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Es war einmal. Zwischen Wilhelm und Adolf, deren kultureller Horizont am teutonischen Stahlhelmrand endete, wurde Berlin von einer Kultstätte dumpfer Selbstherrlichkeit zur europäischen Kulturstadt der zwanziger Jahre.
Ein Grund dafür war gewiss die republikanische Verfassung. Res publica heißt öffentliche Sache, und eine solche ist auch die Kultur. Ein weiterer die Offenheit der Stadt, der Strom in sie hinein, wo sich Heterogenes vermischte: das Eigene mit dem Fremden, Tradition mit Avantgarde, Westliches mit Östlichem, Konservatives mit Radikalem, Südliches mit Nördlichem, Utopie mit common sense, Repräsentatives mit Experimentellem, Hermetisches mit Agitatorischem, Subversives mit Affirmativem, Rot mit Weiß und Schwarz (was auf wundersam alchimistische Weise Gold ergab: die goldenen Zwanziger), Liebesgott Eros mit Schicksalsgöttin Ananke oder Erkenntnisdrang mit Notwendigkeit, welche, so Freud, die Eltern der Kultur sind.
Hierzu ein kurzer Blick in die Bevölkerungsstatistik jener Jahre. 1925 lebten unter 4 Millionen Berlinern 106.500 Ausländer. 22.500 Polen. 17.000 Tschechoslowaken. 15.200 Österreicher. 10.300 Russen. 3.000 Schweizer. 1.400 Engländer. 1.100 Nordamerikaner. 660 Franzosen. Berlin, so wird vorausgesagt, wird in den nächsten 10 Jahren ein Bevölkerungswachstum auf 6 oder 7 Millionen erleben.
Städte, in denen sich eine solch internationale Mischung herstellt, müssen entscheiden, ob sie dabei melting pot oder salad bowl sein wollen. Die Kultur, aus gutem Grund, zieht die Salatschüssel dem Schmelztiegel allemal vor. Wird ein Salat bereitet, werden die Zutaten nicht in eine heiße Pfanne geworfen, verrührt und bis zur Unkenntlichkeit gesotten – die Bestandteile, lediglich gewürzt nach lokaler Sitte und gut gemischt, bleiben sichtbarlich erhalten. Auf solch behutsame Weise könnten wir dann den Berliner Salat haben: vitaminreich, bunt anzusehen und sehr gesund. Multikulturell – so heißt dafür das Mode- und Zauberwort unsrer Tage.
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Kultur, gottlob, lässt sich politisch nicht dekretieren. Sie muss lediglich wachsen dürfen und bedarf dazu des Bodens und eines günstigen Klimas. Ist das gegeben, gedeiht sie nahezu von allein, grünt und blüht und lebt in Konkurrenz und in Symbiose, vereint in Vielfalt und in Widerspruch: ein lebendiger Organismus, vernetzt und verletzlich, und insofern der Pflege bedürftig.
Aha. Spätestens an dieser Stelle hören Politiker die Nachtigall deutlich trapsen. Ganz recht, Kultur kostet Geld. Doch zahlt sie sich auch aus. Was ein Land, eine Stadt für die Kultur tut, wird sie diesen mehrfach vergelten. Städte wie Paris, Amsterdam, Zürich, New York oder Salzburg wissen, was sie an ihr haben. Was ausstrahlt, zieht auch an. Und nicht nur die Touristen. Kultur ist eine Humusschicht, auf der allerlei gedeiht, neue Ideen vor allem. Sie stellt nicht lediglich nur dar, was ist, sie regt an, spielt durch, bereitet geistig vor, was werden soll. Sie erzeugt eine Nachfrage, meint Walter Benjamin, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist. Kultur als Investition in die Zukunft.
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Berlin sucht derzeit Investoren, insonderheit der ramponierte Osten dieser Stadt. Nachdem die Transparente von den Fassaden sind, sieht man die ruinösen Hinterlassenschaften besser. Not aber macht erfinderisch.
Und so hat die neue Kulturverwaltung der ärmeren Stadthälfte einen Kulturatlas entwickelt, der in Europa werben soll für Kulturprojekte. Unter anderem für das Filmkunsthaus Babylon am Luxemburgplatz. Den Prater in der Kastanienallee. Das Projekt Tacheles in der Oranienburger Straße. Die Kulturfabrik Pfefferberg in der Schönhauser Allee. Die Kulturbrauerei Ecke Sredzkistraße.
Da wird zentral avisiert, was künftig dezentral funktionieren soll. Kein Widerspruch: Die neue Verwaltung will, bravo und bravissimo, nicht mehr Obergärtner sein (in der realsozialistischen Vergangenheit, requiescat in pace, waren’s nicht selten die Böcke, die da rigide gärtnerten), der mit Rasenmäher und Herbiziden den Wildwuchs verhindert und jedes Kräutlein, das da unverschämterweise einfach so wachsen will, zum Unkraut erklärt und der Ruhe und Ordnung halber jätet. Jede lebendige Hochkultur wächst von unten auf, vom Boden her. Wer diesen versiegelt, weil ihn das anarchische Gären, das kreative Keimen und das unkontrollierbare Wimmeln in den unteren Regionen beunruhigt, entzieht sich selbst den Nährstoffstrom, trocknet aus, verholzt, stirbt ab und bricht im ersten Sturm des Herbstes. So geschehen 1989.
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Es wird einmal. Die märchenhafte Eingangsformel, ins Futurum gewendet, sieht die Perspektive Berlins entweder als Modellstadt, in der es einen neuen Frieden zwischen Kultur, Ökonomie und Ökologie geben wird, oder als kommerzielle Kapitale, in der so ziemlich alles kollabiert: Verkehr, sozialer Frieden, natürliche Umwelt.
Die Vereinigung der beiden Hälften wird nur dann etwas Neues bringen, wenn es gleichberechtigt, ohne Unterwerfung, abgeht, ohne die triumphale Selbstgerechtigkeit der jüngsten Sieger der Geschichte, die denen im Osten empfehlen, ihre Biografien im nationalen Müllcontainer zu entsorgen und sich flugs ein westliches Outfit zuzulegen. Die Chance besteht im Überwinden des dualistischen Entweder-oder zugunsten des pluralistischen Sowohlals-auch.
Die künftige Kultur Berlins müsste dann den Widerspruch, alternative Ideen, antizipatorische Phantasie und selbst die Gegenkultur nicht mehr als subversiv bemisstrauen, sondern willkommen heißen. Berlin als Heimstatt der Ketzer, Träumer, Fantasten und Experimentatoren. Berlin als Impulsgeber, Forum, Drehscheibe, Schnittpunkt und Fokus östlicher und westlicher Kulturen. Die Kultur als eine Komposition von Zukunftsprojektion und Geschichtsbewusstsein, von Basis- und Hochkultur, von Ernst und Witz, von Produzenten und Destruenten, von kommunalen, freien und kommerziellen Initiativen.
Notwendig wird Berlin dafür ein Talent zur Unordnung brauchen, was hier auf traditionell preußischem Boden zwar schwerfallen, aber nicht unmöglich sein dürfte. Und es braucht den Mut zur schöpferischen Destruktion, dem ständigen Stirb-und-werde alles Lebendigen. Wandel und Wechsel als das Beständige, die Veränderung als das Stabilisierende – so hätte Berlin kulturelle Zukunft.
Mit Glanz. Doch ohne Gloria.
Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 24. Dezember 1990
UNZEITGEMÄßE GEDANKEN
Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Utopielosigkeit. Es folgt dem Brautgang Osteuropas gen Westen auf dem Fuße nach. Die blasse Braut (… nach schwerer Enttäuschung, steht in ihrer noch druckfeuchten Heiratsannonce) eilt ihrem beleibten Bräutigam in die Arme, um sich mit ihm vor den Augen der Welt zu vereinen. Hochzeit ist angesagt in Europa, doch ob es eine Hoch-Zeit werden wird, hängt daran, ob sich die Brautleute eine Perspektive geben, die übers bloße Morgen, über den Vollzug der Kopulation hinausweist, in eine Zukunft hinterm Horizont, der sich im Nähern stets entfernt. Einer Vision wird das vermählte Europa bedürfen, um zu dauern, einer gänzlich neuen, gespeist aus dem reichen gemeinsamen Fundus und den Erfahrungen der Trennungszeit, da die Eheleute der zu tiefen Wasser wegen nicht zueinanderkommen konnten.
Solch ein Entwurf müsste die westlich proklamierte individuelle Freiheit mit der östlich, ursprünglich intendierten kollektiven Gerechtigkeit verbinden. Beides hat es einzeln wirklich und wahrhaftig nie gegeben. Die kollektive Gerechtigkeit pervertierte im Osten zu repressiver Nivellierung, zu einem administrativen Reglement, das nicht etwa, wie tolldreist behauptet, der Menschheit eine Epoche voraus war, sondern zwei zurückfiel: in die Strukturen des Ancien régime. Und der Okzident, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit versprach? Sind dessen hehre Werte in der Praxis nicht zu ungerechter Freiheit bunt verflacht, und wird die im Konsum kollektiv verdrängte Ungerechtigkeit nicht unabweisbar evident, weiten wir den eurozentrierten Blick ins Globale?
Was Ernst Bloch vor 70 Jahren beschrieb, ist heute, leider, noch immer nicht hoffnungslos veraltet.
„Soweit also musste, konnte es schließlich mit uns kommen. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’. Aber dieser Tanz um das Kalb und Kalbsfell zugleich und nichts anderes dahinter war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die armen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat … In uns allein brennt noch dieses Licht, und der phantastische Zug zu ihm beginnt, der Zug zur Deutung des Wachtraums, zur Handhabung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns in Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova.“
Das bloß Tatsächliche: Utopie ist offensichtlich nicht ersetzbar durch Bruttosozialprodukt und Wachstumsraten, nicht durch kurz- oder bestenfalls mittelfristige Politikinhalte, nicht durch Diesseits und Jenseits versöhnende Religionen. Gegen die Macht des Tatsächlichen, gegen die Zwänge des Entweder-oder, in denen wir Täter und Opfer zugleich sind, muss ein Kraut wachsen bei Strafe des Untergangs, der ein Suizid wäre: das heilende und kräftigende Wunderkraut der Utopie, des Hoffens, des Tagträumens nach vorn.
Die Pflanze scheint nur ausgestorben mit dem mondialen Scheitern der missratenen Praxis einer ursprünglich menschenfreundlichen Idee. Und selbst dort lebt sie weiter als utopische Spore, so im marxschen Kernsatz, dass die Freiheit des Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller ist. Sie lebt als Spore in Mythos und Märchen, in den libertinen Sozialutopien wie in der Poesie der Völker, und was 2.000, 3.000 Jahre widrige Wetter überstand, überlebt auch (und ziemlich gelassen) die historisch läppischen 40 Jahre pervertierten Sozialismus. Zwar ist das Bild der Utopie so schwer beschädigt, dass man nicht zu Unrecht meinen könnte, das größte denkbare Übel sei die Realisierung einer Sozialutopie, zwar sind die heroischen Illusionen der Gutgläubigen bitter enttäuscht, der mythische Gehalt pseudowissenschaftlich reduziert von eilfertigen Philosophen, die sich selbst als Ideologieproduzenten bezeichneten, womit sie ihren Salto rückwärts trefflich selbst benannten. Im Kern aber lebt die Spore, verkapselt zwar und ziemlich unansehnlich, doch keimfähig bei klimatisch günstigen Bedingungen. So überlebt die Utopie im Stillen, sie ist vertagt, womöglich gar verjährt, verbannt ins Reich des reinen Wünschens, in die Welt der bloßen Worte, ins Erinnern an das, was kommen soll.
Wärme braucht’s zum Keimen. Und Feuchtigkeit. Ein multikulturelles Biotop, erwärmt von globaler Solidarität, befeuchtet aus den Quellen des Mythischen wie des Antizipatorischen. Und sehr wahrscheinlich beseelt von einer neuen Naivität, die nicht notwendig infantil sein muss, massenhaft bevölkert von einem Geist, wie ihn Charles Fourier beschreibt.
„Der menschliche Geist, der fünfundzwanzig Jahrhunderte lang an dieser Aufgabe gescheitert ist, wird vor einem neuen Kampf gewiss zurückschrecken. Doch wenn Heerführer und Soldaten niedergeschlagen sind, bedarf es zuweilen nur eines Kindes, um neue Hoffnungen zu wecken. Der zehnjährige David richtete Israel auf, als er Goliath besiegte. Jeanne d’Arc, ein einfaches Hirtenmädchen, begeisterte die französische Armee und führte sie zum Sieg … Gerade meine Unscheinbarkeit gibt mir das Recht, die Zügel in die Hand zu nehmen, wenn alle Welt sie schleifen lässt, wenn der menschliche Geist nur noch seine Ohnmacht beklagt und mit Voltaire ausruft: Welch tiefe Nacht umgibt noch die Natur!“
Der Ausgang des Menschen aus dieser selbstverschuldeten Umnachtung als der Beginn eines neuen Age of Enlightenment im geistigen Biotop Europa? Fourier, der Unwissenschaftliche, der Utopist (was die Virtuosen der instrumentellen Vernunft selbstredend synonymisch gleichsetzten), sah diesen Ausgang aus Ohnmacht und Unmündigkeit in der Versöhnung von Nützlichkeit und Vergnügen, in der Synthese von Arbeit und Harmonie und der Kreation sogenannter „sozialer Leidenschaften“. Die Aufhebung der Entfremdung, die befreite Arbeit – eine Utopie, ferner als je. Das Angebot in Ost und West hieß: Freizeit statt Freiheit. Im Westen mehr, im Osten weniger, doch hier wie da zu wenig. Freizeit als Freiheit von Arbeit, als reduzierte Arbeitszeit. Es geht jedoch um die Freiheit der Arbeit selbst.
Wie auch immer die neue Utopie heißen, aus welchen Quellen sie sich speisen und wo auch immer sie entstehen mag, sie wird freiheitlich, ganzheitlich, interdisziplinär und global sein müssen, um konkret zu sein.
Literatur und Poesie waren immer utopische Laboratorien und sie werden es, ist zu hoffen, bleiben. Der beste Teil der deutschen Literatur, die in den letzten 40 Jahren in der nun kollabierten DDR geschrieben wurde, hatte dieses utopische Potential in sich. Vielleicht war es unter anderem das, was sie auszeichnete und was, so wünschte ich, auch nach den Vereinigungen der beiden Deutschländer und Europas, die nicht der Weisheit letzter Schluss sein können, erhalten bleibt.
Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 2/1991
KANT PARS PRO TOTO
Zunehmend ermüdet, empfehlen Beobachter der publizistischen Fehde unter den unierten deutschen Schriftstellern, sie sollten besser Bücher statt Pamphlete schreiben. Nichts wäre wünschenswerter, doch sind die Zeiten nicht so. Noch nicht. Gar zu dreist suchen die einstigen Stützen der DDR-Gesellschaft ihre Vergangenheit durch vorgetäuschte Totalamnesie oder salvierende Legendenbildung zu schönen.
Beispiele gibt es zuhauf und nahezu täglich, vom ausgeflogenen ehemaligen Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, der von einem Schießbefehl nie gehört hat, bis hinunter zum einstigen Zensor, der Manuskripte nunmehr nur deshalb zensiert haben möchte, um die Autoren vor dem Zorn der Partei zu schützen. So infam das ist, Entrüsten nützt wenig, solange man nichts schwarz auf weiß belegen kann.
Einer derer, die derzeit ihre bislang verborgenen guten Taten emsig annoncieren, war vormals die literarische Gallionsfigur des zerborstenen Staatsschiffs DDR: Mitglied des ZK der SED und der Volkskammer, mit Orden, Preisen, Privilegien reich bedacht, langjähriger und letzter Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR. Die Rede ist vom Parteifunktionär Hermann Kant, der auch Schriftsteller war und ist. Man wird sehen, wo dessen Bücher, die allerdings schon jetzt, nach dem Sturm von 1989, wie zerzauste Sperrholzflächen Potjomkinscher Art aussehen, in der kurzen Geschichte der DDR-Literatur platziert werden. Er selbst sähe sich gewiss gern in der Tradition eines Heine oder Tucholsky. Ist jedoch vorstellbar, Heine präsidierte neben Friedrich Wilhelm III. oder Tucholsky neben Hindenburg wie Kant neben Honecker?
Kant ist aus der Zeit gefallen. Noch im Herbst 89, als es längst darum ging, das monströse Ministerium des Generals Mielke ersatzlos abzuschaffen, bot er an, bei diesem in einem Verfolgungsfall einer Kollegin um mildernde Behandlung nachzusuchen: ein anachronistisch systemstabilisierendes Verhalten. Oder sein Auftritt in einer der letzten Volkskammersitzungen, als er gegen das Streichen der Hohlformel „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ eiferte. Das ist gewiss tragisch und wäre der Nachsicht wert, tönte seine Stimme nicht derart schrill aus dem historischen Off. Er hoffte auf eine Marmorbüste im Pantheon des Poststalinismus. Nun wird es vermutlich nicht mal ein Basrelief aus Gips. Kant pars pro toto, als Paradigma für das Vergangene, das noch nicht vergangen ist.
Im NEUEN DEUTSCHLAND, in dem er sich auch vormals schon verbreitete, kündete er vor Kurzem, er hätte sich allen Ernstes als Mittelsmann zwischen Staat und Schriftstellern gesehen, bezeichnete den Schriftstellerverband unter seiner Ägide, auch das allen Ernstes, als legale Plattform der Kritik, klagte ein wenig, es werde ihm und anderen nun Staatsbefestigung vorgeworfen, da sie doch auf Risse in Dach und Fundamenten hingewiesen hätten, plauderte als einer der Genossen Künstler im ZK von deren gelegentlichen Kühnheiten gegen die Kleiderordnung und bezeichnete den Schriftstellerverband in einem etwas älteren Interview als einen Ort auf dem Weg zur Freiheit. Die kantsche Argumentation weist die Richtung der versuchten Legendenbildung. Es ist die Legende von der Eigenständigkeit und kritischen Distanz des DDR-Schriftstellerverbandes und namentlich des Genossen Präsidenten gegenüber dem Machtapparat der SED. Das ist so verständlich wie unwahr. Als er vor Wochen die Dokumentation „Tribunal eines Protokolls – Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979“, die ihn als Chefexekutor vorführt, zu behindern suchte, stellte er irgendwelche Absprachen mit dem ZK der SED in Abrede und meinte, man solle das erst einmal beweisen. Nun gut, ihm kann geholfen werden. Nicht alle Vergangenheit konnten Müllcontainer und Reißwölfe in Modrows Interregnum bewältigen.
So fand sich eine Vorlage für das Politbüro der SED zum X. Schriftstellerkongress der DDR, der im November 1987 stattfand – die Vorlage ist allerdings vom 12. März 1987 datiert und unterschrieben vom Genossen Kant, in trauter Nachbarschaft der Namen Hager und Ragwitz. Obenan prangen zwei nummerierte Stempel, welche das Papier sowohl zur Vertraulichen als auch Persönlichen Verschlusssache erklären. Auch das durchaus verständlich. Unter Betreff lesen wir: Konzeption zur Vorbereitung und Durchführung des X. Schriftstellerkongresses der DDR. Unter Punkt 2: Im September 1987 sind dem Sekretariat die Kadervorschläge für das neue Präsidium vorzulegen. Punkt 3: Für die Vorbereitung und Durchführung des Kongresses wird eine Parteigruppe unter Leitung der Abteilung Kultur des ZK der SED gebildet. Punkt 4: Ein Presse- und Publikationsplan ist den Genossen Hager und Hermann zur Bestätigung vorzulegen. Und weiter hinten ist dann detaillierter zu lesen, wie der Kongress im Herbst auf der Grundlage der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED für die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wirken sollte, indem er eine sozialistisch-realistische Literatur fördert, die von Parteilichkeit, Volksverbundenheit und hohem sozialistischen Ideengehalt gekennzeichnet ist …, sich entschieden mit Versuchen ideologischer Diversion auseinandersetzt, wie zum Beispiel mit Versuchen, das Kulturabkommen zwischen der DDR und BRD im Sinne der These von der Einheit der deutschen Kultur und Literatur zu missbrauchen. Genug der Pein, solch missgestalte Sprache zu lesen.
Das zweite Dokument, datiert vom 5.11.1987, ist die angekündigte Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED. Wieder die Verschlusssachen-Stempel, wieder Unterschriften: diesmal Henniger (die rechte Hand Kants, Nomenklaturkader des ZK) für den Schriftstellerverband, Ragwitz für die Abteilung Kultur des ZK und ein unleserlicher Name für die Abteilung für Kaderfragen des ZK. Betreff: X. Schriftstellerkongress der DDR und Vorschlag für die Zusammensetzung des neuen Präsidiums des Schriftstellerverbandes der DDR. Unter Punkt 1 steht: Der Vorschlag, Genossen Hermann Kant, Mitglied des ZK der SED, als Präsidenten und Genossen Gerhard Henniger als 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR zu wählen, wird bestätigt. Ein dekuvrierender Satz in schönster Arroganz der Macht. In der Anlage 1 werden sodann sämtliche Namen (inklusive Parteizugehörigkeit) für das zu wählende Präsidium aufgelistet, 18 an der Zahl, davon 15 SED-Genossen. Am 9.11.1987 wird die Vorlage, wiederum als Vertrauliche Verschlusssache, bestätigt. Da waren es noch 15 Tage bis zum Kongress.
Und er begann, wie geplant, kaderpolitisch und inhaltlich von der Parteiobrigkeit geprüft und genehmigt. Die Wahl danach war eine ritualisierte Farce, die dem politbürokratisch vorher Abgesegneten im Nachhinein den Schein demokratischer Legitimation verleihen sollte.
Diese Dokumente belegen, dass Kant als Präsident der Schriftsteller im Verbund mit der SED-Führung handelte. Wie aber kann einer „Mittelsmann“ sein, der von der einen Seite der anderen vorgesetzt wird, wie also soll er zwischen etwas vermitteln, was er in Personalunion verkörpert? Eine wahrhaft schizoide Konstellation.
Gewesene DDR-Bürger reagieren freilich auf solche Archivfunde nicht selten mit einem Zucken der Achsel: Ja und, das lief doch überall und immer so. Das Erschreckende an diesen Reaktionen ist das Nichterschrecken, die resignative oder opportunistische Gewöhnung an das Ungeheuerliche, die stillschweigende Akzeptanz des Unnormalen als des Normalen, gegen das ein Aufbegehren über die Jahrzehnte aussichtslos schien. Zu diesem vierzigjährigen Gesellschaftsspiel gehörten jedoch nicht nur die Mimen auf der Bühne oben, sondern auch die Leute im Parkett, und das waren wir, Millionen. Das Problem derer unten war, wie viel an derartigen Zumutungen in der Spannung zwischen Anpassungsarrangement und Desillusionierungsprozess auszubalancieren war, ohne es zum Bruch kommen zu lassen: schwejksche Überlebensmuster, nur eben nicht so lustig. Für die oben gab es andere Zwänge, doch musste keiner diese Rollen spielen, zumal an exponierter Stelle nicht. Wer es ohne Not dennoch tat und wollte, da er offensichtlich Ambitionen hatte, muss damit leben, dass ihm nun die alten Textbücher vorgehalten werden.
Dass dann zum Kongress im November 1987 nicht alles so reibungslos lief, wie die Dramaturgen ins Szenario geschrieben hatten, und gar ein Kollege ins prästabilierte Präsidium hinzugewählt wurde, der nicht auf der Liste stand, lag am wachsenden Unmut der Basis und der unkäuflichen Moral solcher Kollegen wie Günter de Bruyn oder Christoph Hein, die dort ihre Reden gegen die Zensur hielten. Kant, volten- und wortreich wie üblich, sprach damals dagegen und erfüllte so die höheren Orts gehegten Erwartungen an seine Regie.
Der Film ist abgedreht, unwiederholbar, Ort und Zeit der Handlung sind vergangen, Kostüme, Kulissen und Requisiten auf dem Müll der Geschichte gelandet, und weder das Retuschieren am Negativ noch das Basteln am Abspann vermag am gründlichen Misslingen noch etwas zu ändern.
Letzter Satz in dieser Sache: Auch wenn es notwendig war, dies zu schreiben, so geschah es dennoch ohne Freude.
Zuerst veröffentlicht: FAZ, 8. Mai 1991
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