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Johannes Wierz

Joseph

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vincinette

Der Held von Hamburg

Geschäft ist Geschäft

Die Villa am See

Joseph Huftreter wird getauft

Schutzengel

Johanna vom See

Vom Regen in die Traufe

Wahre Freunde

Die vierte Station

My Lai

Tarnung

Kopflos

Kreuzweg

Der Ernst des Lebens beginnt

Heimkehr

Zeitsprung

Väter und Söhne

Erinnerungen

Das blaue Heft

Operationen

Vergessene Gefühle

Jagdfieber

Der ehrwürdige Pfarrer von Tamm

Paarungen

Gundis Zettel

Die letzte Station

Der Tonsammler

Rückkehr

Nichts ist so wie es ist

Ein fast perfekter Plan

Verloren

Identitäten

Verschwörung

Familienbande

Füße

Köpfe

Überraschung

Gefängnisträume

Der Brief der Mutter

Schlussakkord

Feuerwerk

Impressum neobooks

Vincinette

In der Nacht zum 17. Februar 1962 peitscht ein orkanartiger Nordweststurm über Hamburg und Norddeutschland. Mit 130 Stundenkilometern entwurzelt er Menschen, Tiere und Pflanzen - selbst vor jahrhundertealten Bäumen hat er keinen Respekt. Dächer werden zertrümmert. Der Wasserstand der Elbe steigt Pegel über Pegel. Über Ufer und Dämme. Er wird drei Meter siebenundsiebzig über dem normalen Hochwasserspiegel erreichen. Der Orkan trägt den Namen einer Frau: Vincinette, die Siegreiche.

Es ist Samstagnacht, und in einem kleinen Dorf in den Bergen liegt Maria Magdalena Huftreter in den Wehen. Es ist nicht ihre erste Schwangerschaft, aber es sind die ersten Wehen. Die zwei ersten Föten sind regelrecht in ihrem Mutterleib verfault, irgendetwas stimmt mit ihrem Fruchtwasser nicht. Aber Maria Magdalena Huftreter gehört nicht zu den Frauen, die leicht aufgeben. Die zwei Samenspender, allesamt Knechte von ihrem Hof, hatte sie nacheinander eingestellt und jedes Mal nach dem Abgang der Guten Hoffnung vom Hof gejagt. Der Erzeuger des jetzigen Kindes ist nicht bekannt, zumindest nicht in der Gemeinde und im Umland. Was nicht weiter verwunderlich ist, da Maria Magdalena Huftreter ihren Hof seit sechs Monaten nicht mehr verlassen hat. Niemand, - mit Ausnahme den Leuten auf dem Hof, - weiß etwas von ihrer Schwangerschaft. Der Pfarrer, der sich geweigert hatte, die beiden dunklen Klumpen aus ihrem Leib in geweihter Erde zu beerdigen, hatte damals von einem Omen gesprochen und zwei Messen für die Seele der Huftreterin gelesen.

„Am besten is, i näh di zua“, hatte der Landarzt zu ihr gesagt. Dr. Julius Holzer war für seine einfachen Diagnosen und sonderbaren Behandlungsmethoden weit über die Landesgrenze bekannt.

„Is besser, es weiß niemand was“, hatte Maria Magdalena geantwortet. Mit einer Bestimmtheit, die den Landarzt zum Verstummen gebracht hatte. Vielleicht war es ihr durchdringender Blick gewesen, der ihn zurück ins Tal trieb. Vielleicht aber auch die Siegesgewißheit in ihrer Stimme.

Die Deiche brechen. Gurgelnd und schäumend bahnt sich das gefräßige Wasser einen Weg hinter die Deiche. Es verschlingt alles, lässt ein paar Güterzüge entgleisen und überschwemmt nebenbei 20 Prozent des Hamburger Stadtgebietes. Den Hamburger Hafen flutet es im Vorbeigehen. Allein im Stadtteil Wilhelmsburg werden über Nacht 73.000 Menschen obdachlos, 12.000 Hektar Land stehen unter Wasser.

Maria Magdalena liegt in ihrem nassen Bett und hat das Gefühl, es zerreiße sie. Gundi, die Magd steht neben dem Bett, stiert blöde und lallt etwas von einem Kälberstrick. Elisabeth, könnte helfen, aber sie ist nicht da. Sie ist schon seit Stunden fort, um die Hebamme zu holen. Die Gundi ist erst vierzehn, spricht nicht viel, kennt sich aber in der Anatomie recht gut aus. Mit einem Schwamm versucht sie, das Blut aufzusammeln, das sie in einem Eimer wieder auspreßt. Ansonsten tut sie nichts und betrachtet die blutspeiende Öffnung der Bäuerin. Die Huftreterin schnauft heftig und verdreht die Augen. Aber sie ist keine, die schnell aufgibt. Ein Sturkopf wie ihr Vater, der, als der Kirchenwirt ihn herausgeschmissen hatte, mit dem Kopf durch die Wand wieder zurückkam. In diesem Fall durch eine schwere Eichentür. Er machte solch einen Krawall, dass der Wirt ihm wieder Einlass in das nach Bier und Urin stinkende Loch gewährt hatte. Mit blutigem Kopf hatte er wieder Einzug gehalten, triumphierend und torkelnd. Mit seinem Dickschädel hatte er nicht nur den Willen des Kirchenwirts, sondern auch die schwere Eichentür gebrochen, was naturgemäß nicht ohne Folgen blieb. Die Schädeldecke war näher an sein Gehirn gerückt und drückte auf die Nervenbahnen. Mitten im Gehen konnte es passieren, dass er urplötzlich stehenblieb, steif wie ein Brett wurde, und - wenn der Wind ihn richtig erwischte, - einfach der Länge nach hinfiel. In diesem Zustand hatte er sich zweimal ein Stück seiner Zunge abgebissen, fünfmal den Kiefer ausgerenkt und siebenmal die Nase gebrochen. Da die Verletzungen nie so schnell verheilen konnten, wie ein neuer Anfall bevorstand, lief der Huftreter Adolf immer mit einem geschwollenen Kopf herum, einer Warzenmelone nicht unähnlich. Die alten Fahrradschläuche, die um seinen Schädel gebunden waren und einen Sturz zumindest lindern sollten, taten ihr übriges zu seinem recht seltsamen Aussehen.

Ein paar Pilzsammler fanden ihn schließlich bei einer Bank mit offenem Mund. Nicht etwa auf ihr sitzend, sondern in einem Winkel von fast 90 Grad wie einen vergessenen Wanderstock daran angelehnt. Er schaute ein wenig verwundert in die Welt und wollte sich nicht dazu bewegen lassen, sich zu setzen. Selbst im Tod hatte er nicht von seinem Starrsinn verloren.

„Nein und nochmals nein! So kann ich ihn nicht einsargen“, hatte der Schäfer Josef, der Schreiner und Bestatter des Ortes, gejammert. Und sich bei Maria Magdalena die Erlaubnis und beim Pfarrer den Segen geholt, dem Adolf sämtliche Glieder zu brechen, damit er endlich in die Holzkiste passte.

„Meinen Erstgeborenen werd ich nach dir nennen“, hatte die Huftreterin dem Dorfschreiner versprochen und ihm nach der Beerdigung einen trockenen Kuss auf seinen Stoppelbart gedrückt.

„Na, wenn’s denn in Gottes Namen sein muss“, hatte der Schäfer Josef gegrummelt, und noch ehe er sich bekreuzigen konnte, war ein gewaltiger Blitz hernieder gegangen, der die Kirchenbirke wie eine Banane schälte, und ein Regen hatte eingesetzt, dass man den grob gehobelten Sarg des Huftreter Adolf mit Steinen beschweren musste, damit er nicht von den ins Tal drückenden Wassermassen weggeschwemmt wurde.

Während in dieser Nacht 312 Menschen im Hamburger Elbgebiet ertrinken oder erfrieren, im niedersächsischen Küstenbereich 19 Menschen ums Leben kommen und die Freie Hansestadt Bremen sechs Tote zu beklagen hat, ist man im einzigen Gasthaus des Dorfes guter Dinge. Die Burschen saufen, was die Blase hält, und selbst an der angerosteten Pissrinne im Hof ist die Stimmung groß. Nutzlose leicht erigierte Schwänze schauen sich an und wollen nicht wahrhaben, dass das für einen Samstag alles gewesen sein soll.

Außerdem ist Fasching und somit ziemlich alles erlaubt. Da kommt die Elisabeth auf ihrem klapprigen Fahrrad gerade recht. Der Johann Ganser ist der erste, der auf sie drauf darf. Immerhin hat er sie in einem gewagten Hechtsprung von hinten angefallen, zu Boden gerissen und ihr dabei das Nasenbein gebrochen. Was soll’s, sagen sich die Burschen und lösen grinsend ihre Gürtel, die Elisabeth ist ohnehin nicht die schönste. Und auf die vierzig geht sie auch schon zu.

„Na, und wie ist sie?“ wollen die anderen wissen und schauen in das verzerrte rot anlaufende Gesicht des Johann Ganser. Er stöhnt begeistert, bevor er kommt und die Elisabeth für den nächsten frei macht. Brav stellen sich die Burschen des Dorfes und des Umkreises in einer Reihe auf, wie die Kühe, wenn sie abends in den Stall geführt werden. Auch der Wirt, der hinter dem Fenster steht und sich abwechselnd seinen Bauch und seinen Kopf kratzt, ist Zeuge der Vergewaltigung, die genau siebenunddreißig Burschen an der Elisabeth vollziehen wollen. Für den Wirt bedeutet das naturgemäß Einbußen. Da aber alles auf seinem Grund und Boden geschieht, beschließt er für den heutigen Abend einen Aufpreis zu nehmen.

Wahrend ein gewisser Walter Großmann, seines Zeichen Binnenschiffer, mit seinem Beiboot über einen überfluteten Hamburger Kleingartenverein schippert und fünfzig Menschen das Leben rettet, spritzt es aus Maria Magdalena Huftreter wie ein Springbrunnen. Gundi rudert hilflos mit den Armen, bringt nur laute Lalltöne heraus und fängt, so wie es ihre Art ist, an zu seibern. Wie der Hofhund Kranzmann, der hereingetrottet kommt, als sie die Tür öffnet, sich müde auf das Bett quält und das blutfeuchte Laken ableckt, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt.

Als Gundi barfuß das Haupthaus verlässt, um in den Stall zu laufen, kommt ein starker Wind auf, und dicke schwere Tropfen fallen auf ihre nackten Füße. Zum Glück ist der Stall nicht sehr groß und alles schnell bei der Hand. Kälberstrick, frisches Stroh, ein scharfes Messer, - mehr fällt der Gundi nicht ein, aber das ist für sie schon sehr viel, vor allem, weil sie so aufgeregt ist. Auch sonst kann sie sich höchstens eine Sache merken und das auch nicht immer. Den Kälberstrick wie ein Alpinist geschultert, kehrt sie mit ihren Werkzeugen zurück in die Kammer, wo Maria Magdalena Huftreter nicht mehr schreien kann. Die Hälfte ihrer Stimmbänder scheint gerissen. Sie glaubt schon das große, gleißende Licht zu sehen. Alles in allem kein gutes Zeichen. Gundi scheucht den leckenden Hund vom Bett, bekreuzigt sich und macht sich an die Arbeit.

Aufgeregt berichtet der Binnenschiffer Walter Großmann von dem, was er alles gesehen hat: Die Sträucher voller Leichen, auf einem Baum ein Taxifahrer mit seinem Fahrgast. Inzwischen sind rund 100.000 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen. Die Innenstadt von Hamburg ist bis zum Rathaus hin überflutet.

Gundi spürt die kleinen Füßchen des Kindes. Aber müsste da nicht der Kopf sein? Elisabeth, die ältere der Huftreter Töchter, liegt neben der rostigen Pissrinne und hat aufgehört eine Frau zu sein. Es regnet in Strömen, und die Burschen haben von ihr abgelassen. Der vierunddreißigste wäre der Servatius gewesen. Auch die anderen Namen hat sie sich gemerkt. Mag sie auch unten tot sein, ihr Kopf ist noch nie so klar gewesen wie in dieser Stunde.

Gundi versucht, ein Lied anzustimmen, während sie mit ihren Händen immer tiefer in Maria Magdalena eindringt, um nach dem Kopf des Kindes zu forschen. Aber sie kann sich nun mal keine Melodie und schon gar nicht einen Text merken. So beginnt sie, spontan zu komponieren und fiept wie ein Delphin, während sie in Blut und Schleim herummatscht und eine Stelle sucht, um den Kälberstrick anzubringen.

Maria Magdalena Huftreter glaubt unterdessen in einem Dom zu liegen. In ihrer Nase kitzeln Weihrauch und der Duft von verwelkten Nelken. Kalt ist ihr, - was kein Wunder ist,- denn sie liegt auf dem kalten Steinboden und starrt auf das barocke Deckengewölbe. Das blasse, jetzt immer heller werdende Licht hinter den gemalten Wolken kommt ihr vor wie eine Landebahn für Engel. Es ist ein Junge, der da in die Welt will, das spürt sie ganz genau. Den Hof soll er einmal übernehmen. Ein guter fruchtbarer Grund ist das, hinter dem so mancher unten im Dorf her ist. Sie schreit ein paar Namen durch die Kuppelhalle des Domes und die zwei Seitenschiffe. Sie lässt keinen aus. Dann spürt Maria Magdalena Huftreter eine Erleichterung. Sie hört das Meer rauschen, obwohl sie in ihrem ganzen Leben das Meer nie gesehen hat, geschweige denn weiß, was eine Brandung ist. Sie spürt es, fühlt sich selbst als Welle, die sich über die gesamte Breite des Strandes ergießt. Gundi hantiert mit dem scharfen Messer. Sie meint, es so oder ähnlich bei Renata, ihrer Lieblingskuh, gesehen zu haben. Nur, dass da der Tierarzt im Stall gewesen war, und mit seinen geschickten Händen an dem trächtigen Rindvieh herumgeschnitten hatte. Oder war es der Schlachter aus dem Dorf gewesen, dessen Name ihr jetzt nicht einfällt? Wenigstens schreit die Bäuerin jetzt nicht mehr. Maria Magdalena Huftreter beschließt, im Dom zu bleiben. Die Akustik ist hier bei weitem besser als in der Kammer. Nur die Kälte des Steinbodens macht ihr zu schaffen. Längst können Laken und Strohmatratze das Fruchtwasser und das Blut nicht mehr halten. Kleine Rinnsale haben sich auf den rauhen Holzdielen gebildet, formieren sich zu einem Delta, um letztendlich als zäher Schaum in den Ritzen zwischen den Dielen zu verschwinden. Gundi schnippelt mal oben, mal unten. Wie einen Reißverschluss öffnet sie die Bäuerin. Aber es reicht nicht aus, um das Kind im Bauchinneren zu drehen. Zu allem Unglück scheinen sich jetzt auch noch die Beinchen verkeilt haben. Überhaupt bekommt die Gundi so viel Fremdes zu fassen, mit dem sie überhaupt nichts anzufangen weiß. Natürlich kann sie einen Fisch ausnehmen, ein Huhn oder eine Gans, aber die Bäuerin ist doch was ganz anderes. Die Bäuerin kommt ja nicht in den Topf oder in den Ofen. Bei diesem Gedanken muss sie lachen. Jetzt fängt die Bäuerin wie eine Sau an zu grunzen. Vielleicht liegt es daran, dass Maria Magdalena glaubt, im Dom der Taufe ihres Sohnes beizuwohnen. Sie seufzt vor Rührung. Alle haben sie ihre schönsten Kleider angezogen. Das ganze Dorf steht um das steinerne Taufbecken und lauscht den lateinischen Worten des Bischofs. Nur ein Augenaufschlag später spielt die große Orgel auf und lässt ihren Jungen zusammen mit den Kindern aus dem Dorf nach vorne an den Altar zur ersten Heiligen Kommunion schreiten. Als ihr Junge heiratet, steht sie in einem Seitenschiff etwas abseits. Sie hat das Gefühl zu schmelzen und immer kleiner zu werden. Joseph-Nepomuk-Baptist Huftreter wird ein gutes und erfülltes Leben führen und seine Mutter immer in Ehren halten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Maria Magdalena Huftreter auch noch das Finale des Orgelspielers gehört hat. Gundi zumindest glaubt sogar noch himmlische Geigen zu hören, als sie den kleinen blutunterlaufenen Kerl in den Armen hält, der seinerseits die Welt mit einem kräftigen Geschrei begrüßt. Am anderen Ende der Nabelschnur hängt ein blutiges klumpiges Etwas, mit dem Gundi nichts anzufangen weiß. Sie schneidet es ab und wirft es dem Hund hin, der begeistert daran schnüffelt.

Als Elisabeth in den Morgenstunden mit Müh und Not den Hof erreicht, glaubt sie, mit ihren fast vierzig Jahren, alles erlebt und gesehen zu haben, zumindest bis sie die Schwelle des Haupthauses überwunden hat.

„Aaaan Hunge, aaan Hunge“, lallt die Gundi zur Begrüßung und hüpft barfuß durch den Flur. Sie sieht aus wie ein Metzger, der in die Blutwanne gefallen ist. Elisabeth, selbst durch Sturm und Regen gezeichnet, ganz zu schweigen von dem unglaublichen Vorfall an der rostigen Pissrinne des Kirchenwirts, ist für einen Moment beruhigt, als sie oben das Kind schreien hört. Sie geht zunächst in die Küche, um ihre nassen Kleider auszuziehen, sie am Ofen zu trocknen und sich selbst ein wenig aufzuwärmen. Bevor beide jedoch zur Bäuerin nach oben gehen, damit Elisabeth ihre Schwester in die Arme schließen und beglückwünschen kann, stärkt sie sich mit einer Tasse heißem Kräutertee, nimmt das abgegriffene blaue Haushaltsbuch aus der Tischschublade und schreibt die Namen der Burschen auf. Und so stehen neben einem Sack Saatgut, Schrauben, Melkfett und Küchennatron, die Namen derer, die Elisabeth, - und nicht nur ihr, - den 17. Februar 1962 so richtig versaut haben. Sie ist in einem regelrechten Rausch und schreibt statt der siebenunddreißig Burschen, von denen dreiunddreißig Hand an sie gelegt haben, fünfundsechzig Namen auf. Beim sechsundsechzigsten Vornamen aber stockt sie und starrt auf den großen Blutklecks, der sich plötzlich zwischen den freien Linien gebildet hat. Zuerst denkt sie an ihre doppelt gebrochene Nase, die ihr der Hubertus Haderer zugefügt hat, als sie ihm in sein schiefes verzerrte Gesicht gespuckt hatte, dann an ihre beiden ausgeschlagenen Zähne - verursacht durch die Gebrüder Wilderer, - die nichts allein machen können. Sie greift sich an ihre geschwollene Nase und spuckt in ihre rauhen Hände. Aber außer ein paar Abschürfungen, die mit Dreck gefüllt sind, ist nichts zu sehen.

Da!

Ein neuer Blutklecks auf den groben Seiten des Haushaltbuches. Instinktiv schaut sie nach oben und sieht an der geweißelten Lehmdecke den dunklen Fleck, der die Größe eines Kuhfladens hat. Sie schließt die Kladde, und im selben Moment platzt eine Blutblase auf die blaue Kartonage des Haushaltheftes.

Elisabeth bekreuzigt sich und macht sich auf den Weg nach oben. Die Dielen knarren unter ihren Füßen, die ihr mit einem Mal bleischwer vorkommen. Am Treppenende lehnt die halbnackte Gundi, die mit wiegenden Bewegungen das Neugeborene an sich drückt. Wie sie da so steht, mit ihren wilden Haaren und den dürren Beinchen, sieht sie aus wie ein Waldschrat mit seinem Jungen. Die beiden ähneln sich auf gespenstische Weise und Elisabeth fährt ein Stich durch die Brust. Der kahle Kopf des Kleinen ist viel zu groß und dabei zu lang geraten, der restliche Körper ein mickriger Knochenhaufen. Nur die Füßchen, die aus Gundis rechter Armbeuge wachsen, sind normal. Aber viel zu groß im Vergleich. Der kleine Kobold liegt reglos da, lutscht am Daumen und schaut Elisabeth staunend an. Sie bekreuzigt sich und öffnet langsam die Tür zur Kammer ihrer Schwester. Ein paar Fliegen brummen. Die Kommode mit dem Frisierspiegel, der Schrank, alles steht an seinem Platz. Der Hund kommt herausgetrottet und schaut trotz seiner blutverschmierten Schnauze unschuldig aus. Was die Huftreter Elisabeth dann zu Gesicht bekommt, übertrifft all’ ihre Vorstellungskraft. Die Bauchdecke ist nicht gerade fachmännisch aufgeschnitten worden. Die Enden der Haut und die Fettlappen sind ausgefranst wie bei einer alten Pferdedecke. Das Innere scheint in Unordnung wie der Wühltisch im Kaufhaus beim Schlußverkauf. So ganz genau will sich die Elisabeth ihre Schwester auch nicht anschauen. Sie tritt ans Bett und schließt der Maria Magdalena Huftreter für immer die Augen.

Der Held von Hamburg

David Engel war, wie die letzten Jahre auch, allein aus Den Haag nach Deutschland gekommen. Vor drei Jahren war seine Frau Aline mit den beiden Kindern Francois und Jean ausgezogen. Sie hatte es ihm in einem eher sachlich gehaltenen Brief mitgeteilt, sich freundlich für viele schöne Stunden und die wohlgeratenen, gesunden Kinder bedankt. Die schrecklichen Bilder, die die Gräueltaten des Milosevic-Regimes dokumentierten und überall an den Wänden der Wohnung, mit Ausnahme des Kinderzimmers, hingen, hatte sie ihm mit getrennter Post geschickt. Seit Monaten hauste er in einem primitiven Zelt am Rande eines kleinen Dorfes im Kosovo, um Ausgrabungen von Massengräbern für das Internationale Tribunal in Den Haag zu dokumentieren. David konnte Aline diesen endgültigen Schnitt nicht einmal verdenken. Natürlich tat ihm alles unendlich leid. Aber er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Da waren Kollegen, Opfer, Hinterbliebene, eine Weltöffentlichkeit, die er nicht im Stich lassen und denen er die Wahrheit nicht vorenthalten durfte. Seit fast zwei Jahren hatte er seine Frau und die Kinder nicht mehr gesehen. Ein paar kurze Telefonate, die größtenteils aus einem langen Schweigen zwischen den Worten bestanden oder angefangene Briefe, die regelmäßig irgendwo in den losen Papierstapeln seiner Unterlagen verschwanden, bevor er sie zu Ende bringen und abschicken konnte. Er fühlte sich als schlechter Vater und als miserabler Ehemann.

Der Mutter würde er es diesen Sommer sagen. In aller Klarheit, vor allem, dass er für seine Familie keine Zukunft mehr sah und es folglich auch kein Zurück mehr gab. Eine Scheidung wäre für alle Beteiligten sicherlich das vernünftigste.

Unrasiert, die langen dunkelblonden Haare nach hinten gekämmt, und in einem weißen Leinenanzug steckend, dem eine gründliche Reinigung und Glättung gut täten, bahnte er sich mit seiner einem Seesack ähnelnden ledernen Reisetasche einen Weg durch die Masse der mit ihm angekommenen Reisenden.

Er zeigte den Sicherheits- und Zollbeamten seinen Diplomatenpass, der ihn als Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs von Den Haag auswies und verließ so ohne Vorkommnisse und unnötige Wartezeit die Sicherheitszone des Flughafens.

Auf den verschiedenen Ebenen der Ankunftsterminals tummelten sich bewaffnete uniformierte Sicherheitsbeamte. In ihren Gesichtern dieser maskenhafte Ausdruck von Wichtigkeit. David schaute sich um und musste ein wenig lächeln über soviel Naivität. Oder war es Gleichgültigkeit, Unvermögen oder das Bewusstsein der Ohnmacht, im Ernstfall ohnehin nichts ausrichten zu können?

Denn eines wurde selbst dem Laien auf den ersten Blick deutlich: Für einen Attentäter wäre es ein Leichtes, auf diesem Flughafen eine Bombe zu platzieren.

In der benachbarten Kuppelhalle des Abflugterminals herrschte reges Treiben. Tausende von Urlaubern waren hier in kollektiver Hektik und Vorfreude auf die schönsten Tage im Jahr versammelt. Er aber wollte sich die Folgen eines Anschlages, die Katastrophe, nicht ausmalen.

David stieg in eins der wartenden Taxis vor dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen, murmelte eine Adresse in Richtung Fahrer und ließ sich müde auf die hintere Sitzbank fallen. Zweimal musste er dem Taxler die Adresse wiederholen. Immerhin ging es um eine Fahrzeit von anderthalb Stunden - wenn man gut durchkam. Jetzt zur Haupturlaubszeit würden sie mindestens zwei bis drei Stunden benötigen.

David hatte, wie die Tage zuvor, auch in der letzten Nacht schlecht geschlafen. Das ferne Rauschen der Stadtautobahn, die Düsen der Transportmaschinen, die über seinem Hotel eine Acht zu fliegen schienen, reichten aus, ihn hellwach in seinem Bett zu halten. Und so hing er, statt zu schlafen, seinen Gedanken nach.

Da waren Stimmen, Kindergelächter, ein menschenleeres Dorf, in dem es immer noch nach verbrannten Ziegeln und TNT roch. Wie waren die Menschen abtransportiert worden?

Auf den Gemüseanhängern der Traktoren, mit dem Linienbus, der morgens und abends im Dorf gehalten hatte? Düstere ins Zweifeln mündende Gedanken, die ihn erst in der Dämmerung des neuen Tages einschlafen ließen. Was trieb Menschen, die früher einmal Nachbarn gewesen waren, zu solchen Gräueltaten?

Keine zwei Stunden später wurde der Verkehr vor seinem Hotel immer dichter, ohne dass David eine befriedigende Lösung für sich gefunden hatte. Der neue Tag hatte nun endgültig begonnen.

Er überlegte, seine Mutter anzurufen und ihr endlich zu sagen, dass er sich schon vor drei Jahren von seiner Frau getrennt hatte.

„Du sollst nicht immer Mama zu mir sagen“, hatte sie ihm geantwortet und das Runzeln ihrer Brauen in ihre Stimme gelegt. „Das andere möchte ich überhört haben. In Angedenken an deinen Vater erwarte ich von dir Haltung. Dein Vater hätte mich nie freiwillig verlassen!“

Es gab kaum Situationen, in denen sie nicht seinen Vater erwähnte.

David nahm ein Foto aus seiner ledernen Reisetasche, das seinen Vater in Uniform an einen Jeep gelehnt zeigte, in dem zwei farbige Soldaten bis an die Zähne bewaffnet saßen. Eigentlich eine archaische, fast bedrohlich wirkende Szene, wäre da nicht das leicht spitzbübische Lächeln des Vaters, der über alles erhaben zu sein schien.

Es gab verschiedene Versionen über den Tod von Johannes Engel, den sie alle, außer im Beisein seiner Frau, Johnny genannt hatten. Johnny, der Haudegen, ein Tausendsassa unter den Fotografen, der für alle Presseagenturen der Welt gearbeitet und in den zwanzig Jahren seines Schaffens ein Vermögen verdient hatte. Dass der 18. Februar 1962 sein Todesdatum gewesen sein soll, war das umstrittenste Detail in den Versionen über das Ableben von Johnny. Naturgemäß gab es viele, die ganz andere Mutmaßungen angestellt hatten.

„Johnny hatte nur nach einer Gelegenheit gesucht, sich aus dem Staub zu machen. Der 18. Februar war ein gutes Datum, seine Spuren für immer zu verwischen!“ sagten die einen.

„Hey, der Johnny lebt auf einer Insel in der Karibik, betreibt dort ein wenig Hochseefischerei für die Touristen und macht jedes Jahr einer anderen Inselschönheit ein Kind!“ sagten die anderen und grinsten dabei.

In den ersten Jahren nach seinem spurlosen Verschwinden tauchten immer wieder Fotos auf, - diesmal nicht von, sondern mit ihm. Grand Prix in Monte Carlo, der braungebrannte Typ mit den Flachshaaren an der Seite von Gracia Patricia, sapperlot war das nicht unser Johnny?

Und der Typ mit der Schneebrille, der in die Kamera winkt, bevor es halb links zum Mount Everest geht, dieses Grinsen, war das nicht das typisch unverkennbare Johnnygrinsen?

Nachdem sich David Engel fast dreißig Jahre mit dem seltsamen Verschwinden seines Vaters beschäftigt hatte, war ihm mittlerweile, die Version seiner Mutter am liebsten. Eine glatte, runde, heroische Geschichte, die sie immer in all den Jahren am Jahrestag des 18.Februars vor dem leeren Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg zum Besten gab. Niemand konnte es mehr hören. Die Verwandtschaft nicht, die Vertreter der Stadt nicht, der Pastor nicht und David – wenn er ehrlich war – erst recht nicht mehr. Wenn etwas von einem Menschen bleiben würde, dann ohnehin nur seine Legenden, dessen war sich David sicher. Sein Beruf hat ihn das gelehrt, und er glaubte nach all den Jahren vor allem eines: Nichts hält sich länger als eine gute Lüge.

Mutters Geschichte begann in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar. Sie faltete die Hände hinter den Rücken, senkte ihre Stimme und blickte auf den Kiesboden vor der Gräberreihe. Nachdem sie sich gesammelt hatte, blickte sie den treuen Trauergästen in die Augen – jedem einzelnen – und begann zu erzählen:

„In den frühen Morgenstunden hat er mich geweckt und mich gefragt, ob ich es auch höre. Draußen tobte ein Orkan, müsst ihr wissen. Der Deich, der Deich ist gebrochen, hat er gesagt, sich angezogen und war mit dem Auto fortgefahren. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe!“

Allein bis hierher konnte die Geschichte auf keinen Fall stimmen, denn Johnny, der in Barkreisen von allen professionellen Säufernasen dieser Welt auch der Walker gerufen wurde, hatte erst am späten Vormittag mit nassen Füßen die Bar des Atlantic verlassen. Dafür gab es genügend glaubwürdige Zeugen. Auch die Aussage eines Freudenmädchens, das sich Chantal nannte und ihn noch am 18. bedient haben wollte, schien glaubwürdig.

„Der letzte Fick vor’m Höllenritt“, soll er gelallt haben, hatte sie zu Protokoll gegeben und damit Furore gemacht.

Für David durchaus vorstellbar. Für die Mutter nicht einmal anhörenswert.

„Er ist mit einem Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes in den frühen Morgen hinaus und hat das ganze Elend fotografiert. Da war dieser Bauernhof mit den Leuten auf dem Dach. Die Frau mit dem Säugling, so alt wie sein eigenes Kind, denen hat er das Leben gerettet und ist dann heldenhaft zurückgeblieben. Was vom Senat der Stadt Hamburg und der Bundesrepublik Deutschland posthum mit einem Orden bedacht worden ist.“

David Engel war sich sicher, dass die Erklärung für die Auszeichnungen durch Land und Staat eher in der geheimen Kammer in der Villa am See zu suchen war. Dort lagerten unzählige Negativfilme, die bereits bei einer ersten flüchtigen Sichtung selbst dem Laien klar gemacht hätten, dass sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

Zudem war die Mutter vom 17. auf den 18. Februar überhaupt nicht in Hamburg, sondern auf dem Anwesen in den Bergen am See gewesen. Dafür gab es mehr als ein Dutzend Zeugen.

Charlie, das Knautschgesicht soll seinerzeit den Bundesgrenzschutzhubschrauber geflogen haben.

„Johnny war wie immer voll. Wie dreißig Kompanien zusammen.“ hatte er David erzählt und eine gute Geschichte draus gemacht. „Als wir das erste Mal mit meiner Kiste das überschwemmte Gebiet überflogen hatten, glaubte er in seinem Suff, in Indochina zu sein. Tiefer, geh tiefer, hat er gegen den ohrenbetäubenden Lärm der knallenden Rotorblätter geschrieen. Er hat den Finger überhaupt nicht mehr vom Auslöser gelassen. Ja und dann Junge, musst du bedenken, die Sicht war nicht besonders. Die scheiß Krone von dieser Ulme habe ich zu spät gesehen; und ich musste mich dann innerhalb einer Hundertstelsekunde entscheiden. Links oder rechts abdrehen. Ich hab den Vogel halt rechts hochgezogen und bin dann nach fünf Uhr abgedreht...“

Dass Charlie rechts gesessen hatte, konnte sich David denken.

Ende der achtziger Jahre hatte David dann sogar nach seinem Vater graben lassen. Unter Berücksichtung der Angabe des Piloten und der Strömung rechnete er ein Planquadrat aus und ließ es von der freiwilligen Feuerwehr und der Marinejugend des benachbarten Ortes umgraben. Außer ein paar verrosteten Mofas und Fahrrädern, Öl- und Giftfässern ohne Etiketten, Katzenskeletten in Plastiktüten und diversem, anderem Unrat fand sich aber kein neuer Anhaltspunkt. Darüber konnten selbst ein paar leere Whiskyflaschen, die durchaus aus der Zeit um 1962 stammen konnten, nicht hinwegtäuschen.

Wahrend der olympischen Spiele 1972 in München tauchte eine von Johnnys drei verschwundenen Kameras wieder auf. Bei einem Trödler in Schwabing hatte Charlie, das Knautschgesicht, Johnnys Initialen im Inneren des Gehäuses entdeckt, die verrostete Kamera für überteuertes Geld gekauft und Davids Mutter nachträglich zum zehnten Todestages ihres Mannes geschenkt.

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9783738004991
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