisen, in einem anderen Land leben! Das war genau das, was ich mir immer unter dem Begriff „Reisejournalismus“ vorgestellt hatte. Die Verbindung zweier Leidenschaften, die Möglichkeit, durch das Kennenlernen der Welt, Geld zu verdienen. Nur dafür hatte ich mich jeden Tag seit meinem achtzehnten Lebensjahr abgerackert. Nur dafür schrieb ich zweitklassige Auflistungen irgendwelcher Traumreiseziele für den kommenden Februar, recherchierte die billigsten All Inclusive Angebote und stellte Ausrüstungsvorschläge für die nächste Bergbesteigung zusammen. Um irgendwann endlich selber losgeschickt und zur Protagonistin der eigenen Geschichte zu werden; um über etwas zu schreiben, das ich selber gesehen hatte. Und nun habe ich sie erhalten, diese erste Chance. Venedig! Eine, wenn nicht gar DIE, schönste Stadt der Welt.

Aber das Leben spielt einem komische Streiche. Die Dinge, die einem wichtig sind, verändern sich. Träume fordern hohe Preise. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Universum jedem Leben ein Gleichgewicht gibt. Und jedes Mal, wenn etwas Gutes passiert, muss im Ausgleich etwas weniger Gutes geschehen. Nur dass dieses weniger Gute manchmal die Kraft des Guten auslöscht.

Meine Heizung macht seltsame Geräusche. Meine Vermieterin hat versucht, mir das System zu erklären, aber verstanden habe ich es nicht. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Dame ausschließlich Italienisch mit mir gesprochen hat, völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich nichts als einen leeren Gesichtsausdruck zu dem Gespräch beizutragen hatte. Die Indizien sprechen dafür, dass dieses Nichtverstehen addiert mit meinem Versuch, an dem grauen Kasten in der Abstellkammer die Temperatur zu verändern, der Grund dafür sind, dass aus meiner Dusche kein heißes Wasser kommt.

Draußen ist es schon seit einigen Stunden dunkel. Es ist neun vorbei. Ich bin müde, aber will noch nicht schlafen. Dabei wäre es besser. Immerhin muss ich morgen mit meiner „Recherche“ anfangen. Und es würde mir vielleicht besser gehen. Die erste Nacht ist immer ungewohnt. Und mein erster Tag spricht auch nicht gerade für dieses Abenteuer. Tatsächlich würde ich hier und jetzt gerne darauf verzichten, wenn die nächsten Tage genauso katastrophal werden. Eigentlich würde ich wirklich am liebsten wieder umkehren. Und ich war auch schon kurz davor, denn für einen Moment schien es, als wäre das der einzige mir bekannte Weg. Was für eine Schande für die Abenteurerin.

Als ich mittags mit dem Bus ankam und durch Mestre fuhr, knotete sich mein Magen das erste Mal zusammen. Zumindest wusste ich, dass meine Station die darauf war. Und ich wusste auch, dass Venedig das eher wenig ansehnliche Mestre tausendfach wettmachen würde.

Dennoch, als ich diese heruntergekommen, scheinbar willkürlich aufeinander geworfenen,

dreckigen und unattraktiven Gebäude vor mir sah, wollte ich heulen. Kurz darauf fuhren wir übers Wasser. Das war schon eher das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war zuvor noch nie mit dem Bus angereist. Früher sind wir mit dem Schiff von Punta Sabbioni aus übergesetzt. Ich muss dem Magazin dafür danken, dass sie immerhin halbwegs großzügig sind, was das Budget angeht und ich eine Wohnung in Venedig selber zur Verfügung gestellt bekommen habe. Nicht auszudenken, ich müsste in Mestre wohnen und jeden Tag pendeln… Ich glaube, dann wäre ich jetzt wirklich bereits wieder auf dem Weg nach Hause.

Schlussendlich bin ich bei Tronchetto ausgestiegen, habe meinen viel zu schweren Koffer und meine Tasche irgendwie Richtung Ticketverkauf geschleppt, mir eine Monatsbootkarte zugelegt, mein abnormales Gepäck auf das Vaporetto gehievt und mit einem gefühlt ausgekugelten Armgelenk die kalte, salzige Luft eingeatmet.

- Und ja, ich habe ein Problem mit dem Packen. Ich habe zu viele Klamotten und wenn ich verreise, überkommt mich auf einmal die Vorstellung, wie ich mich jeden Tag herausputze, um in süßen Outfits exotische Straßen entlang zu schlendern. Wer weiß schon, was alles in einem Urlaub passieren kann…

Und zu verschiedenen Outfits gehören verschiedene Schuhe, von denen ich ebenfalls eine Menge besitze und wenn ich schon einmal die Chance bekomme, in Venedig zu leben, ist das doch die ideale Gelegenheit auf Exemplare zurückzugreifen, die ich schon lange nicht getragen habe… Aber die bequemen Alltagssachen dürfen natürlich auch nicht fehlen. Und mein kompletter Hausrat muss mit, schließlich ist Venedig teuer. Ebenso mein kompletter Schmuck, denn hier werde ich sicher jeden Tag auf eine andere Kette zurückgreifen, so wie ich auch bestimmt auf einmal wieder Lust haben werde zu zeichnen, mir die Karten zu legen und mein Gesicht jeden Morgen mit meinen unglaublich ausgeprägten Schminkkünsten zu verzieren. Kurzum, ich nahm einfach alles mit. Blöd nur, dass das dazu führte, dass ich das wirklich wichtige schon bevor ich überhaupt richtigen venezianischen Boden berührt hatte, verlor.

Als es Zeit war, mit meinen hundert Kilo das Vaporetto beim Bahnhof Santa Lucia zu verlassen, trennte ein ordentlich hoher Schritt das Boot von der Haltestelle. Kein Problem für mich und meine relativ sportlichen Beine. Doch sehr wohl ein Problem für meine nicht ganz so sportlichen Arme, an denen jeweils ein Koffer hing, der beinahe so hoch und dazu bestimmt nicht nur beinahe schwerer war wie ich. Und dann muss es auch noch schnell gehen, alle rennen, das Boot fährt schon fast wieder ab, da bin ich noch nicht einmal am Ausgang angekommen! Zum Glück gibt es doch noch freundliche Venezianer. So wie den jungen Herrn, den Marinaio, dem die Aufgabe zukommt, das Vaporetto an den Haltestellen zu vertäuen. Er packte meinen Koffer und zog… - Und machte ein ziemlich komisches Gesicht, als ihn dessen Gewicht vornüber fallen ließ. Aber mit einem kräftigen Hauruck ging es dann doch. Zumindest fast. Meine Tasche, die ich auf dem Koffer befestigt hatte, fiel bei dem Manöver herunter, genau zwischen Boot und Haltestelle. Ich hatte diese Tasche natürlich nicht zu bekommen und so füllte deren Inhalt die schmale Spalte, in der das Lagunenwasser schwappte. Mit zügigen Handgriffen klaubte ich meine Wasserflasche und mein Kissen vom Boden auf, da fuhr Vaporetto Nummer 2 schon wieder ab. Die Wellen schlugen gegen die Haltestellenwand und ein paar Meter entfernt entdeckte ich meine Speziflasche schwimmen. Sie schaukelte fröhlich auf den Wellen. Im Stillen entschuldigte ich mich für die Plastikverschmutzung. Da traf es mich wie ein Schlag. Kurz bevor ich das Vaporetto verlassen hatte, hatte ich auf mein Handy geschaut. Eine Nachricht von meiner besten Freundin war eingegangen. Bist du schon da?

Ich wollte erst aussteigen und ihr danach antworten, mit einem gerade echten venezianischen Boden betreten. Also hatte ich das Handy schnell lose zurück in die Tasche gesteckt und mich auf die Herausforderung vorbereitet, rechtzeitig auszusteigen. Und wo zur Hölle war nun mein Handy geblieben?? Immer panischer wühlte ich in meiner Tasche herum. Es musste da sein! Es war da. Ich war mir sicher. Mir war nicht am ersten Tag das Handy ins Wasser gefallen. So etwas konnte mir nicht passieren!

Aber es war nicht da. Wie oft ich auch alles drehte und wendete, den Inhalt auf den Bänken in der Haltestelle verteilte… Mein Handy war nicht mehr da. Mein Handy, auf dem sich alle meine Kontakte befanden, zu meinen Kollegen, meinem Chef, meiner Vermieterin. Das Gerät auf dem sich meine neue Adresse befand. Meine Adresse, die ich natürlich nicht auswendig kannte und die ich mir auch nicht noch woanders notiert hatte. Im Gegenteil, kurz bevor ich aufbrach, hatte ich all meine wichtigen Daten auf mein Handy übertragen. Und jetzt stand ich da, ohne irgendetwas und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht einmal die Handynummern meiner Eltern mit Sicherheit aufzusagen wusste. Die Leute in der Station starrten mich schon komisch an. Eine junge Frau, aufgelöst, hektisch mit ihren Armen herumfuchtelnd und hin und her tigernd, kurz davor zu heulen und bestimmt auch noch völlig verstrubbelt aussehend, so wie man eben aussieht, wenn man eine ganze Nacht in einem Bus verbracht hatte. Was für eine denkwürdige Ankunft. Ob das wohl auch in die Weihnachtsstory gehört?

Ich rannte zurück zum Wasser und blickte in die schmutzig grüne Tiefe. Natürlich sah ich nichts. Dann riss ich mich zusammen. Ich musste nach rechts. So viel wusste ich noch. Das war doch besser als nichts. Ich würde nicht umkehren und den Weg zurück nehmen, den einzigen, den ich kannte. Irgendwie würde ich schon dort ankommen, wo ich hin sollte.

Langsam packte ich meinen Kram wieder zusammen und entfernte mich von der Haltestelle. Einer von diesen vielen, vielen, geschäftigen Menschen würde mir helfen müssen. Ich suchte mir einen nicht ganz so beschäftigt aussehenden, älteren Herrn aus, der vor dem Bahnhof auf den Treppen stand und bat ihn, sein Handy benutzen zu dürfen, um in meinen E-mails meine Adresse zu finden. Der Herr erlaubte mir nicht nur, sein Telefon zu benutzen, er stellte sich auch noch als englischer Gentleman heraus und erzählte von sich, seiner Frau und ihrem jährlichen Urlaub in Venedig. Glück im Unglück, er kannte sich aus und konnte mir tatsächlich eine anschauliche Wegbeschreibung zu meiner Straße liefern. Erleichtert wünschte ich ihm eine gute Heimreise und machte mich auf, durch die gepflasterten Gassen des Viertels Cannaregios. „Wehe, wenn einer von euch Rollen jetzt kaputtgeht“, drohte ich meinem Koffer leise. Der ratterte daraufhin bloß noch ein Stückchen lauter.

Trotz meines insgesamt eher negativ aufgewühlten Gemütszustandes, kam ich nicht umher, die Schönheit dieser Stadt zu bewundern. Venedig ist einzigartig, daran gibt es keinen Zweifel. Ich

erinnere mich an dieses Viertel. Damals vor vielen Jahren an Silvester befand sich mein Hotel ebenfalls in Cannaregio, nahe dem jüdischen Ghetto. Dort wo jetzt auch meine Wohnung sein würde. Die Erinnerungen meiner Kindheit und meiner Jugend begannen sich mit diesen frischen Momenten zu vermischen. Sie wurden überlagert von einem neuen Geschmack, der damit einherging, dass ich diese Stadt nun nicht wie ein Tourist betrachtete, sondern wie jemand, der für ein paar Wochen sein neues zu Hause hier vorfinden würde. Es war ein wenig seltsam. Wie zwei verschiedene Bilder, die nicht ganz zueinanderpassen wollten.

Meine Wohnung liegt direkt am Kanal, im Erdgeschoss. Ich mache die Haustür auf und ich sehe Boote an mir vorbeifahren. Außerdem liegt sie wohl in einer der zwei Gegenden, wo abends noch etwas los ist. In meiner Straße reihen sich Bars und Restaurants aneinander, Cafés und kleine Läden. Ich höre die Menschen anstoßen. Gläser klirren. Gelächter weht zu mir herüber. Es hört sich teilweise an, als stünden sie direkt in meinem Wohnzimmer. Ich denke, daran werde ich mich mit der Zeit gewöhnen. Sie stehen auch direkt vor meinen Fenstern und meiner Tür. Wenn ich die Haustüre öffne, fällt mir glatt einer hinein. Immerhin habe ich Gitter vor den Fenstern. Ansonsten mag ich meine Wohnung sehr. Sie ist hübsch eingerichtet, fühlt sich an wie ein Heim. Sie ist mit allem ausgestattet, was mir einige Kilos erspart hätte, hätte ich das vorher gewusst. Ich habe einen Fernseher, der englische Sender zeigt, ein Doppelbett und einen kleinen Garten nach hinten raus. Schade, dass kein Sommer mehr ist.

Jeden Tag kommt das Müllboot. Ich musste den Zettel zweimal lesen. So etwas Skurriles hatte ich selten gehört. Aber natürlich gibt es das Müllboot. Da die Venezianer Wert auf akkurate Mülltrennung legen, nimmt es nicht jeden Tag dasselbe mit. Bis auf den regulären Hausmüll steht jedem Müll ein anderer Tag zu. Ich darf mir nun aussuchen, ob ich zwischen sechs und acht Uhr in der Früh für den Müll aufstehe, oder ob ich warte, bis der Müllmann bei mir klingelt, um sich den Müll persönlich abzuholen. Wer hat denn so etwas schon einmal gehört? Woher will der Müllmann überhaupt wissen, ob ich meinen Müll nicht schon um sechs rausgebracht habe? Außerdem bringe ich in der Regel nicht jeden Tag meinen Abfall weg… Das venezianische Leben ist interessant, keine Frage.

Meine Vermieterin wohnt über mir. Viel kann ich zu ihr nicht sagen, wir erinnern uns, ich habe so gut wie nichts von dem verstanden, was sie zu mir gesagt hat. Sie ist eine ältere, leicht gebückt gehende Dame mit einem dunkelgrauen Lockenschopf auf dem Kopf. Auf ihrer Nase sitzt eine schiefe Nickelbrille an einer Goldkette. Sie ist ungefähr eineinhalb bis zwei Köpfe kleiner als ich und hat eine Neigung dazu, den linken Zeigefinger nach oben zu recken, als würde alles, was sie von sich gibt, dazu dienen, einen zu belehren. Oder als würde sie jedes einzelne ihrer Worte betonen wollen. Sie trug ein Wollkleid, als sie mich empfangen hatte, mit Stützstrümpfen und etwas, das ich als Gesundheitsschuh bezeichnen würde, während meine Mutter „bequemer Schuh“ dazu gesagt hätte.

…Ich fühle mich rastlos. Vielleicht auch etwas verloren. Ich sollte gerade meinen Traum leben, stattdessen weiß ich nicht, was ich hier eigentlich tue. „Abhauen“ ist schön, aber gleichzeitig macht das Reisen nur Spaß, wenn man ein zu Hause hat, zu dem man zurückkehren kann. In meinem Kopf sehe ich all die gemütlichen Momente vor mir, im Bett, auf der Couch; unser Lachen. Ich rieche den köstlichen Duft eines frisch gekochten Currys in unserer Küche. Ich sehne mich danach, über schlechte Fernsehprogramme zu lästern. Wie baut man sich überhaupt einen Alltag in einem anderen Land auf?

Aber es spielt keine Rolle. Ich kann nicht zurückgehen. Denn zu Hause und mein altes Leben existieren nicht mehr. Egal wo ich bin, ich habe keinen Alltag. Also kann ich genauso gut hier anfangen mir wieder einen aufzubauen.

Über Weihnachten soll ich schreiben. Wie ich schon sagte, das Leben ist komisch. Ich glaube nicht an Weihnachten mit all seinem glitzernden Firlefanz. Weihnachten ist meistens stressig, teuer und so schnell vorbei, dass man es gar nicht richtig mitbekommt. Und am Ende ist man um lauter Dinge reicher, mit denen man nichts anfangen kann, die man aber, wenn es blöd kommt, aus Höflichkeit auch nicht entsorgen kann. Die Hosen passen einem nicht mehr und zu allem Überfluss steht Silvester schon vor der Tür, wo der ganze Stress weitergeht und sich jeder am besten gleich eine ganze Weinflasche alleine genehmigt, denn der Jahresrückblick fällt meistens nicht recht positiv aus. Was soll daran wunderbar sein?

Henry hätte es wunderbar gefunden. Er hätte den Zauber gesehen. Und er hätte ein weiteres Mal versucht, mich ebenfalls zu verzaubern. Ob er es wohl jemals aufgegeben hätte?

Hätte ich noch eine Chance, diesmal würde ich es zulassen. Ihn nicht auslachen und genervt abwimmeln.

Auf einmal wünsche ich mir so sehr, diesen Funken zu sehen, den er immer gesehen hat. Vielleicht wäre er mir dann näher. Aber ich kann es nicht. Der Funke ist fort, wie auch Henry fort ist. Und ich bin ganz alleine in Venedig. - Irgendwie auch fort.

Nora


765,32 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
195 стр. 26 иллюстраций
ISBN:
9783748563617
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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