Читать книгу: «Aufbruch. Neue Wege gehen in Gesellschaft und Landwirtschaft»

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Der Autor

Joachim Schaffer-Suchomel, Jahrgang 1951, ist Diplom-Pädagoge, Sprachexperte, Coach und Autor. Nach dem Studium der Pädagogik lehrte er an verschiedenen Universitäten in erziehungs- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. Er arbeitet vorwiegend mit Führungskräften in Wirtschaft, Verbänden, Politik und sozialen Organisationen als Coach zur Organisationsentwicklung, Teamentwicklung und Konfliktlösung. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse liegen dem Autor am Herzen.

1995 gründete er mit seiner Frau Michaela Suchomel das Coachinginstitut brainfresh. Der Autor begleitet Menschen bei der Gestaltung ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Entwicklung der Persönlichkeit.

2019 gründete er mit gleichgesinnten Landwirtinnen und Landwirten, Verbandsvertreterinnen und Verbandsvertretern und an einer Agrarwende und gesellschaftlichen Wende interessierten Menschen den Verein Allianz für Gesellschaft und Landwirtschaft (Allianz GLW).

Joachim Schaffer-Suchomel

AUFBRUCH

Neue Wege gehen in Gesellschaft, Wirtschaft und Landwirtschaft


© brainfresh Verlag für frisches Denken

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Grafiken: Philipp Tögel, Berlin

Lektorat: Horst Christoph, Erlangen

Layout und Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN: 978-3-9822326-0-7

www.brainfresh.net

Inhalt

Eine kleine Geschichte …

Der Aufbruch

Krisen verstehen

Entwicklungsprozesse verstehen

Persönliche Entwicklungsprozesse verstehen

Kollektive Entwicklungsprozesse verstehen

Die Kurve bekommen, aber wie?

Das Ende vom Hoffen auf andere

Neue Wege gehen, aber wie? Best practice!

Das Neue fokussieren – ein Erfolgsprinzip

Stufen der Gemeinsamkeit

Die Kurve bekommen: die Agrarwende

Klimawandel und Umweltzerstörung

Raus aus der Opferrolle

Der Dialog

Alte Vermarktungsstruktur – neue Vermarktungsstruktur

Die Wende: eine Bewegung entsteht

Anhang

Quellennachweise/Zitate

Literatur

Dank

Autor

»Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«

Victor Hugo,

französischer Schriftsteller und Politiker

(1802 – 1885)

Dieses Buch, das letztlich

auf ein enkeltaugliches Wirtschaften

einer Gesellschaft hofft und hinwirkt,

widme ich meiner Enkelin Lia und

meinem Enkel Jakob.

Eine kleine Geschichte …

wie es zu diesem Buch kam. Joachim, der Autor, ist Referent der Verwaltungsakademie des österreichischen Bundeskanzleramts. Eine Mitarbeiterin des Ministeriums für Nachhaltigkeit kannte Joachim aus Seminaren, und sie kannte Manfred Hohensinner, den Mitbegründer und Geschäftsführer der österreichischen Frutura-Thermal-Obst- und Gemüsewelt. Sie vernetzte die beiden, weil sie wusste, dass die sich gut verstehen würden. Manfred las drei Artikel von Joachim zu den Veränderungsprozessen in Gesellschaft und Landwirtschaft – mit Gänsehaut, wie er Joachim beim ersten Telefonat erzählte. Gänsehaut, weil die Gedanken zu einem Aufbruch und einer Wende in Gesellschaft und Landwirtschaft 1:1 mit seinen Erfahrungen im Obst- und Gemüse-Anbau und der Vermarktung übereinstimmten. Wörtlich sagte er Joachim: »Das, was du hier beschreibst, habe ich teils unbewusst in der Praxis ziemlich einzigartig mit meinem Frutura-Team umgesetzt.« Unglaublich, aber wahr! In vielen Gesprächen zwischen Manfred und Joachim und den Kolleginnen und Kollegen des Vereins Allianz für Gesellschaft und Landwirtschaft (Allianz GLW) entwickelte sich Schritt für Schritt dieses kleine Buch.

Manfred Hohensinner hat zusammen mit Joachim Schaffer-Suchomel und weiteren fünf Pionieren die Allianz für Gesellschaft und Landwirtschaft gegründet. Der Autor begleitet unter anderem das Frutura Bio-Bienenapfel-Projekt, und das »Meine Milch«-Projekt. Weitere Beispiele, die zeigen, dass ein enkeltaugliches Landwirtschaften möglich ist. Heute!

Der Aufbruch

Unsere Gesellschaft ist im Umbruch. Es kriselt. Warum dann aber Aufbruch, ausgerechnet in einer Krise? Wäre es nicht besser, erst einmal abzuwarten, bis das Gewitter vorbeigezogen ist? Überhaupt nicht! Umbrüche sind ein Teil von neuen Entwicklungen. Möglichkeiten, die sich aus einem Umbruch ergeben, sind Zusammenbruch oder Aufbruch. Abwarten würde den Zusammenbruch begünstigen. Wenn Altes vergeht, entsteht Neues. Altes vergehen zu lassen, braucht den Blick auf das Neue und das Sich-Freuen auf die neue Zukunft, damit wir den neuen Weg überhaupt einschlagen. Ein klarer Blick und Freude sind die wichtigsten Bedingungen für die Weichenstellung in eine neue Zeit.

Aufbrechen und verbinden: Die Allianz für Gesellschaft und Landwirtschaft

Wenn die Zeit reif ist, beginnen Menschen, die auch gerne reifen, aufzubrechen und sich mit Gleichgesinnten zu verbinden. So geschehen in der Allianz für Gesellschaft und LandWirtschaft (Allianz GLW).1 Was sind das für Leute in der Allianz GLW? Es sind Mitglieder von Verbänden und Organisationen, aus Landwirtschafts- und Umweltverbänden und sonstigen Organisationen. Es sind Menschen, Bürgerinnen und Bürger, Bäuerinnen und Bauern, die sich in diesem Nonprofit-Verein vereint haben und gemeinsam Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Landwirtschaft anstoßen.

Die Allianz GLW wurde 2017 ins Leben gerufen. Im Dezember 2019 fand in Berlin mit sieben engagierten Teilnehmern die Vereinsgründung der Allianz GLW statt. Teilnehmer! Wir konnten keine Teilnehmerinnen gewinnen, sich in der Allianz GLW als Mitglied im Kernteam stark zu machen und zu engagieren. Das hat damit zu tun, dass gerade in landwirtschaftlichen Verbänden meist Männer das Sagen haben. Dem Kernteam der Allianz GLW ist bewusst, dass der gesellschaftliche Strukturwandel nur mit einer ausgewogenen Verteilung von Frauen und Männern in Führungspositionen möglich sein wird. Auch die Allianz GLW braucht Frauen und sucht Frauen, die sich engagieren möchten! Hallo, das ist ein Aufruf!

Welches Ziel verfolgt die Allianz GLW?

Die soziale Marktwirtschaft hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Unser Wirt ist die Natur, wir sind die Gäste. Es braucht den dritten im Bund: die Ökologie, damit sozial-ökologisches (Land-)Wirtschaften möglich wird. Das gilt für die gesamte Wirtschaft, die momentan auf Kosten der nächsten Generationen unterwegs ist. In der bisher dreijährigen Entwicklung der Allianz GLW haben Denken und Handeln des Kernteams und des erweiterten Teams eine gemeinsame Linie gefunden. Der rote Faden dieses Denkens ist die Grundlage dieses Büchleins, das zum Aufbruch Mut machen will. Es ist höchste Zeit!

Krisen verstehen

Was uns die Sprache und das Leben über Krisen erzählen

Im Chinesischen heißt Krise weiji . Die beiden Schriftzeichen vermitteln eine doppelte Botschaft: wei, das erste Zeichen, heißt Bedrohung, Gefahr. Es erinnert an das deutsche umgangssprachliche auwei. Auwei oder auweia sagt unser Bauch, wenn es schmerzhaft ist. Das deutsche wei lehnt sich an das Wort weh an, das für Schmerzen steht, beispielsweise wenn eine Schwangere in den Wehen liegt. Allerdings geht weh auf die Wehe zurück, die der Wind macht. In Krisenzeiten weht keine leichte Brise, es könnte windig werden. Auch Orkanböen sind nicht ausgeschlossen. ji, das zweite Schriftzeichen, bedeutet Chance, guter Zeitpunkt für eine Wende, für eine Gelegenheit. Aus einer Krise kommen wir heraus, wenn wir bereit sind, der Gefahr ins Auge zu sehen und uns auch auf schmerzhafte Prozesse einzulassen. Chancen ergeben sich aus gutem Reflektieren und aus der Wahl des richtigen Zeitpunkts, um die Gelegenheit nicht zu verpassen, sondern beim Schopf zu fassen.

Das griechische krisis heißt »entscheidende Wendung«. Eine Wende kann gelingen, wenn wir bereit sind, Entscheidungen zu treffen. Das heißt, wenn wir bereit sind, uns von Altem zu trennen, damit wir Neues beginnen können. Kurzum, eine Wende zum Guten kann gelingen, wenn wir Verantwortung übernehmen und die Initiative ergreifen. Warten, dass die Krise vorüberzieht, ist eine Illusion und fördert eine Wende zum Schlechten. Schlechte Stimmungen mögen vorüberziehen, nicht aber entwicklungsbedingte Krisen. Eine solche Illusion ist das Warten der Milchbauern, der Milchpreis möge dauerhaft steigen. Das Warten der landwirtschaftlichen Verbände und das Hoffen der Bäuerinnen und Bauern, das Höfesterben würde wie Corona irgendwann einmal aufhören, ist eine weitere solche Illusion – mit dramatischen Folgen. Doch Hoffnung gibt Halt. Sie stirbt bekanntlich zuletzt. Diese Hoffnung stirbt nach den Höfen.

Das lateinische crisis dient »als Terminus der medizinischen Fachsprache zur Bezeichnung des Höhe- und Wendepunktes einer Krankheit«.2 Krankheit ist ein schmerzhafter Stopp und damit der erste Schritt zur Heilung. Der Kosmos, das Leben, hat das so eingerichtet, damit wir uns nicht völlig verirren und eine Wende zum Guten gelingen kann. Sogar wenn wir das, was geschieht, oft nicht als Chance erkennen können. Covid 19, Corona, ist ein solcher Stopp, der Gesellschaft und Wirtschaft im Lockdown fast völlig herunterfahren ließ, aber auch die Chance einer Heilung der erkrankten Gesellschaft ermöglicht. Ein solcher Lockdown kann heilsam sein. Eine Gesellschaft im Wachstumsrausch ist nicht zu stoppen. Danke also, Leben!

Was uns eine Pandemie erzählt

Covid 19, genannt Corona, ist eine Pandemie, ein sich kollektiv verbreitender Virus. Oh Gott, oh Gott, sagen da viele. Doch Krankheit kann ein Weg der Heilung und Erkenntnis sein. Krankheit ist ein Korrektiv der Natur auf persönlicher und auf gesellschaftlicher Ebene. Wie im Kleinen, so im Großen!

Auf persönlicher Ebene führt die ungebremste Leistungsgesellschaft mit ihrer Individualisierung in Aktionismus und Vereinzelung – Menschen sehen vorwiegend nur noch sich selbst und sind getrieben von der Angst, im Konkurrenzkampf die Leistung, die erwartet wird, nicht bringen zu können und zu versagen. Es folgen Erschöpfung, Burnout, Lähmung – nichts geht mehr!

Wie gesagt, setzt Krankheit einen Stopp, damit der Patient zur Besinnung kommen und mit seinen Sinnen wieder den Sinn finden kann. Der vom Leistungsdenken getriebene Patient, dem alles nicht schnell genug gehen kann, muss sich in Geduld üben. Patient geht auf das lateinische patientia zurück und bedeutet Geduld.

Auf gesellschaftlicher Ebene führen übersteigertes Leistungsdenken, Effizienzsteigerung und Gewinnmaximierung auf Dauer in einen kollektiven Kollaps: Die Natur erkrankt, die Welt bekommt Fieber und das ökologische System bricht über kurz oder lang zusammen. Oder eine Pandemie kommt um die Ecke und zwingt uns, unser Treiben zu stoppen. Der Corona-Virus offenbart, dass nicht nur die Natur erschöpft ist, sondern die ganze Gesellschaft auf einen Burnout zusteuert. Oft passiert es, dass Menschen im Urlaub als Erstes krank werden und sich hinlegen müssen. Auch im Corona-Zwangsurlaub spürten viele, wie erschöpft sie im Grunde waren. Die Natur gleicht aus, auch in Form von Krankheiten.

Leistungsgesellschaft und Individualisierung brauchen als Gegengewicht ein Wir-Gefühl und Lebensfreude, die insbesondere durch dieses Wir ausgelöst wird. Das setzt Respekt füreinander, Wertschätzung und Achtsamkeit voraus. Was nützen uns all die Erfolge, wenn wir uns alleine freuen müssen? Der griechische Reeder und Milliardär Aristoteles Onassis, der in den 50er-Jahren eine Flotte von 900 Schiffen und Öltankern besaß, soll den Unterschied zwischen einem Reichen und einem Armen so erklärt haben: »Ein reicher Mann ist ein armer Mann mit viel Geld.« Das zeigt, Geld an sich macht nicht glücklich, auch nicht viel Geld! Was nützen die Gewinne, wenn wir so viel verdienen, dass wir es nicht mehr ausgeben können? Vor allem aber, wenn diese Gewinne auf Kosten anderer gemacht und Menschen in arm und reich geteilt werden und wir mit unseren Gewinnen Leid in der Welt verursachen? Gewinner produzieren Verlierer! Das ist das alte System!

Krankheiten und Krisen haben eine Symbol- und Signalwirkung. »Symbol« kommt aus dem Griechischen und bedeutet Zusammengefügtes. Krankheitssymbole zeigen, wie die Dinge zusammengehören und wie wir Getrenntes wieder zusammenfügen können. Die Corona-Krankheit sendet Signale, was Menschen und Gesellschaft in dieser Situation brauchen. Corona bedeutet Krone, Kranz und bezeichnet auch eine Gruppe von Menschen, die etwas gemeinsam unternehmen. Krone und Kranz bilden einen Kreis, der ein Wir-Gefühl symbolisiert. Leistungsdenken und Individualisierung brauchen, wie schon gesagt, als Gegenpol ein Wir-Gefühl und Lebensfreude.

Ein Wir-Gefühl geht einher mit Mitgefühl und zeigt, dass wir uns mit Gefühl begegnen. Wir-Gefühl steht für ein Win-Win-System. Verlierer sind in diesem System nicht vorgesehen. Lebensfreude schließt alle ein. Das ist das neue System!

Corona ist nur eine kleine Krise im Blick auf Klimawandel und Umweltzerstörung. Denken wir auch an die Zukunftsszenarien der von Menschenhand gemachten Umweltzerstörung von unglaublichen Ausmaßen? Werden diese noch händelbar sein wie Corona? Wenn wir weltweit den Naturgewalten ausgeliefert sein werden, dem Anstieg des Meeresspiegels, den Orkanen, den Dürren und Überschwemmungen, den Folgen von Bodenerosion und Humuszerstörung sowie den bisher nicht kalkulierten Folgen einer 5 G-Mobilfunktechnik (fünfte Generation Mobilfunk)?3 Das alles wird dann nicht mehr händelbar sein!! Auch wenn Macherinnen und Macher des alten Systems uns immer wieder das Gegenteil versichern: »Nur keine Hysterie!« Den Beweis soll der gelungene Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands nach 1945 liefern. Wir stehen wieder auf! »Nano-Food« als Rettungsanker.4 Plan B für die nächste Cash-Generation. Illusionen, denen wir uns nicht hingeben sollten!

Wir können uns an Bilder aus den Medien erinnern, die zeigen, dass für viele Menschen, die auf Inseln in Asien leben, die drohende Umweltzerstörung längst Wirklichkeit geworden ist. Sie haben alles verloren. Erfahren sie Hilfe von den Industrienationen, den größten Verursachern des Klimawandels? Diese Menschen stehen nicht auf der politischen Agenda.

Corona birgt die Gefahr, dass sich nach der Krise die alten Denkmuster wieder breitmachen und die alten Geister wieder die Macht ergreifen. Schnell rutscht eine Gesellschaft in die alten Fahrspuren zurück. Eine Geschichte erzählt von einem nach 20 Jahren Gefängnis entlassenen Häftling, der nach einigen Monaten in Freiheit Geburtstag hatte. Was machte er? Um seinen Geburtstag feiern zu können, besuchte er seine alte Heimat, das Gefängnis, und bat um Einlass. Der wurde ihm verweigert, so dass er erklärte, er würde notfalls auch eine Straftat begehen, um wieder aufgenommen zu werden. Wo der »Ehemalige« seinen Geburtstag feierte, wissen wir nicht. Doch die Geschichte zeigt die Macht der Gewohnheit. Viele wollen weitermachen wie gewohnt, wollen Versäumtes nachholen. Doch solche Mächte können gefährlich werden!

Corona bietet aber auch die riesige Chance: neu zu spüren und neue Spuren für einen neuen Weg zu legen. Also Mitgefühl und Weitblick zu entwickeln und Veränderungen in Gang zu bringen, die neue Formen des Zusammenlebens und ein sozial-ökologisches Wirtschaften und Landwirtschaften ermöglichen.

Modell: Der ausgleichende Gegensatz


Kollektive Krisen auch in der Landwirtschaft verstehen

Die Gesellschaft, unsere sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme sind erkrankt. Die soziale Marktwirtschaft bekommt Risse und Löcher. Große Löcher. Abgründe tun sich auf. Auf der einen Seite droht ein Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichts. Verschiedene gesellschaftliche Bereiche sind in einem Zerfallsprozess. Das Höfesterben in der Landwirtschaft, die Auflösungserscheinungen mittelständischer Betriebe, die beispielsweise ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, sind höchste Alarmzeichen. Die ansteigende Kinderarmut ist ein weiteres Alarmzeichen. Kinder sind unsere Zukunft. Weder Kinder noch Zukunft scheinen wir im Blick zu haben. Auch die Politik blickt es nicht. Das ist Bedrohung, Gefahr.

Wir sagen, es »kriselt« – das bedeutet, wir spüren es schon rieseln und bröckeln. Die Volksparteien kriseln und bröckeln zugunsten der AfD, die vorgaukelt, eine Alternative für Deutschland zu sein. Auch das ist eine Gefahr.

Andererseits tun sich für uns Chancen auf, in eine neue Zeit, in eine neue Entwicklungs- und Bewusstseinsstufe aufbrechen zu können. Alte Denk- und Verhaltensmuster brechen in Umbruchzeiten auseinander, sogar Machtblöcke zerfallen. Eindrucksvolles Beispiel war der Zusammenbruch der Sowjetunion 1985. Michail Gorbatschow5 erkannte die Notwendigkeit der Umstrukturierung der Sowjetunion (Perestroika)6 sowie einer neuen Offenheit und Öffentlichkeit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung (Glasnost).7 1989 folgte dem das Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die Montagsdemonstrationen mit der legendären Parole »Wir sind das Volk!« zeigten unüberhörbar, dass die Zeit reif war, Verantwortung zu übernehmen. Bürgerinnen und Bürger nutzten die Zeit, brachen auf und schafften, was niemand für möglich hielt: die friedliche Wende.

Entwicklungsprozesse verstehen

Exponential- und Sättigungskurven – und welche Gefahren sie verstecken

Die Mathematik stellt das Phänomen von Entwicklungsprozessen in zwei grafischen Kurven dar – einer Exponentialkurve und einer Sättigungskurve.

»Reale Wachstumsprozesse, egal ob bei Bäumen, Bakterien oder Bevölkerungen, verlangsamen sich im Laufe der Zeit, beispielsweise, weil sich die Umgebungsbedingungen verschlechtern (Nahrung, Energie, Müll …) oder es einfach biologische Grenzen gibt, wie beispielsweise der Wassertransport in die Baumwipfel. Der anfängliche exponentielle Anstieg (Stichwort: Exponentialfunktion) verlangsamt sich, die Kurve (…) flacht ab und erreicht letztendlich früher oder später einen Sättigungswert. Dieses Verhalten kann man mathematisch modellieren, indem das (anfängliche) Wachstum durch eine Art Depressionsanteil abgeschwächt wird. Diese Depression kann durch eine Konstante, die in der Regel sehr klein ist und erst nach längerer Zeit Wirkung zeigt, ausgedrückt werden.«8

Modell: Die Exponentialkurve9


Modell: Die Sättigungs-Kurve10


Auch im menschlichen Verhalten drückt sich dieser »Depressionsanteil« in einer Sättigung aus. Wohlstand kann satt und träge machen. Mit Mangel haben wir gelernt, umzugehen. Mit Fülle nicht. Aus der Fülle wird Völle. Die Motivation lässt nach, das Gefühl von Sinnlosigkeit breitet sich in uns aus, Resignation kommt auf und endet nicht selten in Depression. »Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Insgesamt sind 8,2 %, d. h. 5,3 Millionen der erwachsenen Deutschen (18 bis 79 Jahre) im Laufe eines Jahres an einer unipolaren oder anhaltenden depressiven Störung erkrankt.«11 Auch die Zahlen in Österreich lassen nicht hoffen. »Fast eine halbe Million Österreicher leiden an Depressionen. Viele überleben sie, manche aber nicht. 2011 gab es 1286 Suizidtote – im Vergleich dazu starben 537 Menschen bei Verkehrsunfällen.«12Zur Sättigung kommt hinzu, dass der Druck in unserer Leistungsgesellschaft wächst. Viele Menschen, auch viele junge Leute sind diesem Stress nicht mehr gewachsen, weil sie oft viel sensibler sind als ihre Eltern. Die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen zeichne(te)n sich dadurch aus, dass sie aushalten und durchhalten gelernt haben. Nicht nur zu ihrem Vorteil. Über Generationen unterdrückte Emotionen aufgrund traumatischer Kriegserlebnisse drängen jetzt in den jungen Generationen zur Lösung. Verdrängen funktioniert nicht mehr. Das neue Krankheitsbild »Burnout« trifft immer öfter jüngere Menschen, die teilweise schon mit 20 Jahren und sogar früher völlig ausbrennen. Sie werden krank. Dagegen bleiben die jungen Menschen gesund, die sich krankmachenden Denk- und Handlungsmustern verweigern. In Bewerbungsgesprächen betonen junge Kandidatinnen und Kandidaten immer öfter die Notwendigkeit ihrer »Work-Life-Balance«, also Leben und Arbeit im Gleichgewicht zu halten.

Krank macht besonders, dass in einer Leistungsgesellschaft für Gefühle kein Platz ist. Gefühle werden kollektiv unterdrückt. RATIO FIRST. Dieses Ungleichgewicht zwischen Verstand und Gefühl macht Menschen unweigerlich krank. Die Depressionen von Einzelnen können auf lange Sicht in wirtschaftliche Depressionen münden. Resignation und Depression lähmen und führen zu Blockaden, die auch das Kaufverhalten dämpfen werden. Eine Kompensation ist dann nicht mehr möglich. Eine Endstufe ist erreicht. Dem Goldrausch, dem Cash, folgt unweigerlich der Crash. Ein Automatismus.

Unsere Bewusstseinsentwicklung: Der lange Weg zum Wir-Bewusstsein

Sehen wir uns die wichtigsten Etappen der Entwicklung des Bewusstseins in der Menschheit an. Die Menschheit zeigt eine langsame Bewusstwerdung. Das Prinzip »Im Kleinen wie im Großen« gilt auch hier: Auch in seiner individuellen Entwicklung erwacht der Mensch erst allmählich. Es dauert, bis das Neugeborene auf der Erde angekommen ist und alle Reize wahrnehmen kann. Ein Filter schützt vor Reizüberflutung. Es dauert, bis ein Kind auf eigenen Beinen stehen kann und bis Pubertierende sich von ihren Eltern lösen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Am längsten dauert es, bis ein erwachsener Mensch sein Wissen über das Leben allmählich in Weisheit verwandelt und zum Vorbild wird für folgende Generationen. Das gelingt nicht vielen.

Die Entwicklungen der Menschen im Großen zeigen sich auch in der geschichtlichen Entwicklung der Bauernschaft: Hier sehen wir den langen Weg vom Leibeigenen zum Unabhängigen und schließlich zu freien, sich selbst bestimmenden Bäuerinnen und Bauern. Die Abhängigkeit der Bauernschaft von Wirtschaft, Politik und globalen Märkten ist derzeit riesig. Ein Großteil der Bauernschaft weigert sich, zu verstehen, dass es nicht zum Erfolg führen kann, zu warten, dass da jemand kommt, sie befreit und ihnen ihre Freiheit verkündet. Sie schimpfen und meckern über die Verhältnisse, liefern aber weiterhin brav ihre Produkte beim Handel ab in der Hoffnung, dieser würde endlich gut für sie sorgen und einen fairen Preis erzielen. Für sie!

Es dauert, bis die Bauernschaft sich endlich zusammenschließen und aufstehen wird, bis sie selbstbewusst ihren Preis verlangt und dem Handel die Chance gibt, ihre Ware zu verkaufen. Was macht ein Handel ohne Ware? Wenn Bäuerinnen und Bauern – zusammen mit der Gesellschaft, zusammen mit den Kunden – den Aufbruch wagen, erst dann überwinden sie ihre Pubertät! Auch Bürgerinnen und Bürger sind größtenteils in der Vorpubertät stecken geblieben. Auch sie übernehmen nicht die Verantwortung. Die Bezeichnung »Verbraucher« hat mit Bewusstsein nichts zu tun. Kaufen und verbrauchen. Verbraucher ist ein verbrauchtes Wort. Klimafreundliches und enkeltaugliches Konsumverhalten zu etablieren, ist ein Thema für die ganze Gesellschaft. Selbst wenn es höchste Zeit ist für einen Wandel, bedenken wir, dass auch die Pubertät in der individuellen Entwicklung bis ins fünfte Jahrsiebt (also 5 mal 7 …) dauern kann; beschrieben wird dieses Thema im Abschnitt »Die Siebener-Schritte im Leben«.

Im Folgenden beschreiben wir die Schritte vom kollektiven, gesellschaftlichen über das individuelle Bewusstsein zu einem Wir-Bewusstsein und Win-Win-Denken.

Dem kollektiven Bewusstsein, wie wir es heute noch in Naturvölkern z. B. bei den Aborigines Australiens vorfinden, folgte das direkte Gegenstück, die Entwicklung des individuellen Bewusstseins. Eine Entwicklung, die sich über viele Jahrhunderte erstreckte. Kollektiv und individuell sind entgegengesetzte Qualitäten, gegensätzliche Pole. Diese »Polarität« prägt alle Entwicklungen. Das griechische pólos bedeutet Achse, Drehpunkt und das griechische pélein heißt in Bewegung sein. Pole stehen niemals still. Ohne Pole gäbe es keine Bewegungen.

Der Volksmund weiß, Gegensätze ziehen sich an. Das bedeutet, dass durch gegensätzliche Pole Kraft entsteht, Lebensenergie. Das beste Beispiel: Frau und Mann sind Gegensätze, die sich anziehen und viel Energie erzeugen können, so viel, dass aus Liebe neues Leben entstehen kann.

Das Kunststück in der Bewusstseinsentwicklung besteht darin, aus kollektivem und individuellem Bewusstsein Neues und Höheres entstehen zu lassen, das beide Qualitäten in sich vereint. Das Ergebnis einer solchen Wende, einer Zeitenwende, nennen wir Wir-Bewusstsein. Aus diesem Bewusstsein entsteht ein neues Wir-Gefühl, ein neues Miteinander und Füreinander und – soziale Verantwortlichkeit auch in der Wirtschaft.

Bekannt ist dieses neue Herangehen als Win-Win-Denken. Eine hohe Ethik, die den Anspruch hat, dass mein wirtschaftliches Handeln auch ein Gewinn für andere Menschen und die Natur ist. Das erinnert an den sogenannten Kant’schen »Kategorischen Imperativ«: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«13

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9783985223503
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