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Jörg Steinert

Pilgerwahnsinn

Warum der Jakobsweg süchtig macht

Notizen von unterwegs

Patmos Verlag

Inhalt

VIELE WEGE FÜHREN NACH SANTIAGO

1 WIE ICH PILGER WURDE

Bonding statt Pilgern

Anfängerglück

2 AUF DEM KÜSTENWEG: ZWISCHEN BEGEISTERUNG UND ZWEIFEL

Überfüllte Herbergen

Schnauze voll, ich breche ab

Wenn du weit kommen willst, dann geh zusammen

Wie katholisch ist der Jakobsweg?

Die Ankunft in Santiago

3 BIS ANS ENDE DER WELT

Der Pilgertod

Zurück in Deutschland

4 TAUSEND KILOMETER ZU MIR SELBST

Niemand geht den Weg zufällig

¡Buenos días! Ich spreche kein Spanisch

Luxusartikel im Gepäck

Jeder Schritt tut weh

Blinddate in Santiago

5 AUF KURZEN UND LANGEN WEGEN NACH SANTIAGO

Auf dem Weg für Anfänger gescheitert

Wie lang muss eine Pilgerreise sein?

6 SECHS WOCHEN AUF DEM CAMINO

Pilgerprofis

Das Glück finden

Nicht schon wieder Bettwanzen

„Camino is not holiday“

Im Schlafsaal

Jesus didn’t start in Sarria

7 AUF DEM MEISTGELAUFENEN WEG

Die Sehnsucht nach Freiheit

Mr. Monk und die Bettwanzen

No Vino, no Camino

Pilgerfieber

8 UNTERWEGS MIT SEYRAN ATEŞ

Die Stalkerin

Mit Personenschutz auf dem Jakobsweg

Weg der Liebe

Die Zukunft des Weges

DANKSAGUNG

Landkarte

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

VIELE WEGE FÜHREN NACH SANTIAGO

Warum fühle ich mich ausgerechnet auf einem überlaufenen katholischen Pilgerweg so geborgen? Ich ostdeutscher Protestant und papstkritischer Geschäftsführer einer Lesben- und Schwulenorganisation. Ich, der Fremdsprachen nur schlecht beherrscht, seinen Feierabend am liebsten mit Netflix-Serien verbringt und sich vor Bett­wanzen total ekelt.

Erstaunte Blicke sind mir nicht fremd, wenn ich von meinen zahlreichen Reisen auf dem Jakobsweg berichte. „Du bist den ganzen Weg gelaufen?“, lautet dabei die häufigste Frage. Nein, ich bin nicht zu Hause losgelaufen. Denn genau dort beginnt nämlich der Jakobsweg. Vor der eigenen Haustür.

Auch gibt es nicht den „einen“ Weg nach Santiago de Compostela, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten. Natürlich gibt es Haupttrassen, je näher man der sagenumwobenen Stadt im Nordwesten Spaniens kommt. Der bekannteste Hauptweg ist der Camino Francés, der an den Pyrenäen beginnt und dann 800 Kilometer durch verschiedene Regionen Spaniens führt.

Immer mehr Menschen aus der ganzen Welt pilgern wieder auf Jakobswegen nach Santiago zum Grab des Apostels Jakobus. Im Jahr 1973 wurde die Ankunft von nur 37 Pilgern registriert. Im Jahr 2019 waren es über 340.000 Frauen, Männer und Kinder.

Der Jakobsweg gehört zu den großen Abenteuern unserer Zeit. Ungefährlich, aber aufregend. Anstrengend und zugleich genussvoll.

Der Camino, so nennt man den Jakobsweg in Spanien, macht süchtig. Aber was genau gibt einem der Weg, von dem alle reden? Der Weg, auf dem Menschen nach einer schweren Lebenskrise Kraft tanken. Der Weg, der ein willkommenes Kontrastprogramm zum beschleunigten Alltag darstellt.

Gemäß einem Sprichwort pilgert man nach Jerusalem, um Jesus zu finden, und nach Rom, um auf den Spuren von Petrus zu wandeln. Auf dem Weg nach Santiago findet man aber vor allem sich selbst.

Meine erste Pilgerreise war trotz eines holprigen Starts unbeschreiblich schön und fühlte sich wie das Paradies auf Erden an. Beim zweiten Mal ging sehr viel schief, die Voraussetzung für ein noch größeres Abenteuer. Jeder weitere Weg war anders und brachte mir jeweils nicht das, was ich suchte, sondern was ich brauchte. Egal wie groß die Frustrationsmomente zwischendurch auch waren, am Ende strahlten meine Augen vor Glück.

Zu Fuß in der Fremde unterwegs sein. Meist allein, aber nicht einsam. Das ist der Jakobsweg.

1 WIE ICH PILGER WURDE
Bonding statt Pilgern

Das ist also der Jakobsweg?“, fragte ich mich. Da lag ich, auf dem Fußboden einer spanischen Ferienwohnung. Unter mir eine Frau, die weinte, weil ich sie an ihren Ex-Ehemann erinnerte. Das Ganze war Teil einer Übung namens Bonding. Warum hatte ich diese absurde Selbsterfahrungs-Reisegruppe gebucht? Warum wollte ich unbedingt auf den Jakobsweg? Wie konnte es so weit kommen, dass ich als schwuler Mann auf einer ­weinenden Frau liege?!

Ich war noch nie besonders sportlich, religiös oder spirituell. Und ich wollte bloß keine Veränderungen in meinem Leben. Alles wie gewohnt. Alles wie geplant. Abweichungen von meinen konkreten Erwartungen verursachten immer große Enttäuschungen. Vielleicht ist es bis heute deshalb ein so großes Abenteuer für mich, den Jakobsweg zu entdecken. Am Morgen weiß ich noch nicht mit Gewissheit, wo ich abends schlafen werde und wie weit mich meine Füße tragen.

Hätte jemand vor dem Jahr 2014 die Vermutung geäußert, dass ich mich auf den Camino de Santiago, also den Jakobsweg, einlasse, hätte ich sie oder ihn vermutlich für verrückt erklärt. Doch meine Studienfreundin Madeleine, die ich einige Jahre aus den Augen verloren hatte, erzählte mir im Oktober 2014 von ihrer Pilgerreise. Für mich war der Weg bis dahin nicht besonders reizvoll. Mich faszinierte jedoch, dass sich eine moderne Großstädterin, deren früherer Schulweg der Berliner Kurfürstendamm war, so offen darauf eingelassen hatte.

Einige Tage nach dem Gespräch mit Madeleine ging ich in eine Buchhandlung und musste feststellen, wie viele Bücher es über den Jakobsweg gibt. Ungeduldig griff ich mir schließlich das Buch mit dem schönsten Coverbild und kaufte es. Ein Buch über den Camino del Norte, der entlang der spanischen Atlantikküste verläuft.

Es schien wenig wahrscheinlich, dass mein damaliger Partner mich begleitet. Er war zwar fit und kulturell interessiert, aber er konnte sich nicht für das Wandern begeistern und unsere Beziehung stand sowieso kurz vor dem Aus. Also entschied ich mich, diese Reise unabhängig von ihm anzutreten.

Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich allein Urlaub gemacht, immer im Schlepptau von Familie, Freunden oder Partner. Von Rucksacktourismus ganz zu schweigen. Daher war ich ganz froh, als ich auf einer sehr ansprechenden Internetseite über den Jakobsweg ein Angebot für eine angeleitete Gruppenreise fand.

Eigentlich richtete sich die Reise an sehr junge Erwachsene, zu denen ich mit meinen 33 Jahren laut Reiseangebot nicht mehr gehörte. Trotzdem fragte ich beim Anbieter nach. Wir vereinbarten einen Telefontermin. Ich kam mir dabei vor wie bei einem Bewerbungsgespräch. Aber entscheidend war das Ergebnis: Ich durfte mit.

Wenige Monate später, es war inzwischen Anfang April, saß ich auf dem Flughafen von Bilbao und wartete auf die anderen Mitreisenden. Ich war so erleichtert, als ich mitbekam, dass weder die Frauen noch die Männer der beworbenen Altersgruppe entsprachen. Mit Bus und Bahn ging es gemeinsam nach Irun, von dort zu Fuß ins bezaubernde Hondarribia. Unser Reisebegleiter machte einen etwas verwirrten Eindruck. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei.

Wir hatten eine zentral gelegene Ferienwohnung, direkt im Ortskern. Doch erst einmal entbrannte eine Diskussion darüber, wer welches Bett bekommt. Ich war davon ausgegangen, dass jeder sein eigenes Zimmer hat. Fehlanzeige. Im Angebot waren Mehrbettzimmer und sogar ein Doppelbett. Ich nahm ein Kinderbett in einem Durchgangszimmer. Hauptsache allein. Und der Blick über die Bucht nach Frankreich war einfach großartig.

Am nächsten Morgen fanden wir uns in einem Stuhlkreis wieder und sprachen über Lebenskrisen. Mir schien das alles unangemessen intim. Aber ich wollte kein Spielverderber sein und machte mit. Mich selbst beschäftigte gerade das Ende meiner Beziehung.

Gegen Mittag wurden schließlich Körperübungen angekündigt. „Na endlich“, dachte ich mir und erwartete Wandervorbereitungen und hilfreiche Tipps. Stattdessen wurde uns Bonding vorgestellt. Von der Sexualpraktik Bondage hatte natürlich jeder von uns schon gehört. Aber Bonding?

Unser etwa 29-jähriger Reisebegleiter, ein kleiner muskulöser Mann, der nach Schweiß roch, erläuterte uns, dass wir Paare bilden müssten. Dann würde sich eine Person auf den Fußboden legen und die andere Person auf sie drauf. Während alle anderen schwiegen, verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper und sagte etwas patzig: „Nein!“ Ich wollte das nicht machen. Alle anderen stimmten mir zu. Wir wurden um eine Pause gebeten.

Während der Pause entschieden sich alle um. Jetzt waren wir einmal hier, dann könnten wir uns auch auf die Übung einlassen. Eine sehr sympathische Frau, mit der ich mich von Anfang an gut verstand, fragte mich, ob wir die Übung zusammen machen würden. Ich war so erleichtert. Denn einige andere Mitreisende fand ich etwas bizarr. Da waren ein junger Mann, der sich an traumatisierende Erfahrungen als Säugling zu erinnern meinte, eine junge Frau, die vor allem verunsichert schien, und ein frommer Mann mittleren Alters mit Bibel und Gebetbüchern im Gepäck.

Bevor die Übung losging, vergewisserte ich mich, keine Schweißflecken unter den Armen zu haben. Schließlich hatte ich die ganze Zeit ein negatives Beispiel vor Augen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der netten Frau. Aber sie sollte zuerst unten liegen. Ganz vorsichtig legte ich mich auf sie. Eigentlich sollte die Übung der Entspannung dienen, aber ich war total angespannt, weil ich die zierliche Person unter mir nicht verletzen wollte. Und dann das. Sie fing an zu weinen. Hilflos wusste ich nicht, was ich tun sollte. Der Bonding-Guru kam zu uns, streichelte ihre Schulter und fragte sie, warum sie weinen müsse. Sie antwortete, dass ich sie an ihren Mann erinnern würde, den sie nach zwanzig Ehejahren erst kürzlich verlassen hatte.

Noch während wir dalagen, beschloss ich, dem Spuk ein Ende zu machen. Nicht sofort. Ja keine Szene machen. Aber meinen Urlaub wollte ich keinen weiteren Tag in dieser Gruppe mit diesen skurrilen Aktivitäten verbringen.

Es war etwa 5 Uhr morgens am nächsten Tag, als ich aufwachte. Es war dunkel und ruhig, ich konnte die Lichter in Frankreich sehen. Als Erstes musste ich feststellen, dass mein Gepäck nicht in meinen Rucksack passte, wenn ich auch Wasser und Essen mit mir führen wollte. Ich begann daher, einige mitgebrachte Kleidungsstücke zu entsorgen, auch wenn es mir widerstrebte. Ich konnte das unmöglich alles mit mir schleppen. Als ich die Tür der Ferienwohnung gegen 6 Uhr leise hinter mir schloss, wusste ich, dass es kein Zurück geben würde. Schließlich hatte ich keinen Schlüssel.

Das morgendliche Hondarribia glich einem Gemälde. Die Straßenlaternen dieses historischen Ortes leuchteten. Das nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das warme Licht. Es war nur ein kurzer Stadtspaziergang. Am Rande des Ortes suchte ich mit Mühe die ersten gelben Pfeile, die den Weg nach Santiago weisen, und lief den Berg nach oben. Etwa zwei Stunden, bei Dunkelheit, Regen und ganz viel Matsch. Zum Glück hatte ich eine Stirnlampe dabei.

Es war ein beschwerlicher Weg. Und an der ersten Wegkreuzung, es wurde inzwischen heller, fragte ich mich, wohin ich laufen sollte. Den normalen Weg oder die schwere Variante, die bei schlechtem Wetter nicht empfohlen wird. Trotz starkem Regen entschied ich mich für die steile Variante. Ich kam mir vor wie ein großer Abenteurer. Und ein bisschen plagte mich auch ein schlechtes Gewissen, da ich der Pilgergruppe nicht mal eine Nachricht hinterlassen hatte. Was würden sie denken? Ich wollte natürlich auch nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht. Aber egal, der Weg war einfach zu mühsam, ich konnte mir darüber jetzt keine Gedanken machen.

Auf der Spitze des Berges kam ich gegen 8 Uhr morgens an. Durchgeschwitzt. Nass vom Regen. Schmutzig vom Schlamm. Aber auch ein fantastischer Ausblick auf Hondarribia, die baskische Perle in Spanien, sowie auf die französische Küste und den Atlantik. Ich griff zu meinem Mobiltelefon und rief meine Eltern an. Ich wollte mich mitteilen. Doch die Geschichte vom Bonding und der Flucht hätten einen zu besorgniserregenden Eindruck hinterlassen. Im Ergebnis brachte ich daher nur die Aussage heraus: „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist wunderschön.“

Sven, das war der Mann mit Bibel und Gebetbüchern, war inzwischen auch unterwegs. Er fragte mich per SMS ziemlich direkt, ob ich geflohen sei. Was ich nur bestätigen konnte. Auch er hatte die Schnauze voll und plante kein Wiedersehen mit der Gruppe in der nächsten Pilgerherberge.

Sowohl Sven als auch ich beschlossen, aus zwei Tagesetappen eine zu machen. Hauptsache Abstand zwischen uns und die Bonding-Gruppe bringen. Wir trafen uns am Abend in der Jugendherberge im schicken San Sebastián wieder. Und da gerade Ostern war, hatten wir großes Glück, die letzten Betten zu ergattern.

Sven und ich hatten nicht viel gemein. Er war Mitte 40, heterosexuell, sehr gläubig, ein gestandener sportlicher Typ und ein ziemlicher Macho. Aber die gemeinsame Flucht einte uns.

Anfängerglück

Eine wichtige Lektion hatte ich bereits gelernt. Du kannst Pech haben im Leben. Aber entscheidend ist, wie du damit umgehst. Natürlich ärgerte es mich, dass wir abgezockt worden waren. Aber während Sven darüber nachdachte, wie er sich das für die Gruppenreise gezahlte Geld zurückholen könnte, war ich vor allem froh darüber, dass ich mir keine weitere Lebenszeit rauben ließ.

Am nächsten Morgen liefen Sven und ich gemeinsam weiter. Auf dem Weg begegneten wir auch den ersten anderen Pilgerinnen und Pilgern, darunter Matis – ein Aussteiger aus München, der seinen Job und seine Wohnung gekündigt hatte. Der charmante Matis verdrehte Frauen wie Männern, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, den Kopf. Als er jedoch von den Stimmen in seinem Kopf erzählte, ging ich sofort auf Distanz. „Nicht noch mehr wirres Zeug“, dachte ich mir. Sven störte sich weniger daran. Wer felsenfest an Gott glaubt, zweifelt vielleicht auch nicht an Stimmen im Kopf – so meine damalige These. Ich wollte damit aber nichts zu tun haben.

Inzwischen hatten sich Sven und ich auch ordnungsgemäß von unserer Reisegruppe abgemeldet. Da wir am Tag zuvor eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, wollte Sven nur bis ins 14 Kilometer entfernte Orio laufen. Matis wollte auf jeden Fall weiter. Ich war noch unentschlossen. Aber auch ich machte wie Sven bei „Mama Camino“, so nennt man die Herbergsmutter Rosa, Halt. Die Herberge war eine frühere Garage, liebevoll hergerichtet. Wir wuschen unsere Wäsche mit der Hand, wrangen sie gemeinsam aus, beobachteten sie beim Trocknen im Wind und genossen die Frühlingssonne.

José, ein spanischer Pilger, wollte immer wieder mit uns ins Gespräch kommen. Da er aber kein ­Englisch sprach und wir kein Spanisch, war dies kaum möglich. Wir verstanden uns trotzdem gut. José ­faszinierte an mir, dass ich nach nur zwei Pilger­tagen schon so viel Wäsche auf der Leine hatte – und überhaupt so viele Wechselkleidung mit mir führte.

Später am Nachmittag trafen Renate, Maria und Christine ein, drei deutsche Frauen. Sven musste jedem unsere Geschichte vom Bonding erzählen. Mir war das etwas peinlich. Zugleich war die Geschichte ein perfekter Eisbrecher. Es war mein erster richtiger Pilgertag. Laufen in Gesellschaft, eine gemütliche Pilgerherberge, gemeinsames Abendessen und pünktlich um 22 Uhr wurde das Licht im Schlafsaal ausgemacht.

Gruppenschlafsäle waren mir bis dahin immer ein Graus. Doch während wir dalagen, fühlte ich mich geborgen. Renate, eine evangelische Theologin mit tiefer Stimme, sagte auf einmal laut in den Saal hinein: „Jörg, was macht denn jetzt eure Bondage-Gruppe?!“ Die Verwechslung zwischen Bondage und Bonding war gewollt. Alle mussten lachen. Wenige Minuten später ertönten die ersten Schnarchgeräusche.

Vorsorglich verabschiedeten sich Renate, Christine, Maria, Sven und ich am nächsten Morgen voneinander. Und auch wenn mir die anderen Pilger sympathisch waren, ich wollte mich an keine neue Gruppe binden und frei sein. Und es war wirklich herrlich, links die Berge, rechts das Meer und vor mir der hügelige Weg.

Allein zu pilgern bedeutete aber auch, auf sich und seine Gedanken zurückgeworfen zu sein. Und als ich zwischen zwei Orten entlang der viel befahrenen Küstenstraße lief, fand ich es nicht mehr so schön – ich fühlte mich fast ein bisschen einsam. Denn da war niemand, mit dem ich über diesen doofen Wegabschnitt lästern konnte. Und ich fragte mich auf einmal, was ich hier auf dem Jakobsweg überhaupt wollte. Ich wurde immer langsamer, unmotiviert schlurfte ich vor mich hin. Und genau in diesem Moment drehte sich ein vorbeieilender älterer Spanier um und wünschte mir einen „Buen Camino“, also einen guten Weg, den man Pilgern für ihre lange Reise wünscht. Ich hatte diesen Gruß schon zuvor gehört. Aber dieses „Buen Camino“ traf mich mitten ins Herz. Der Herr lächelte freundlich dabei und schon war er entschwunden. Ich musste mit den Tränen kämpfen. Wie konnte es sein, dass mir dieser Unbekannte ungefragt genau das gab, was ich brauchte: Aufmerksamkeit.

Am nächsten Ort war ich so froh, auf Sven zu stoßen, der ein Cerveza, ein spanisches Bier, genoss. Auch er freute sich sehr, mich zu sehen. Wir zogen zusammen weiter.

In den kommenden Tagen genoss ich es, einen Teil meiner Tagesetappe mit den anderen Pilgern zu verbringen und abends in derselben Herberge abzusteigen. Es war schön, sich über die Tageserlebnisse und was uns im Alltag bewegte auszutauschen. Wir genossen das gewachsene Miteinander. Es floss viel Rotwein. Und trotzdem waren wir am nächsten Tag wieder fit wie ein Turnschuh.

Ich konnte es morgens kaum erwarten, dass das erste Handy ertönte. Ich war meist schon eine Stunde früher wach, in freudiger Erwartung auf die nächste Tagesetappe. Eine Tour schöner als die andere. Und dank der gelben Pfeile war es so gut wie unmöglich, den Weg zu verlieren.

Ich war der Einzige, der im Alltag keinen Sport trieb. Maria und Sven berichteten von ihren Marathonerfahrungen. Darüber konnte ich nur staunen. Trotzdem lief alles so gut. Keine Blasen an den Füßen. Und auch keine anderen körperlichen Beschwerden. Was für ein Anfängerglück.

Ungewohnt war es jedoch schon, kein eigenes Zimmer zu haben. Und als sich eines Nachmittags eine junge Pilgerin auffällig kratzte und lautstark fragte, ob das Flohbisse seien, regte sich ein Ekelgefühl in mir. So richtig verging mir dann die Abenteuerlust, als sich die gleiche Person für eine Unterhaltung auf mein Bett setzte. Ich hörte ihr kaum zu und sah stattdessen die imaginären Flöhe in meinen Schlafsack hüpfen.

Noch mehr vermisste ich ein eigenes Badezimmer. Ich fand es immer eklig, anderen Menschen beim Zähneputzen zuzusehen – selbst meinem eigenen Partner. Auch wollte ich selbst nicht dabei beobachtet werden. Mein Bedürfnis nach ausreichender Privatsphäre war groß. Doch aufgrund der wenigen Sanitäranlagen in den Pilgerherbergen blieb es nicht aus, dass wir zu dritt oder viert zusammen am Waschbecken standen. Ich versuchte die anderen zu ignorieren, was jedoch nicht möglich war, da uns Maria, die als zahnmedizinische Fachassistentin arbeitete, auf die jeweiligen Putztechniken ansprach.

„Du benutzt wohl auch keine Zahnseide? Wie meine Schwester Christine“, merkte Maria kritisch an. Obwohl es Maria gar nicht anklagend meinte und ich ebenso wie Christine in Gegenwart anderer nicht mit der Zahnseide rumspritzen wollte, fühlte ich mich in einer Rechtsfertigungsposition. Renate kam mir zur Hilfe: „Ich benutze auch keine Zahnseide.“ Worauf Maria nur antwortete: „Das habe ich mir schon gedacht.“ Mit dieser Bemerkung machte sich Maria bei Renate sehr unbeliebt. Noch am nächsten Tag regte sich Renate darüber auf. „Hat die etwa gemeint, ich habe schmutzige Zähne?“, fragte sie mich. Aber Renate war sowieso eine recht impulsive Person, weshalb andere Gefühle diesen Vorfall schnell in Vergessenheit geraten ließen. Sven war ähnlich gestrickt. Gleichzeitig war ich für ihn „der beste Camino-Freund“. Emotional überschwänglich äußerte er, dass er die Bonding-Übung am liebsten mit mir gemacht hätte. Ich hingegen hätte die Übung am liebsten gar nicht gemacht. Sven stimmte mir lachend zu.

Die 52-jährige Christine war ganz anders, zurückhaltend, gutmütig und fürsorglich. Die zweifache Mutter verstand sich mit jedem von uns gut. Sie war um das Wohlbefinden aller sehr bemüht. Und meine skeptischen Nachfragen zu katholischen Glaubenshandlungen wusste die gläubige Christine mit Empathie zu beantworten. Ihre nur wenige Jahre jüngere Schwester Maria präsentierte sich von einer besonders fröhlichen und unbeschwerten Seite, was ihrem herzlichen Charakter authentisch entsprach.

Wir waren ungleiche Freunde, die sich im Alltag nicht begegnet wären beziehungsweise sich gegenseitig nicht wahrgenommen hätten. Der Camino war der Kitt, der uns zusammenhielt.

Wir hatten ein perfektes Pilgerleben. Am Morgen standen wir um 7 Uhr auf, dann ein einfaches Frühstück, etwa acht Stunden unterwegs, nach der Ankunft duschen und Wäsche waschen, ein üppiges Abendessen in der Gruppe und Schlafengehen um 22 Uhr. Das Leben als Pilger war einfach und auf das Wesentliche reduziert, aber befriedigend.

Die frühe Schlafenszeit empfand ich nicht als Bevormundung. Vielmehr als sinnvolle Regel. Und auch wenn es ungewohnt für mich war, mit so vielen Menschen in einem Gruppenschlafsaal die Nacht zu verbringen, schlief ich sehr gut. Sogar besser als in meiner Wohnung in Berlin, die sich in einem unruhigen Mietshaus befand.

Ich fühlte mich nach nur wenigen Tagen entspannt und frei. Niemandem gegenüber zu etwas verpflichtet. Und zugleich in guter Gesellschaft. Mit diesen mir bis dato fremden Menschen war alles so vertraut. Wir waren wie eine kleine Familie. Eine Trennung wäre jederzeit möglich gewesen. Aber niemand von uns wollte das.

Auch die Zweifel an meinem Job wurden geringer. Dieser war ein zusätzlicher Stressfaktor in meiner Beziehung gewesen, weil ich auch am Abend ständig von den täglichen Herausforderungen sprach. Die berufliche Situation von Renate war das genaue Gegenteil. Als studierte Theologin langweilte sie sich am Empfang eines Bürogebäudes. Und ich erkannte, wie dankbar ich für meine Arbeit sein konnte, die zwar stressig, aber auch befriedigend und sinnstiftend für mich war.

Unser Weg führte uns durch das im 20. Jahrhundert zerstörte Guernica. Das gleichnamige Kunstwerk von Pablo Picasso über die Grausamkeit des Krieges war mir durch den Schulunterricht bestens bekannt. Das Friedensmuseum im neu errichteten Ort rief sowohl Schrecken über die Vergangenheit als auch Dankbarkeit über den Frieden im heutigen Europa in mir hervor. Selten hatte mich ein Museumsbesuch so berührt. Kulturell abgerundet wurde unsere Reise schließlich im Guggenheim-Museum in Bilbao.

Nur Renate war es vergönnt weiterzulaufen. Für uns anderen war nach 150 Kilometern in Bilbao erst einmal Schluss. Vor unserem Abflug wollten wir aber richtig ins Nachtleben eintauchen. Statt Pilgermenü gab es Pintxos und Wein. Die spanienaffine Renate klärte uns darüber auf, dass man ein oder zwei kleine Happen isst, dazu ein Glas Wein, und dann in die nächste Bar weiterzieht. Da wir noch im Baskenland waren, sollten wir auf jeden Fall „Pintxos“ sagen und nicht „Tapas“, wie im restlichen Spanien. Nach der dritten Bar waren wir dann bettreif.

Entgegen der Vermutung, dass Pilger besonders diszipliniert sind, mischten wir das gesamte Hostel lautstark auf. Am nächsten Morgen zog Renate von Tür zu Tür und entschuldigte sich auf Spanisch bei den anderen Gästen sowie dem Betreiber. Wir anderen zeigten uns von unserer besonders leisen Seite. Marias bayerisches „Ja mei“ beschrieb die Situation passend.

So viele Erlebnisse in einer Woche. Ich war in ein unbekanntes Abenteuer gestartet. Geflohen vor der Bonding-Gruppe. Meisterte 150 Kilometer ohne körperliche Beschwerden. Erlebte eine zauberhafte Landschaft. Genoss Kultur und Party mit neuen Freunden. Der Satz „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt“ hatte sich als berechtigte Aussage entpuppt. Auf dem Flughafen von Bilbao war ich erfüllt von den Erfahrungen der vergangenen Tage. Infiziert vom Pilgervirus kehrte ich in meinen Alltag nach Deutschland zurück.

1 426,81 ₽
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192 стр. 4 иллюстрации
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9783843612890
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