Читать книгу: «Wie die Milch aus dem Schaf kommt»

Шрифт:


verlag die brotsuppe

Johanna Lier

Wie die Milch aus
dem Schaf kommt

Roman

verlag die brotsuppe

Für Lenny, Brigit und Clara.

Obwohl die Geschichte sich der Besonderheiten und Örtlichkeiten von Erinnerungen und Biografien der beteiligten Personen bedient, ist «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» eine Erfindung. Und obwohl es tatsächlich Vagabunden gab – insbesondere einen Yuter aus Kupiškis –, die in Donzhausen eine Nudelmanufaktur gegründet haben, und obwohl die Erzählerin sich tatsächlich in der Ukraine und in Israel aufgehalten hat, sind die Abenteuer der Selma Einzig ein Fantasieprodukt.

Selma. Kind der Marielouise, Kind der Pauline, Kind der Berta, Kind der Nelly, Kind der Bithia, Kind der Hannah, Kind der Charna, Selma, Glied einer langen, unzerreissbaren Kette, die sich dem Planeten um den Hals legt, auf die weiten Landstriche, in die tiefen Täler und Sümpfe, die Seen und ruhig dahinfliessenden Flüsse, auf das weich gewellte Hügelland, um die hohen Gebirge, in die Steppen und dunklen Wälder, Selma, Glied einer Kette, die dicht bevölkerte Städte, von Bauern bewohnte Dörfer oder auch menschenleere Gehöfte aneinanderreiht, die Tiere umschlingt, Wölfe, Bären, zeternde Gänse, Füchse, Dachse, Wiesel, Eichhörnchen und all die unzähligen Vögel, im Frühling die Amseln, im Sommer die Lerchen, im Winter die hämmernden Spechte und Häher. Selma, Glied einer langen Kette, die Landschaften und Zeiten verbindet, die durch düstere Kanäle zieht und unvermutet an der Oberfläche auftaucht.

Die Winter sind eisig, wenn das Blau des Himmels knirscht. Und der Schnee sich in den Bäuchen der Säuglinge bläht.

Inhalt

1831. Zamość. Russland

2010. Zürich. Schweiz

20. Juli. Zürich – Wien

21. Juli. Wien

22. Juli. Wien

23. Juli. Wien

24. Juli. Wien – Košice

25. Juli. Košice

26. Juli. Košice – Lemberg

30. Juli 2010. Lemberg

5. August 2010. Lemberg

10. August 2010. Lemberg

12. August 2010. Lemberg

16. August 2010. Lemberg

19. August 2010. Lemberg

20. August 2010. Lemberg

2010. Staryi Sambir. Ukraine

1841. Sambir. Königreich Galizien und Lodomerien (Österreich-Ungarn)

2010. Tel Aviv. Israel

1842. Kradolf und Sulgen. Schweiz

liste der dokumente, schriften, kladden, bücher und gegenstände in paulines kiste:

1842. Donzhausen. Schweiz

1843 – 1847. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz

1854 – 1857. Donzhausen. Schweiz

1876. Donzhausen. Schweiz

1882. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz

1894. Donzhausen. Schweiz

2010. Tel Aviv. Israel

29. November. Tel Aviv

Danke!

Beschreibungen, Aussagen und Zitate:

Die Autorin

1831. Zamość. Russland

In der Stube fand Hannah den Selbstgebrannten. Sie zögerte. Als sie aber Petriks Stimme vernahm, der im Stall fluchte, stürzte sie sich auf die Flasche, zog den Korken und soff, lief aus dem Haus, torkelte durch den Schnee, diese flockige Masse, warf sie in die Luft, liess sich fallen, und als sie die heisse Wohligkeit in der Brust fühlte, lachte sie, riss sich die Lumpen vom Leib und wühlte den mageren, erhitzten Körper ins kalte Bett.

Und über dir, liebe Hannah, strahlte, so weit das Auge reichte, der Himmel und prustete dir ins Gesicht. Und du bohrtest deine Sinne, ja die ganze Kraft deiner Gefühle in dieses tiefblaue Gewölbe, in diese Liebe, eine grosse Liebe, die du andauernd anschauen, nicht mehr aus dem Blick lassen wolltest, auffressen, verdauen, behalten und nicht mal scheissen, nur bei dir behalten, für immer behalten, so ging es dir mit diesem Himmel, der Wölkchen pustete und Vögel in alle Richtungen verschickte, allein zu deinem Vergnügen. Dein Atem stockte, nicht vor Angst, nein, vor Freude, und die kleine Brust zersprang.

Doch der trockene Schnee hielt dich gerade noch rechtzeitig zusammen. Wie damals, als der riesige Körper mit der warmen Haut über den kräftigen Knochen und der pralle Hügel mit der schrumpeligen Spitze sich deinem Mund näherten. Du wusstest von dieser Süsse, bevor du deine Lippen darum legtest. Und du schlossest die Augen, drücktest mit der Zunge die Warze an den Gaumen, bis die warme Flüssigkeit herausfloss und dein Inneres mit Ekstase füllte und die Augen langsam in die Dunkelheit kippten. Wenn du Glück hattest. Denn es konnte geschehen, dass eine Hand dir die Warze aus dem Mund zog und kratziger Stoff sich zwischen dich und die ersehnte Wärme schob, und du, beiseitegelegt, abgelegt, aus dem Weg geräumt wie eine unnötige Last, ein lästiges Bündel. Und du spürtest das Gewicht deines Körpers, die Härte der Unterlage, die Anstrengung deiner Haut, die sich abrackerte, um die Wärme zu halten, damit die Kälte dir nicht das Leben aus deinem Leib fressen konnte, wie im Stall am Koben die Schafe das Heu. Und dein Herz klopfte empört.

So lagst du da, auf die Geräusche lauernd, deine Aufmerksamkeit auf das mächtige Wesen gerichtet, das sich in regelmässigen Abständen näherte und entfernte.

Doch so wie das Meer ohne Wind keine Wellen kennt – ohne Zurückweisung hättest du nie deine Arme verlangend ausgestreckt.

Und obwohl du den drängenden Wunsch verspürtest zu verschwinden. Ich will weg, ich bin verhasst, ich bin verdreckt, ich bin geschwärzt wie die russigen Töpfe in Blankas sauber gescheuerten Händen … Blanka, die mich liebt, Blanka, in deren Augen ich überlebe und bei der ich trotz der Schläge und Tritte von Petrik und der grabschenden Finger des blöden Knechts jeden Morgen erwache … Und obwohl Hannah den drängenden Wunsch verspürte zu flüchten, fürchtete sie, Blanka zu verlieren, und so lag sie im Schnee, still, und schlief ein.

Wortlos stiess Blanka das halbwüchsige Mädchen ins Haus, starrte einen Moment auf den schmutzigen Fussboden, hob die langen Arme und verprügelte Hannah, liess ihre Fäuste auf Kopf, Rücken und Po des Mädchens fallen, gezielte Schläge, und Blanka, gewohnt, das Notwendige zu tun, ohne dabei etwas zu fühlen, wunderte sich über die Heftigkeit ihrer Wut.

Sie liess von Hannah ab und verzog sich in den Stall, um das Pferd zu striegeln, die Kühe zu melken und ihre verhängnisvolle Entscheidung zu verfluchen. Warum hatte sie das Kind am Leben gelassen und zwölf Jahre bei sich behalten? Auch war sie angesichts ihres gewalttätigen Ausbruchs verwirrt, da sie die Erinnerung an ihre Eltern, die sanft und bescheiden gewesen und nie die Hand gegen sie erhoben hatten, über den gebotenen Respekt hinaus hochhielt. Und, was die kleine Hannah betraf, sie sich bemühte, das Mädchen vor der Gewalt der Männer, dem eigenen Sohn Petrik und dem blöden Knecht, in Sicherheit zu bringen.

Es waren aber die Dämonen der Geschichte, die ihr das Kind verdarben. Dieses Kind, das die Frau, die den Namen Charna trug, aus dem litauischen Kupiškis mitgebracht und bei ihr im russisch-polnischen Zamość abgeladen hatte.

Das Haar schimmerte und die Augen leuchteten. Schwarz. Charna, was die Schwarze bedeutete, so viel wusste sogar sie, die ungebildete Bäuerin mit dem Namen Blanka, die Helle, die nicht viel in der Welt herumgekommen war, sich aber sehr wohl zu helfen wusste, und der beigebracht worden war, die Gesetze, wenn das Überleben es forderte, zu übertreten. Und diese Charna, die in eleganten Stiefeln durch die Pfützen gestapft war, leichtfüssig mit hoch erhobenem Kopf, als würde sie unberührt durch den Schmutz hindurchgehen, und die mit zartgliedrigen Händen das Bündel umklammert und an ihre Brust gedrückt hatte, wirkte stark und eigenwillig. Ein Eindruck, der durch ihre Verstörung und Verzweiflung sich verstärkte. Es handelte sich um eine dieser Gebildeten, wie man sie unter denen, die Jiddendeutsch sprachen manchmal zu finden pflegte, ja es musste eine dieser Gebildeten sein. Sichtlich in grosser Not war sie den weiten Weg von Kupiškis nach Zamość gekommen, um sich von ihr, einer einfachen polnischen Bäuerin, das vermutlich geliebte Kind töten zu lassen. Eine litauische Engelmacherin hätte es auch getan, das Kind getötet. Warum war die Frau bis ins südöstliche Polen gefahren?

Irgendein Verwandter – Vater, Bruder, Onkel – oder ein zufällig vorbeiziehender Bauerntölpel hatte das Jiddenmädchen schwanger gemacht. Blanka kannte sich aus, das hatte sie das Leben ihrer Kundinnen, aber auch das eigene gelehrt, war doch auch eines ihrer Kinder, der Petrik, in ihrem Bauch gewachsen, nachdem die französischen Soldaten ihr den Mann erschlagen und das Vieh aus den Ställen gezerrt hatten.

Aber schön war sie, diese Charna. Und hochmütig. Denn noch nie hatte Blanka gesehen, dass eine Mutter ihr das Kind eigenhändig übergab. Sie hätte es nicht annehmen sollen, das Kind, es hatte den Tod und die Mutter den Schmerz nicht verdient. Doch da dachte sie an ihren Petrik und seine verbotene Schnapsbrennerei, sie dachte an seine Pferdediebstähle und die Beamten des russischen Zaren, die ihr den Jungen bald holen würden, um einen Soldaten aus ihm zu machen, und was wurde dann aus ihr?

Blanka nahm das Geld und versprach den Tod des Kindes innerhalb von sechs Tagen. Sie würde es töten wie alle anderen zuvor, in die Hütte bringen und vergessen, einfach vergessen, den Stall putzen, das Pferd striegeln und den Weizen schneiden, einfahren und dreschen, schöne Tage, keiner ist betrunken und keiner schlüge und alle – auch die Tiere und die Pflanzen – wären gesund, das Wetter trocken, genügend Nahrung und das wimmernde Kind weit weg.

Der Mann auf dem Bock, der die schwarze Charna gebracht hatte, schrie in einer unverständlichen Sprache. Die Frau musterte Blanka und den Hof mit flüchtigen Blicken, hellwach – sie war eine, der nichts entging. Der Mann liess die Peitsche knallen, das Pferd zuckte zusammen. Die Frau drückte das Bündel noch fester gegen ihre Brust und bohrte sich in Blankas Augen. Und da geschah, wovor Blanka sich am meisten gefürchtet hatte: In ihr erwachte ein Gefühl.

Erleichterung zeigte sich auf Charnas Gesicht, eine ungezügelte Hoffnung.

Blanka leckte sich eine Träne von den Lippen und nahm mit entschiedenem Griff, wie er Menschen eigen ist, die, einmal in Bewegung geraten, nicht mehr aufzuhalten sind, das Kind an sich. Charna zog das schwarze Tuch über der Schulter zusammen, wandte sich ab und lief zum Wagen, wieder mit hoch erhobenem Kopf, als trüge sie eine Pflicht und eine Sünde zugleich.

Doch da verlor sie die Fassung, blieb abrupt stehen, wütete mit den teuren Stiefeln im Schlamm, zerriss sich die Bluse über der Brust und ein Gebrüll, das dem eines durstigen Ochsen ähnelte, suchte sich den Weg aus ihrem Mund. Blanka erstarrte und es schien ihr, als suchte die Fremde nicht nur ihren unerträglichen Schmerz aus sich herauszuschaffen, sondern als wütete sie mit aller Kraft gegen die unsichtbaren Mauern eines für immer geschlossenen Kerkers.

Blanka legte die Hand auf ihre Brust und spürte diese Sehnsucht, die beim ersten Blick in die grasgrünen Augen des Säuglings aus Kupiškis in ihr erwacht war: Dieses Mal würde sie es nicht übers Herz bringen, das Kind zu töten.

Nach Hannahs Besäufnis und nachdem sie das Mädchen so unerwartet heftig verprügelt hatte, fasste Blanka Pawelka einen Entschluss. Sie wartete den Frühling ab und ergriff in Richtung des galizischen Sambir die Flucht. Was vermochte sie, die Bäuerin aus dem russisch-polnischen Zamość, gegen die Dämonen des einstmals todgeweihten Kindes, das so schwarz wie seine Mutter geworden war, auszurichten? Und so erinnerte sie sich ihrer Nichte Karolina Lukaszka, die in Sambir, in der Nähe des galizischen Lemberg, auf dem Gut des polnischen Grafen Tomasz Szujski den Haushalt führte und ihr anlässlich eines Besuches erzählt hatte, dass der Pächter, Menachem Yuter, ein Jude war, ein grossherziger Mann. Bei ihm wollte sie das Kind abladen, hatte sie doch keinen Zweifel an der Herkunft der armen Charna.

Am ersten Abend, als der Säugling bei ihr geblieben war, hatte Blanka in den nassen, stinkenden Windeln einen Fetzen aus dickem Papier mit fremdartiger Schrift gefunden. Ihre Neugier war geweckt und sie zog den erstbesten Hausierer, von denen zahlreiche im Frühjahr und Herbst ihren Hof besuchten, ins Haus und bat ihn, das Geschriebene zu entziffern. Der Händler, ein freundlicher, bärtiger Mann, nahm das Schriftstück, da er selbst nicht lesen konnte, an sich mit dem Versprechen zurückzukehren, was er auch tat, und legte wenige Tage später den Papierfetzen mit bedeutungsvoller Miene auf Blankas Tisch, trank aus dem Wasserkrug und berichtete, es handle sich um die Anschrift eines ehrenhaften Fishel Kaplan, der im fernen südamerikanischen Chile in einer Stadt namens Valparaiso ein Haus besitze und Handel mit Weizen betreibe. Der Mann wischte sich das Wasser vom Mund und schaute Blanka misstrauisch an, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine einfache polnische Bäuerin zu dieser Nachricht gekommen war. Doch dann fuhr er fort, dieser Fishel Kaplan hätte geschrieben, dass dieses Chile ein gutes Land wäre, das sich nach dem Unabhängigkeitskrieg für die Juden geöffnet hätte, und wenn Charna gezwungen würde, in Kupiškis Chalitza zu machen, wäre das für ihn Grund genug, sie und ihr Kind im chilenischen Valparaiso zu erwarten, er wäre stolz und hocherfreut, sie bei sich aufnehmen zu dürfen. Blanka schwieg. Und versuchte zu verstehen, wie dieses ferne Chile und Valparaiso in ihre enge polnische Stube hatte einbrechen können. Der schwarzen Charna wäre es offensichtlich möglich gewesen, sich und ihr Kind in diesem chilenischen Valparaiso in Sicherheit zu bringen, das verstand Blanka, wenn sich ihr auch der Sinn des Wortes Chalitza verschloss und sie beim besten Willen nicht dahinterkam, warum die Frau dennoch das Kind seinem sicheren Tod überlassen hatte.

Und warum hatte sie das Papier in die Windel gesteckt?

Ohne auf die stummen Fragen des Hausierers einzugehen, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und schob ihn aus ihrem Haus und hörte nicht hin, als er sich umwandte und sie kichernd fragte, ob sie denn wisse, was Fishel bedeute?

Doch nicht nur, weil sie dieses Kind und das Papier mit der chilenischen Anschrift zwölf Jahre später dem Juden Menachem Yuter in Sambir übergeben und es solcherart der Mutter, der schwarzen Charna, zurückgeben wollte, zog Blanka das Pferd aus dem Stall, noch viel drängender war ihr, das schwarze Balg aus dem russisch-polnischen Reich über die Grenze ins österreichische Land zu bringen, weit weg, denn das unberechenbare Mädchen, das mit dem Trinken begonnen hatte, drohte am Ende die Aufmerksamkeit der Gendarmerie auf sich zu ziehen, und dann wäre es aus mit Blankas und ihrer Familie Leben. Die Polizisten des Zaren würden ihrer sündhaften Tätigkeit auf die Spur kommen, die Leichen der Säuglinge, die Blanka hinter der Hütte in der Erde verscharrt hatte, entdecken und sie und ihren Sohn Petrik am nächsten Baum aufknüpfen.

Nicht üblich war es zwar, Frauen auf dem Bock eines Wagens zu sehen. Es schien ihr jedoch undenkbar, Petrik oder den blöden Knecht zu bitten, da sie auch ihnen gegenüber verschwieg, woher das wenige zusätzliche Geld und damit auch Hannah gekommen waren, und dass sie die ihr anvertrauten Säuglinge in einer entfernten Hütte austrocknen liess. Sie war es, die für die Familie sorgte und ausschliesslich die Last des Überlebens trug. Ihre Familie bedeutete ihr Schicksal, Gefäss, Welt, Glück und Gott auf Erden, umso mehr, da ihr der Hunger die älteren Kinder und zwei ihrer Geschwister und ein Trupp marodierender, französischer Soldaten den Mann geraubt hatten. Weder Fleiss noch Mut oder Gottesfurcht hatten geholfen. Stolz musste man sein und sich zu wehren wissen. Und so spannte sie das alte, magere Pferd eines Nachts vor den Karren. Sie würde die Blicke und den Spott aushalten, eine Frau auf dem Bock, was für eine Schande, doch verfügte sie über einen festen Willen und die Fähigkeit, nur gerade so viel zu erfassen, wie notwendig war, nicht zurück- und nicht vorwärtsschauen, davon hing ihr Überleben ab, und das Kind musste weg.

Weg aus dem polnischen Backsteinhaus, das unter wuchernden Pflanzen erstickte, hin zu der galizischen, kohlrabenschwarzen Erde, die, von den Flüssen gebracht, diesen fetten Weizen hervorbrachte, und aus dem Sand gewachsen war – dunklem, zwischen den Gletschern zerriebenem Sand – ein Meer von Föhren, Birken und Eichen. Störche, die durstig ihre Schnäbel in das Steppengras eintauchten und in Farben ertranken, Pflaumenrot, Schleierweiss, Buttergelb, Lindengrün. Das Licht drang zwischen die Föhrenstämme und entzündete diesen trockenen, duftenden Mund: einbrechen, durchbrechen, durch die Wälder brechen.

Blankas bedächtige Härte wie auch Hannahs Angst wurden vom Wind davongetragen und befruchteten die Steppe. Manchmal legte Blanka schützend ihre Hand auf die Halswirbel ihrer Hannah und nahm sie fest zwischen die Finger. Und Hannah klammerte sich an Blankas Fussknöchel, um nicht vom geschüttelten Wagen in diese verschlingende Pflanzenwelt geschleudert zu werden, auf den Grenzmarksteinen aufzuprallen, in der Steppe kopflos schwebend verloren zu gehen oder von gierigen Heuschrecken aufgefressen zu werden.

So blieb Blanka nur die Hoffnung, dass Hannah sich festhielt, während die Peitsche auf den Rücken des mageren, alten Pferdes niedersauste – antreiben und Gott vertrauen auf endlosen Wegen, die sich durch die Landschaft frassen, Flüssen entlang, deren Hälse von Schilfkrägen gesäumt, und Gewässern, aus deren feuchter Wangenhaut Seerosenstoppeln wuchsen, und nicht mal Blanka wusste genau, wovor sie sich so fürchtete: War es der Rachegott, der Hüter ihrer Albträume? Oder waren es die berittenen Steppenbewohner, die ruthenischen Kosaken, die alles niedermetzelten, was sie für polnisch, für russisch, deutsch oder gar für jiddisch hielten? Waren es die Gesetzeshüter des russischen Zaren, die sie für ihre Dienste an gefallenen jüdischen Frauen hingerichtet hätten? Oder flüchtete sie vor der zellstofflichen, sabbernden, erstickenden, vor Chlorophyll platzenden Galaxie, die auf ihre stupide, kreatürliche Art allen Lebewesen die Luft zum Atmen raubte und nicht genug abwarf, um sie alle zu ernähren?

Strebte sie Hannahs Blicken zu entkommen, die sie belauerten?

Und in Hannah nagte die Frage, was denn an ihr so schlimm war, dass Blanka sie wegbrachte. Ununterbrochen dachte sie daran, doch ihr Kopf konnte die Geschwindigkeit der Ereignisse nicht bewältigen, was sie mit Zorn erfüllte und ihr Herz erstarren liess, das Rattern der Räder hämmerte die Gewissheit der baldigen Trennung erbarmungslos in ihr Bewusstsein und sie fasste fester zu und beschloss, ihren wütenden Klammergriff nie wieder zu lösen. Ich weiche nicht von ihrer Seite, ich lasse sie nicht für einen Wimpernschlag aus den Augen, ich träume nicht, ich schlafe nicht, ich tue alles, wie Blanka es will, so vergisst sie mich und ihr Vorhaben, mich auszusetzen … Und so verlor Hannah mit jedem Meter, den sie fuhren, ein Stück der Familie, die ihr so oft eine Gefahr und das Aushalten von Schmerz gewesen war, doch kannte sie nichts Besseres und sie hatte gelernt, durch die Liebe zu Blanka die Furcht vor Petrik und dem blöden Knecht zu bannen. Und sie erinnerte sich, wie sie den Hof durchquert hatte, gehalten von Blankas Griff, wie sie durch das Tor in die Wiese gelangt war und einer Eingebung folgend sich von der Hand löste, davonlief, den Kopf voran, und, die Arme erhoben, sich in die brusthohen Wellen des Gräsermeers warf. Sie sah vor sich den schwarzen Wald, dorthin wollte sie, schneller, nur schneller sein als Petrik, der ihren verhärteten Körper schlug, schneller sein als der Knecht, der ihre entzündeten Geschlechtsteile durchbohrte, ja schneller sein als der eigene Körper, sie verspürte den brennenden Wunsch nach Freiheit, befreit zu sein, und so rannte sie, den Kopf voran, aus sich selbst heraus, ihre Füsse stolperten, die Halme klatschten an den Hals und die Wangen, Insekten summten und sie fühlte die harte Erde und das wackelige Gleichgewicht, und doch lief sie und lief, da ihr die Geschwindigkeit half, nicht zu fallen, und ein aufschiessendes Glücksgefühl trug sie weg von Blankas Körper und ihrer festen Hand. Je weiter sie sich jedoch durch dieses Gräsermeer Richtung Wald entfernte, je heftiger dieses Glücksgefühl in ihr brannte, desto zäher flossen aus den verstecktesten Winkeln ihrer Zellen Schuld und Angst, sie drohte zu platzen, sie schnappte nach Luft: Blanka würde sie bestrafen, Blanka würde sie verlassen.

Hannah sass in Gedanken versunken auf dem Wagen, starrte auf den schweissnassen Rücken des Pferdes, der sich wie das Gräsermeer auf und ab bewegte, und versuchte ihr wild klopfendes Herz zu zähmen und sich mit herbeigeholten Fantasien zu trösten. Die Vorstellung, dass Petrik, der sie täglich geschlagen, seine bösartigen Gelüste nun am blöden Knecht, der Nacht für Nacht im Stroh zwischen ihren angespannten Beinen herumgewühlt hatte, austoben würde, gefiel ihr und brachte sie sogar zum Lachen. Wenn zwei sich zusammentun, um dich zu vernichten, und du machst dich davon, dann schlagen sie sich gegenseitig tot …

Am Abend band Blanka das Pferd an einen Baum, setzte sich mit dem Rücken an den Wagen gelehnt auf die Erde und öffnete ihren grossen Mund, um erschöpft den Mangel an Nahrung festzustellen, schloss ihn wieder und schwieg.

Manchmal gab es eine Kuh. Gestohlene Milch. Heidelbeeren und Pilze, die der Wald hergab. Wenn in den Gärten die Feuer brannten und der Himmel farb- und trostlos wie fauliger Abfall war, starrte Blanka in die Landschaft – Felder, Heidehäute, weidegrünes Haar, während des Tages pralle, gelbe, liebeshungrige Welt, um dann in der Dämmerung sich aufzulösen – und Hannah sog den Rauchgeruch tief ein und fühlte sich entschlossen und zuversichtlich, sie und Blanka, allein in dieser weiten Welt. Wir überleben, weil ich Sorge trage, weil ich Blanka nicht aus den Augen lasse … Noch sind wir beisammen, sie und ich, ich und sie … Und Blanka mahlte mit dem Mund und schmeckte die würzige Erde, die zwischen den Zähnen knirschend zerschmolz, das knackige Korn, das auf der Zunge Wurzeln schlug, spürte, wie die Wellen von Hannahs klammernder Wut über ihr zusammenbrachen.

Sie starrte in diese Weite, Sehnsuchtsweite, seelenzerreissende Weite, sinnlos, grausam, ihre Welt, bitteres Bier, und in ihrem Schluckauf drohte die flüchtige Blanka Pawelka aus Zamość zu diesem Gott hinauf, der mit grosser Geste seine Hände ausstreckte und mit bösen Worten ihr ins Gewissen geiferte. Regengüsse wie Umarmungen. Gewitterschübe wie Schläge auf den nackten Hintern. Wald und Wiese.

Sie dachte an ihre schwangere Mutter, an den dicken Bauch, der durch die Tischplatte vom Oberkörper und Kopf abgetrennt war, an die aufgesprungenen Hände, die sich um die Schale schlossen und sie gierig zum Mund führten, nur kurz, um sie gleich wieder hinzustellen und heftig wegzuschieben.

Blanka, gebunden an die Not, an den Schmerz, an die Kälte, den Hunger, Blanka, Schritt für Schritt, den Blick gerade auf den Moment gerichtet, das Notwendige.

Blanka, jeder Atemzug ein Faustschlag in Gottes bösartiges Gesicht.

Und sie weinte, wenn sie an die arme Charna dachte, die niemals ihrem Kind das Spiel des Sonnenlichts im Staub, den Duft der Milchsuppe an Festtagen, das Gegacker der Hühner zeigen, die nie sein lachendes Gesicht sehen, wenn sie versuchte, einen der Vögel einzufangen, und die nie davon erfahren würde: Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das Kind, in dessen verkackter Windel sie die Nachricht des chilenischen Fishel Kaplan gefunden hatte, zu töten.

2 488,77 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
533 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783038670476
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают