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2 Sehnsucht
Umso näher Lena ihrem Ziel kommt, desto mehr ergreifen die Zweifel Besitz von ihr, desto abstruser werden ihre Befürchtungen. Was, wenn Luca sie gar nicht wiedererkennt, fragt sie sich und muss dann lachen über sich selbst. Das ist nun wirklich Unsinn, Lena! Aber wenn er inzwischen eine Freundin hat? Nur die Vorstellung, er könne mit einem hübschen Mädchen hinten auf seiner Vespa drauf an ihr vorbeifahren, verursacht ihr schon echte körperliche Schmerzen. Und was, wenn er sie nicht mehr sehen will, für sich beschlossen hat, dass es keinen Sinn macht, eine Beziehung über diese Entfernung? Könnte sie ihn dann noch vom Gegenteil überzeugen, wo sie sich doch selbst nur zu gut darüber bewusst ist, wie weit das Neue Leben und Hamburg auseinanderliegen? Würde es reichen, ihm zu sagen, dass sie bereit wäre zu bleiben, sie sich nicht nur in ihn sondern auch seine Heimat verliebt hat? Lena weiß, dass es beinahe ausweglos ist für sie beide, eine Beziehung zu führen, aber sie ist eben auch so sehr von dem Wunsch erfüllt, Luca wiedersehen, dass sie an all diese Schwierigkeiten nicht denken mag. Für einen kurzen Moment flößt die Angst ihr den Gedanken ein, sie könne auch einfach weiterfahren. Hier an der Küste reihen sich schließlich unendlich viele Dörfer und Städte aneinander, an denen es Badestrände gibt, an denen man sich erholen kann. Absurd, all diese Gedanken, wird Lena bewusst. Warum ist sie nach Italien gefahren, wenn nicht, um Luca wiederzusehen? Sie wollte nicht am Strand rumliegen oder alte Städte besichtigen, alte Statuen bewundern und alte Kunst, auch wenn sie auch daran Gefallen finden kann. Die Sehnsucht, die Lena trieb, war die danach, erneut in Lucas Augen zu schauen, seine Nähe endlich wieder zu spüren. Wahrhaft lächeln wollte sie ihn sehen, dieses Lächeln, das ihr seit Wochen immer wieder vor Augen erschien, sobald sie diese schloss. Dieses Lächeln, das wusste Lena nun, hinter welchem Luca nicht selten auch einfach nur seine Schüchternheit verbarg.
Vertraut ist alles für sie, als sie sich mit dem Rucksack auf den Schultern auf den Weg durch das kleine Bahnhofsgebäude hinaus in die Stadt macht. Nur das Treiben in der Einkaufsstraße, die sie hinuntergeht, wirkt anders, als sie es in Erinnerung hat. Verlassener scheint die Allee mit ihren unzähligen Läden zu sein, unaufgeregter das Leben auf ihr. Müde geht Lena an den Schaufenstern entlang, vorbei an der Unterführung, über welche sie gerade erst mit dem Zug in die entgegengesetzte Richtung gefahren ist. Kühl ist es hier, spürt sie mit einem Mal, viel kühler als in dem Landesinneren, aus dem sie kommt. Dieser Ort, denkt Lena, liegt eben auch nicht geschützt in einer Ebene, dieser Ort liegt am Meer, am Wind. Und während sie diesem Meer immer näher kommt, das Salz dieses Meeres immer mehr die Luft erfüllt, traut sie sich kaum auf die Straße zu schauen, auf die Menschen um sie herum, so sehr wünscht sie sich, Luca käme auf sie zugefahren von hinten oder von vorn, und so sehr fürchtet sie sich auch, so sehr spürt sie ihre Aufregung, ihre Angst vor genau diesem Moment.
Auf ein weiches Bett freut sie sich jetzt, ein Zimmer für sich ganz allein, und auch darauf, den Besitzer der Pension, Herrn Bartonelli, wiederzusehen. Vor der Pension steckt sie ihre Hand durch das Gitter des Gartentors und drückt den Knopf, der dort von Innen am Schloss angebracht ist. Es klickt, doch es tut sich nicht auf, auch nicht, als Lena erneut darauf drückt und es dann noch ein weiteres Mal probiert. Sie klingelt, sie wartet, sie blickt hoch zur Tür. Nichts aber regt sich da in dem Haus vor ihr. Es scheint einfach niemand da zu sein, keine Gast und auch keine Gastgeber. „È chiuso!“, dringt eine rufende Stimme von der anderen Seite der Straße her an ihr Ohr und Lena entdeckt die Frau im Garten dort, die verneinende Handbewegungen macht. „Sie sind in den Urlaub gefahren“, kann Lena nicht glauben, was sie hört. Das kann doch jetzt wirklich nicht sein!
Das Hotel an der Ecke am Platz fällt ihr ein. Es wird unglaublich teuer sein, weiß sie genau, aber sie weiß eben auch nicht, wo sie sonst bleiben soll. Langsam geht sie die Straße unten am Meer entlang, als wolle sie noch einmal fühlen, ob sie die Nacht nicht doch vielleicht am Strand verbringen kann, dort irgendwo schlafen. Doch der Wind ist zu kräftig und zu kühl ist es jetzt schon am frühen Abend. Und ganz alleine im Dunkeln, das würde ihr, gesteht sie sich ein, dann auch etwas zu viel Angst machen wohl.
Zögerlich betritt Lena die Lobby durch die breite Tür aus blank poliertem Glas und Messing. Schmutzig kommt sie sich nach der langen Zugfahrt vor und unpassend gekleidet für dieses Viersternehotel ist sie als Rucksacktouristin ja sowieso. Auch heute steht eine junge Frau an der Rezeption, aber es ist nicht die, die sie schon kennt. Sie ist schön, diese Frau, findet Lena, und natürlich auch schick zurechtgemacht, wie es Pflicht ist in solch noblen Unterkünften, und was immer sie denkt über Lena, professionell genug ist sie auch, um es vor ihr zu verbergen. Freundlich lächelnd bietet sie ihr ein Einzelzimmer für, das kann Lena nunmehr ganz schnell errechnen, fünfundvierzig Mark an. Fünfundvierzig Mark für eine einzige Nacht, versteht sich. Morgen aber, tröstet Lena sich, kann sie in Ruhe suchen gehen, nach einer Unterkunft, die günstiger ist hoffentlich.
Lange lässt sie sich das warme Wasser über ihren Körper laufen, während sie sich schon auf die frisch gewaschenen Klamotten freut, die sie bereits aus ihrem Rucksack geholt und auf dem Bett zurechtgelegt hat. Kurz lässt sie sich auch auf die weiche Matratze fallen, schaut die weiße Zimmerdecke an. Das ist ein anderes Gefühl, als auf einer Isomatte zu liegen oder den Sitzpolstern eines Zuges, spürt ihr Körper angenehm. Wenn es dunkel ist, so wie jetzt bereits, fällt Lena auf der weichen Matratze ein, wird es schwieriger sein, Luca zu begegnen, ihn zu sehen. Dennoch geht sie noch einmal zum Meer hinunter, kauft sich ein Stück Pizza in die Hand und dreht eine Runde durch den Ort, immer zwischen der Hoffnung und der Angst, Luca würde wieder vor ihr stehen.
Als Lena am Morgen in ihrem teurer weichen Bett erwacht, dringt noch kein Licht durch das Fenster ihres kleinen Zimmers, doch sie ist so sehr von dem Gefühl eingenommen, ausgeschlafen zu sein, ausgeruht genug, dass sie nicht anders kann, als sofort aufzustehen. Heute, so spürt sie, ist sie bereit, heute kann sie Luca wiedersehen.
Zielstrebig überquert sie den Platz und betritt das kleine Café. „Dimi!“, sagt nicht die Frau, die sie vor einigen Wochen hier bedient hat und auch Martina sitzt weder vor noch im Café. Das jedoch erstaunt Lena wenig, denn es ist ja noch so früh. Deshalb lässt sie sich auch Zeit mit dem Frühstück, schaut auf den Platz, um den sich die Vehikel drehen und die Tage, die sie hier verbracht hat, sie kehren zurück zu ihr.
Wieder in ihrem Zimmer packt Lena ein paar Sachen zusammen, ein Buch, das Strandtuch, den Bikini. Dann macht sie sich auf den Weg. Die Sonne aber will noch nicht so recht hinter den Wolken hervorkommen, von denen es einige am Himmel gibt. Die Strandbuden und Läden, an denen sie vorbeigeht, sind nicht mehr voll besetzt von Jugendlichen und Kindern und wirken befremdlich leer. Es ist noch immer zu früh, denkt Lena, doch dann wird ihr endlich klar, dass nunmehr selbst in Italien die langen Ferien ein Ende gefunden haben werden. Die Mädchen und Jungen, die im Sommer hier rumgetobt haben, sie werden nun wieder zur Schulen gehen müssen.
Voller Hoffnung betritt sie das kleine Hotel, welches sie in einer schmalen Seitenstraße entdeckt, doch auch hier will man für ein einzelnes Zimmer knapp vierzig Mark pro Übernachtung haben. „Kennen sie vielleicht noch eine Pension, ein Hotel, das billiger ist?“, traut Lena sich den Rezeptionisten auf Italienisch zu fragen. „Ja, die Pensione Bartonelli!“, lächelt dieser die junge Deutsche voller Verständnis dafür an, dass eine junge Frau in Lenas Alter nicht so viel Geld haben kann. „Nein, die ist geschlossen“, weiß Lena aber leider schon. „Boooh!", was „Ich weiß nicht!“ oder „Keine Ahnung!“ oder auch „Frag mich doch nicht!“ im Italienischen heißt, fällt nun auch dem Hotelportier keine weiter günstige Unterkunft mehr ein. „Die Saison ist zu Ende. Da ist es schwer, noch ein Zimmer zu bekommen, da bleiben nur die wenigen Hotels.“ Saison, überlegt Lena, als sie das Hotel wieder verlässt, über so etwas hatte sie sich nun wirklich überhaupt keine Gedanken gemacht.
Ein wenig aufgewühlt ist das Meer, kräftiger auch der Wind, der es an den Strand spült. Die Saison ist zu Ende, hat Lena noch im Ohr und Italiener, scheint es, finden nichts mehr an ihren Meeren, sobald ein wenig mehr als ein Lüftchen dort bläst, sobald ihre Wasser Wellen schlagen, so wie sie das von den Meeren aus ihrer Heimat kennt. Den meisten hier schein der Strand nur als Zufluchtsort vor der kaum erträglichen Hitze, die im Sommer die engen Gassen in den Städten aufheizt, zu dienen. Sobald jedoch der erst Herbststurm aufkommt, gehen sie lieber woanders hin. Unvorstellbar beinahe für jeden, der aus dem Norden Europas kommt, meint Lena, ein Meer ohne Wind, ohne Brandung darin. Ein Meer, das geht einfach nicht, schüttelt sie den Kopf, ein Meer darf nicht wie ein Schwimmbecken sein und macht es sich daher im Sand gemütlich. Platz genug gibt es ja nun! Und natürlich schaut sie immer wieder zur Straße hin, hofft, sie möge Luca dort vorbeifahren sehen. Viel Verkehr jedoch herrscht auch dort nicht mehr verglichen mit dem in Juni. Die Menschen, sie scheinen zu wissen, dass es nicht mehr viel zu entdecken gibt hier, nun, da die bella stagione, die schöne Jahreszeit, auf ihr Ende zugeht. Luca wird sicher auch arbeiten müssen, überlegt Lena, bevor sie in das salzige Wasser eintaucht, welches die Wärme dieses heißesten Sommers, den es in diesem Jahrhundert gegeben haben soll in ganz Europa, noch immer in sich trägt. So wunderbar lässt es sich baden in diesem Meer, findet Lena, nun, da es ist nicht mehr voll ist mit Menschen. Mit dem Ende dieser Saison aber haben viele der Strandbuden, die weiter vom Zentrum des Ortes entfernt liegen, bereits ihre Pforten geschlossen, ihre Sonnenliegen und -schirme zusammengeräumt und fortgebracht und sogar einen Zaun um das Gebäude am Strand gezogen. Hier und da aber stehen sie noch symmetrisch in Reihen nebeneinander aufgestellt, immer links und rechts neben den noch zugeklappten Sonnenschirmen, die azurblauen zusammenklappbaren Sonnenbetten. Und nach und nach erscheinen dann auch tatsächlich noch ein paar Sonnenhungrige, beobachtet das deutsche Mädchen, die diese Liegen und die freien Strandabschnitte zwischen ihnen belegen und auch die Strandbars, die noch offen haben, füllen sich noch einmal mit sanftem Leben. Nach einem Cappuccino in einer von diesen, macht sie sich wieder auf den Weg, streift durch den Ort, geht mal hier lang, mal dort, voller Hoffnung, sie möge Luca begegnen, irgendwie aufgeregt unentwegt. Und auch jetzt schaut sie wieder zum Café über den Platz hinüber, ob sie Martina dort entdecken kann. Die Stühle dort aber sind unbesetzt und auch im Café selbst scheint es keinen Kunden zu geben.
Ein heftiges Gefühl von Einsamkeit überkommt Lena, kaum dass sie auf ihrem frisch bezogenen Bett sitzt. Überall im Ort spürt man so sehr, dass es auf Ende September zugeht, dass es Herbst wird jetzt. Und Luca, er scheint einfach verschwunden zu sein, irgendwie endlos weit fort.
Am Nachmittag macht sich Lena daher auf und sucht das Haus, in welches sie Luca vor wenigen Wochen erst auf seinem Vespa-Roller gebracht hatte. Überrascht ist sie, denn sie findet es schnell. Es steht aber keine grüne Biene davor oder daneben und auch kein blauer Roller. Trotzdem ist Lena sich sicher, dass sie bei diesem Gebäude richtig ist und so steht sie davor und horcht in sich, ob sie nicht doch genug Mut aufbringen kann um zu klingeln. Ein wenig Italienisch spricht sie jetzt doch! Es ist aber gar nicht so sehr die Angst davor, sich nicht verständigen zu können, die Lena so hemmt. Es ist die Angst, vielleicht zu erfahren, dass Luca sie nicht wiedersehen will. So nimmt sie das Briefchen, welches sie Luca geschrieben hat, steckt es in den Kasten, der am Gitterzaun hängt und schlendert zum Meer hinunter und von dort zurück in den Ort.
Ein Vorteil, der sich für Lena daraus ergibt, dass die Urlaubszeit hier bereits geendet hat ist, dass niemand im Hotel danach fragt, wie lange sie bleiben wird. Zwei weitere Nächte noch kann sie sich leisten, dann aber wird es eng. Oder anders gesagt: Es fallen Lena tausend Dinge ein, für welche sie das viele Geld wesentlich dringender benötigen würde. So viel dringender, dass es ihr wie eine Verschwendung vorkommt, einen so hohen Preis nur für eine Unterkunft zu zahlen. Immer wieder schlendert sie daher durch die Straßen des Ortes und überlegt sogar, hoch in die Hügel zur Ruine zu gehen. Doch der Weg dorthin ist weit, das weiß sie. Und auch, dass ihn schon einmal nicht gefunden hat. Niemand begegnet ihr, den sie kennt oder der ihr zumindest bekannt vorkommt, nicht auf ihren Spaziergängen durch den Ort und auch nicht am Strand. Es ist, als seien mit dem Ende der Saison auch all die Menschen verschwunden, die sie hier erst vor weniger als drei Monaten nach und nach kennen gelernt hat.
Immer wieder kehrt Lena auch zurück in ihr Hotel, fragt an der Rezeption, ob sich jemand nach ihr erkundigt, ihr eine Nachricht hinterlassen hat. Nein, schütteln die uniformierten Frauen und Männer vor der Wand, an der die golden glänzenden Zimmerschlüssel baumeln, nur immer wieder ihr Haupt. Ob überhaupt jemand ihr Schreiben im Briefkasten gefunden hat? Es weitergegeben hat an Luca? Und was, wenn er sie tatsächlich nicht sehen will, kommen ihr wieder die Zweifel. Ja, was, wenn er sich gerade viel Mühe gibt, ihr nicht zu begegnen hier in seinem Heimatort? Sie hätte ihm von zu Hause aus schreiben sollen, dass sie kommen wird, meint sie einmal wieder. Aber so ein Brief, hatte sie sich noch in Deutschland überlegt, hätte ihn eh nicht rechtzeitig erreicht, so kurzfristig, wie sie sich entschieden, wie sich alles ergeben hatte. Aber warum hatte er ihr denn auch nicht geschrieben, in all diesen Wochen, die vergangen waren, seitdem sie hier zusammen gewesen waren? Nicht ein einziges Wort!
So bedrückend werden all diese Fragen am Morgen des dritten Tages, die immer und immer wiederkehren in Lenas Kopf, so bedrückend, dass sie nur noch fliehen mag, ganz weit weg von ihnen. Ich sollte nach Perugia fahren, findet sie, denn ihr Gefühl sagt ihr eben auch schon die ganze Zeit, dass sie Luca sicher begegnet wäre, wäre er denn tatsächlich hier im Ort. Und so, wie sie ihn kennen gelernt hatte, würde er eine Nachricht von ihr auch nicht einfach ignorieren. In Perugia aber wird es sicher eine Jugendherberge geben, einen Ort, der viel günstiger ist, als ihr Hotel hier. Einen Ort aber auch, an dem sie andere Menschen treffen kann, sich nicht mehr so alleine fühlen wird, wie hier in diesen Tagen. Und da es auch nicht weit ist von hier bis in diese Stadt, kann sie ja auf dem Rückweg vielleicht auch noch einmal hier vorbeikommen, mit Mut genug vielleicht ja auch, um am Haus von Lucas Eltern zu klingeln.
3 Der falsche Zug
Ich Dösch bin doch tatsächlich in den falschen Zug gestiegen! Wäre der Schaffner nicht so schnell gekommen und hätte er sich meine Fahrkarte nicht so ausführlich angesehen, ich würde wohl noch immer in die falsche Richtung fahren. Nun bin ich also wieder dort, wo ich vorhin schon war, um die paar Mark ärmer für die Rückfahrt von dort, wo ich nicht hingewollt habe. Aber wenigstens hat mein Ticket nach Perugia jetzt nicht auch noch seine Gültigkeit verloren. Doof nur, dass der nächste Zug erst irgendwas vor neun heute Abend fährt! Und das ja auch erst mal nur bis Foligno. Ich werde also sicher erst spät ankommen in Perugia.
Nun aber heißt es erst einmal wieder warten. Einen Cappuccino habe ich schon getrunken, direkt hier in der Bahnhofsbar, im Stehen, wie das eben alle hier machen, den schweren Rucksack neben mir. Beeindruckend die meterlange Theke aus altem, ausgedunkelten Holz, die sich von der Tür direkt am Gleis durch die gesamte Bar zieht bis zu den Türen zur Straße hin. Das sind bestimmt über zehn Meter.
Warten! Zeit totschlagen. Es lohnt sich nicht, noch einmal in die Stadt an der Adria zu gehen und ich habe sie auch schon gesehen. Was also soll ich anderes machen, als mich mitten in der endlos hohen Bahnhofshalle auf der ausgesessenen, alten Holzbank niederzulassen? Hier kann man sich sogar richtig schön zurücklehnen, denn die hölzerne Lehne, welche die Sitzflächen zu beiden Seiten trennt, ist wahrlich hoch genug, um zu verhindern, dass man mit Hinterköpfen zusammenprallt, wenn zwei Rücken an Rücken zu beiden Seiten Platz nehmen. Die hohen, schweren, halb verglasten Schwingtüren hinter mir, durch die man auf die Gleise gelangt, stehen halb offen. Die vor mir, wo es gleich eine ganze Front aus eben solchen endlos hohen, schweren Metalltüren zur Straße hin gibt, sind ständig in Bewegung. Menschen kommen und gehen, eilen von Tür zu Tür, kaufen Zeitschriften, Zigaretten, Zeitungen oder kleine Süßigkeiten an dem Kiosk rechts von mir. Sie recken ihre Hälse zu der Anzeigentafel hinauf, die der Höhe der Halle geschuldet, weit oben an der Wand über dem Kiosk Auskunft gibt über die Züge, die von hier fahren und auch über das geplante Wann. Klackerklackerklack werden die Zahlen und Buchstaben der Anzeige verändert. Klackklack Klackerdiklack klappen die beschrifteten Holzkarten so lange von oben nach unten, bis sich die gewünschten Zeichen eingestellt haben. Manchmal braucht es viele Klackerklacks, bis aus den einzelnen Schriftzeichen nebeneinander ein Ganzes, ein Sinnvolles entsteht. Die einen klappern länger, die anderen brauchen weniger Zeit.
Es sind immer die gleichen Geräusche, fällt mir auf. Immer die gleichen Geräusche, die man unentwegt hört, ob in den Hallen, auf den Gleisen oder im Zug.
Klackerdiklack. Klack. Klack.
Menschen gehen mit großen Koffern und mit kleinen, mit schweren, wie sich aus ihrer Körperhaltung schließen lässt, und mit leichten. Sie tragen Taschen, Beutel und nicht selten auch Rucksäcke auf ihren Schultern. Ich vertreibe mir meine Zeit, indem ich mir ausmale, wo diese Menschen wohl herkommen und wohin es sie wohl treibt. Bei denen im Anzug mit Aktenkoffer ist das keine große Herausforderung. Bei anderen lässt es sich aber nicht so leicht erraten, schick angezogen, wie manche sind und ganz sicher auch parfümiert. Wie die Frau dort, viel zu aufgedonnert, um gerade aus dem Büro zu kommen! Wohin will sie? Was ist ihr Ziel? Und wohin reisen wohl die da hinten in ihrer lässigen, aber sehr modischen Freizeitkleidung?
Attenzione! Attenzione!, hallt die Durchsage von den Gleisen her durch die offenen Schwingtüren in das Bahnhofsgebäude. „Attenzione! Attenzione!“
Auffällig der, der hastig durch die große Tür beim Kiosk in die Halle kommt. Schaut sich ständig um, ohne stehen zu bleiben und durchquert so die Halle im schnellen Schritt. Verschwindet für einen Moment auf den Gleisen und kommt schon wieder hastig in die Halle zurück, läuft erneut durch sie hindurch, ständig um sich blickend, als würde er irgendetwas, irgendjemanden suchen. Schlank ist er und jung. So alt wie ich vielleicht. Auf jeden Fall etwas länger, also größer meine ich, für italienische Verhältnisse zumindest, mit angesagtem Vokuhila-Schnitt, das Haar vorne fransig und nicht zu kurz nach oben gestylt, das hinten nicht zu lang und glatt. Kurz vor den meterhohen Türen zur Straße hin spricht er einen Mann im Pullover an. Der kramt erst in seiner Hosentasche und hält ihm dann eine Schachtel hin, aus welcher sich der mit dem modernen Haarschnitt eine Zigarette nimmt. Die steckt er zwischen seine Lippen, bevor er auch schon wieder durch den Ausgang zur Straße hin verschwunden ist.
Nun sind da wieder nur ganz normale Menschen. Menschen, die in der Halle stehen und sich von anderen verabschieden. Menschen, die mich mit offenen Blicken kurz anschauen und Menschen, die nur mit sich selbst beschäftigt sind. Menschen, die mehr oder weniger geduldig in der Schlange vor den Fahrkartenschaltern links von mir warten, dort immer wieder ein Stück vorrücken, sobald eine Person vom Personal hinter den Glasscheiben abgefertigt worden ist. Menschen, die Koffer vor sich herschieben, mit ihrer Reisebegleitung schwatzen, nach Geld, Papieren oder sonst etwas in ihren Taschen kramen.
Klackklack, klackerdiklack.
Ein kühler Luftzug zieht durch die Halle von offener Tür zu offener Tür. Ich pule meine dünne Sweatjacke aus dem Rucksack und streife sie über mein T-Shirt. Mein Blick gleitet erneut auf die riesigen Zeiger an der Wand weit über mir. Der große aber steht dort, wo er eben schon war oder höchstens einen Zentimeter weiter. Warten! Zeit totschlagen. So viel Zeit, die man beim Reisen damit verbringt, auf irgendetwas zu warten! So viel Zeit, denke ich, als mein Blick von den langen Zeigern dort oben zurück hinunter zu den Menschen in der Halle fällt. Der kommt echt direkt auf mich zu, erschrecke ich. Hastig. Noch immer genau so hastig wie eben bereits, so dass ich plötzlich schmunzeln muss. Mit leicht zusammengekniffenen Augen fixiert er mich mit seinem Blick, eilt weiter in meine Richtung und sitzt auch schon neben mir. „Ha una sigaretta?“ Du hast doch grad erst geraucht, denke ich. “No, solo tabacco.” - “Parla Italiano?“, bezweifelt sein Blick. Aber er siezt mich! „No, non così bene. Solo un po`”, reiche ich ihm meinen Tabakbeutel. „Dalla Germania?“, bedankt er sich mit einem kurzen Nicken. „Sì”, nicke ich. “English?” Was genau will er jetzt? „No, tedesca“, erkläre ich erneut, dass ich aus Deutschland komme. Nett, wie er jetzt lacht, so in den Tabakbeutel hinein. „But you speak English?“, grinst er und zieht eines der Blättchen aus dem Päckchen heraus, welches im Tabakbeutel gesteckt hat. „Ja! Vielleicht besser!“ Das Blättchen mit dem Tabak darauf in beiden Händen haltend, fragt mich sein Blick, ob ich vielleicht bescheuert bin. „Also ja“, lache ich, „Ich spreche Englisch.“ Zufrieden nickt er jetzt, während seine Zungenspitze über den Kleberand des dünnen, weißen Papierblättchens gleitet. Schon steckt die Zigarette zwischen seinen schmalen Lippen. „Wie kommst du darauf, dass ich aus Deutschland bin?“, würde ich aber jetzt schon gerne wissen. „Ah, einfach!“, fliegt seine rechte Hand nach oben in die Luft. „Die Haare!“ zeigt sie nun auf diese, „der Rucksack, dein Gesicht!“ -„Mein Gesicht?“ Er grinst, zuckt die Schultern, hat eh nur geraten, denke ich. „Alle jungen Leute bei euch im Land rauchen Tabak, oder nicht?“, grinst er weiter mit der Zigarette zwischen den Lippen, während er das Blättchenpäckchen zurück in den Tabakbeutel steckt, ihn nicht wieder richtig verschließt und mir reicht, als wolle er nichts mehr zu tun haben damit. „Weil Tabak in Deutschland viel billiger ist, als Filterzigaretten“, erkläre ich. „Ah sì? Hier nicht!“, hat er sich schon die Zigarette angesteckt. Ein Feuerzeug also besitzt er. Und ganz plötzlich wirkt er vollkommen abwesend. Schmales, eher längliches Gesicht, schwarze, buschige, sehr lange Augenbrauen, große Nase, stelle ich fest. Haben irgendwie viele hier in Italien, denke ich, eine große Nase. „Wohin fährst du?“, erwacht er plötzlich aus seiner Versunkenheit auf Englisch mit starkem italienischen Akzent, so dass ich seine Worte kaum verstehe. „Perugia.“ - „Ah! Mit dem Zug nach Rom?“ - “Ja!”, zunächst schon. „Den nehm` ich auch. Hat Verspätung das Ding! Wunderbar unsere italienische Bahn!“ - „Verspätung?“ - „Ja, steht dran. Bei den Gleisen. Mindestens `ne Stunde! Und `ne Stunde heißt in Italien zwei oder drei“, behauptet er sehr überzeugt und zu meinem Leidwesen. Noch mehr Zeit! Und wenn ich dann keinen Anschlusszug nach Perugia mehr kriege?
„Komm! Lass uns was trinken gehen!“, schlägt er vor, mit dem Kopf in Richtung Ausgang weisend. „Wo?“ erkundige ich mich lieber, bevor ich mich ihm anschließe. „Drüben, gegenüber vom Bahnhof ist eine Bar.“ Er steht schon, lächelt, nimmt einen tiefen Zug und tritt zappelig von einem Bein aufs andere, während ich mir die Träger meines Rucksacks über die Schultern streife. „Schwer?“- „Geht so!“, untertreibe ich. „Sieht es so aus?“ - „Beh, sì!“ (Na ja, ja!) und er eilt voraus in Richtung Straße. „Tut mir leid“, wendet er sich mir dort unvermittelt zu und tritt nah an mich heran, was ich, so spüre ich, nicht unangenehm finde. „Bin grad echt nicht so gut drauf.“ - „Warum?“ frage ich und ernte Schweigen, als wir die breite Straße überqueren, ohne auf die Zeichen der Ampeln zu achten. „Beh, hatte Stress!“ - „Ok. Warum? Mit wem?“ - „Beh, meinen Eltern“, hält er mir die Tür zu Bar auf und zieht mich leicht am Arm zur Theke hin. „Wein?“ Ich nicke. „Rot?“ Auch das! Der Mann hinter der Theke beäugt ihn skeptisch. Mit seiner Schürze steht er hier bestimmt Tag und Nacht, hier in seinem Reich, seiner Bar, und das sicher schon seit Jahren. Genau genommen müsste er ja aber mich schräg anschauen, finde ich, so wie ich hier sitze, mit meinen Schlapperklammotten, ohne Make-up, eben überhaupt nicht zurechtgemacht. Mein neuer Begleiter hingegen ist doch ganz gut gekleidet mit seiner kurzen weißen Sommerjacke, dem hellen beschen Hemd und dem weißen T-Shirt darunter. Aber vielleicht ist es genau das, was ihn skeptisch macht, dass so einer mit so einer wie mir hier auftaucht.
“Salute!“, halten die langen Finger meiner neuen Bekanntschaft mir sein Glas entgegen. „Salute!“, stoße ich mit meinem Glas daran. Schön sind die, finde ich, diese, seine Finger. „Von wo aus Deutschland bist du?“, will er wissen, scheinbar nicht in der Laune, weiter über den Stress mit seinen Eltern zu reden. „Und was machst du hier in Italien? Rumreisen?“, schlussfolgert er sicher aus der Tatsache, dass ich mit einem Rucksack unterwegs bin und ich nicke. „Und was hast du gesehen bisher?“ - „Ich war in Florenz. Jetzt hier...“, versuche ich wenigstens die letzte seiner Fragen zu beantworten, bevor ihm wieder eine neue einfällt. „Und gefällt dir dieses Land?“, erkundigt er sich, als hätte er selbst rein gar nichts mit diesem Land, in dem er ja wohl selbst lebt, zu tun. „Ja, sehr!“, ist meine ehrliche Antwort. „Hm“, macht er mal wieder. Unklar, was genau er mir damit sagen will. Immer wieder begegnen sich unserer Blicke, aber er lässt mich nie länger als ein, zwei Sekunden lang in seine Augen schauen. Dabei wirkt er nicht unbedingt schüchtern und nunmehr auch schon ein wenig ruhiger als vorhin. Kleine Augen. Grün. Und flink. Kleine, grünbraune Augen, die flink umherschauen, als wollten sie stets alles um sie herum mit wenigen Blicken erfassen. „Hast du Geschwister?“ Wie er jetzt wohl auf diese Frage kommt? „Ja, einen Bruder.“ - „Ah, sí, ich auch. Älter?“ – „Nein, zwei Jahre jünger.“ - „Beh, wie bei mir.“ Er stürzt den Wein hinunter, bestellt gleich noch zwei Gläser, verlangt Wasser dazu. Wieder erntet er einen skeptischen, ja fast schon abfälligen Blick des Mannes hinter der Theke. Ich will auch gar nicht noch ein Glas, aber er fragt ja nicht. Er wird es schon auch noch hinunterkippen, denke ich mir amüsiert und trinke weiter vom Inhalt meines ersten. „Also hast du Ferien?“, wechselt er erneut das Thema. „Nein, Ferien habe ich nicht mehr.“ -„Dann arbeitest du?“, schlussfolgert er richtig und das klingt nach: Arbeitest du etwa? Lachend nicke ich diesmal. „Wie alt bist du?“, hat er wohl gedacht, ich sei jünger und würde noch zur Schule gehen. „Achtzehn. Und du?“ - „Achtzehn? Ah, du bist noch jung!“ findet er, doch mir scheint, da war ein wenig Ironie mit im Spiel. „Ja, ja, und du?“, nehme ich seinen Ausspruch daher auch nicht so ernst. „Einundzwanzig“, verkündet er so, als wäre ihm das schon viel zu alt. „Ja“, betone ich anerkennend, „da bist du ja wirklich viel älter als ich!“, und freue mich über sein Lächeln. „Also, womit verdienst du dein Geld?“, will er nun doch sehr neugierig wissen und da meine Antwort ihm wieder einmal nicht schnell genug kommt, beginnt er zu raten. „Du machst was mit Kindern!“, versucht er meinem Gesicht zu entnehmen. „Im Kindergarten oder als Lehrerin?“ - „Nein!“ Da hat er etwas in meinem Gesicht missverstanden. „Sekretärin?“, grinst er mich an. „Findest du, ich sehe so aus?“, grinse ich zurück. „OK. Also Hausfrau von zwei Kindern?“ Ach, er gibt schon auf! „Genau!“, bestätige ich ihm und halte ihm mein Glas hin, damit er anstoßen kann daran. „Ich habe die Schule geschmissen, ein Jahr vor dem Abitur“, verrate ich ihm dann gespannt auf seine Reaktion. „Mit achtzehn? Da ist man doch fertig!“, kann er zunächst nicht verstehen. „Ach nein“, erklärt er sich dann aber selber. „Bei euch dauert die Schule bis zum Abitur ja ein Jahr länger als im Rest der Welt.“ Das als weiß er, woher auch immer. „Aber du? Geschmissen?“, traut er mir das wohl nicht zu. „Man, dann haben wir ja etwas gemeinsam. Und jetzt?“- „Verkaufe ich Bücher“, grinse ich. „Echt! Siehst gar nicht so aus!“, meint er es diesmal erstaunlich ernst. „Weil?“, muss ich lachen. „Na, Brille und so“, scherzt er und wird dann nachdenklicher. „Ja, so stelle ich mir Buchhändler vor. Immer in ihre Bücher vertieft“, und dann ergänzt er nach kurzer Überlegung, als müsse er sich selbst noch davon überzeugen, „Na klar! Von morgens bis abends, egal, wo sie sind. Nicht? Immer in so anderen Welten versunken. Du aber bist so nicht! Du bist offen!“ - „Offen?“ Was meint er damit? - „Na, offen, eh!“, will er nicht glauben, dass ich nicht weiß, was er damit sagen will. „Also, als ich dich da im Bahnhof sah, wusste ich sofort, dass ich dich ansprechen kann, verstehst du? Ah, und du hast nicht gelesen!“, triumphiert er. Schön, mit ihm zu lachen. Nichts mehr von dieser unglaublichen Hastigkeit. „Ich dachte wirklich, dass Leute die Bücher verkaufen immer lesen, immer mit der Nase in einem Buch stecken“, sagt er nun wie zur Entschuldigung und tut so, als würde er die seine, die große, ganz tief in eines hineinstecken. „Ach nein, das denkst du nur. Und außerdem verkaufe ich sie ja auch nur. Als Job, um Geld zu verdienen“, erkläre ich ihm. „Hm“, ist er aber noch immer nicht überzeugt oder hat meine letzten Worte vielleicht auch nicht verstanden. „Also, warum hast du nicht gelesen, als du gewartet hast?“ - „Na, ich habe Urlaub!“, finde ich und wir lachen wieder.