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14

„Sie sehen ja schrecklich aus!“

Professor Hardenberg blickte Karl ein wenig ungläubig an.

Aus dem Gesicht in der Farbe eines Briekäses stachen Bartstoppeln wie Antennen hervor. Die Tränensäcke übertrafen den Durchmesser der Augen um ein Vielfaches und der Rücken bog sich wie unter einem Zementquader.

„Was haben Sie denn bloß gemacht? Sie sehen aus wie ein Schmerzpatient.“

Der Professor führte Karl am Arm in sein Zimmer und drückte ihn in einen der Ledersessel.

„Nichts“, kam es leise über Karls Lippen, „absolut nichts. Genau wie besprochen.“

Hardenberg nickte und kritzelte etwas in ein Notizbüchlein, bevor er sich auch setzte.

„Warten wir noch kurz, bis Dr. Kiefer kommt“, murmelte er und ließ den Bleistift zwischen seinen Fingern wippen.

Fühle mich ganz übel. Was werden die wohl von mir denken? Erfülle ich ihre Erwartungen? Wahrscheinlich ist das Projekt jetzt schon an seinem vorzeitigen Ende angelangt. Es ist einfach undenkbar, dass man noch weiteres Geld in die zunehmende Verwahrlosung eines Versagers steckt. Dann halt doch wieder Paketdienst oder Baustelle.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und Dr. Kiefer betrat das Büro.

„Na junger Freund, wie bekommt Ihnen der Trank der Götter?“

Sehr witzig. Spar dir deine geistreichen Kommentare.

„Sehen Sie mich an, die Langeweile beginnt mich von innen heraus zu zerfressen“, erwiderte Karl bitter und blickte die beiden Projektleiter finster an.

„Aber, aber“, beschwichtigte Kiefer, „wer hat denn gesagt, dass Sie sich langweilen sollen. Sie sollen lediglich nicht arbeiten.“

„Das scheint aber aufs Gleiche hinaus zu laufen“, brummte Karl, „Ich habe wirklich alles versucht. Musik hören, Fernsehen, Computer, Einkaufen!“

„Das ist schon alles? Versuchen Sie es doch mal mit…“

„Nein Herr Kollege“, unterbrach ihn Hardenberg, „keine Hilfestellung.“

„Sie haben Recht, Professor. Entschuldigen Sie.“

Kiefer wandte sich ab und lief vor dem Bücherregal hin und her.

Allein, ich bin völlig allein. Die interessieren sich gar nicht für mich. Was wollen die bloß von mir? Ich sitze hier wie ein Sack Dörrobst und die verbieten sich gegenseitig mir irgendwelche Hilfestellungen zu geben. Mann, ich weiß nicht mehr weiter.

Hardenberg schien Karls Gedanken gelesen zu haben.

„Jetzt machen Sie sich mal nicht so viele Sorgen, Herr Grün. Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dass der Anfang schwierig wird, war uns allen klar.“

„Mir nicht, um ehrlich zu sein. Und Anfang von was denn?“

„Das werden Sie dann sehen“, sagte Hardenberg milde lächelnd, „Glauben Sie mir, Sie brauchen sehr viel Geduld.“ Seine Augen hatten wieder diese eigenartige Leuchtkraft.

„Wofür? Um zu sehen, wie ich mich in ein psychisches und soziales Wrack verwandele?“

Karl klammerte sich mit beiden Händen an die Armlehnen des Sessels.

„Vielen Dank, aber dann sollten wir dieses Projekt vielleicht beenden.“

„Herr Grün, seien Sie doch nicht so verkrampft.“

Dr. Kiefer drehte sich wieder zu Karl.

„Sehen Sie es doch einfach als Geschenk. Sie bekommen Ihr Geld und können tun und lassen, was Sie wollen. Der Frühling steht vor der Tür. Setzen Sie sich unter einen Kirschbaum und geben Sie sich der Muße hin!“

„Muße! Ich kann dieses Wort langsam nicht mehr hören“, entfuhr es Karl. „Das ist doch alles Mumpitz!“

„Und so leuchtet denn ein, dass man auch für den würdigen Genuss der Muße erzogen werden und manches lernen muss, und dass diese Seite der Erziehung und des Unterrichts ihrer selbst wegen da ist, während das, was für die Arbeit gelernt wird, der Notdurft dient und Mittel zum Zweck ist“, sagte Hardenberg und zog seine Stirn nachdenklich in Falten.

„Bitte was?“

Karl blickte den Professor verständnislos an.

„Aristoteles“, antwortete Hardenberg ruhig, „aus seiner ‚Politik’!“

Das ist ja wie beim Laienfilm hier. Und ich bin nur Komparse. Der Regisseur pennt und das Drehbuch haben sie auf der Rückbank des Nachtbusses vergessen. Oder ich habe offensichtlich im Studium doch zu häufig gefehlt. Denn diese Philosophiedozenten hier sind absolut und ganz sicher nicht mehr ganz im Takt.

„Machen Sie sich nichts draus“, ergriff Kiefer das Wort. „Wenn es gar nicht klappt, dann denken Sie daran, die meisten Menschen sind nicht geeignet, nichts zu machen.“

„Ist das jetzt von Ihnen?“

„Nein, Kästner!“

Keine Ahnung, welcher Tag

Na, das war ja ein brillantes Meeting mit meinen Koryphäen aus der Forschung. Ich bin genauso schlau, wie vorher. Und freue mich schon auf weitere Wochen endloser Langeweile bis zu unserem nächsten Treffen. Aber mit Zitaten um sich werfen, das können sie. Statt mir einfach zu sagen, was ich tun soll. Nein, alles wird in Rätsel verpackt. Ich bin wirklich stinksauer. Noch so ein Monat und die können ihr Projekt vergessen.

Und dann noch dieser merkwürdige Traum: Ich saß in einem Park auf einem Maulwurfshügel, plötzlich sah die Umgebung aus wie eine Mischung aus Garten Eden und Schlaraffenland, es fing an zu regnen, aber aus den Wassertropfen bildeten sich mit einem Mal glitzernde Päckchen, die auf mich fielen. Ich wollte danach greifen, aber im gleichen Moment wachte ich auf. Seltsam!

15

„Papa?“

Karl guckte einigermaßen erstaunt, als er seinen Vater in der Wohnungstür stehen sah.

„Musst du nicht arbeiten?“

„Ich habe mir einige Tage Urlaub genommen. Ich will den Garten auf Vordermann bringen. Hast du Lust, mir ein bisschen zu helfen?“

Karl überlegte einen Augenblick.

„Natürlich nur, wenn du neben deinem Projekt genug Zeit hast!“

Zeit ist nicht das Problem. Aber ist Gartenarbeit denn nicht auch schon wieder eine Tätigkeit? Darf ich doch gar nicht. Andererseits hat Dr. Kiefer mir gesagt, ich soll alles tun, wozu ich Lust habe.

„Na, was meinst du?“ fragte der Vater. „Das Wetter ist klasse, ein bisschen kühl, aber viel Sonne.“

Fünf Minuten später saß Karl neben seinem Vater im Opel Kadett C, Baujahr 73 und grübelte noch immer.

„Unser Philosoph ist wohl heute nicht zum Reden aufgelegt,“ stellte Herr Grün nach einer Weile fest, bekam aber keine Antwort.

„Na schön, wenn du nicht willst… Gucken wir einfach mal, was wir an schöner Musik haben,“ setzte er sein Selbstgespräch fort während er mit der linken Hand im Ablagefach des Fahrertür herumkramte.

Schließlich zog er eine Musikkassette hervor und versuchte die Handschrift auf dem vergilbten Etikett zu entziffern, gab diese Anstrengung jedoch schnell auf. Achselzuckend steckte er sie in den Einschub des Autoradios, dessen Abspielgerät sich quietschend und holpernd in Bewegung setzte.

„Ah, Mr. Tambourine Man, klasse Kassette!“ frohlockte er, als trotz des erheblichen Nebengeräuschpegels wenig später eine Melodie aus dem Lautsprecher ertönte, die entfernt an Bob Dylans Klassiker erinnerte. Herr Grün trommelte mit seinen Fingern auf dem Lederbezug des Lenkrads und summte fröhlich mit.

Diese akustische Darbietung riss Karl jäh aus seinen Gedanken. Er drehte sich vom Seitenfenster weg.

„Mann, die leiert aber gewaltig!“ schimpfte er und klopfte dabei heftig mit der flachen Hand gegen das Autoradio.

„Vorher gefiel es mir besser“, brummte sein Vater, „da war es wenigstens in meiner Tonlage.“

„Du brauchst unbedingt ein neues Tapedeck, Papa. Das tut ja weh. Und Herr Zimmerman wäre sicher auch nicht glücklich über diese Darbietung hier.“

„Herr Zimmermann?“ Der Vater blickte seinen Sohn fragend an.

„So heißt Dylan mit bürgerlichem Namen“, erwiderte Karl knapp und starrte wieder aus dem Fenster.

„Soso“, murmelte Herr Grün. „Was du so alles weißt. Ich mag einfach die Musik. Ob der jetzt Zimmermann oder Müller heißt. Ist der Deutscher?“

„Er ist Jude mit europäischen Vorfahren.“

„Du solltest wirklich was aus deinem Wissen machen, Karl...“

„Pass auf Papa, die Katze!“

Herr Grün trat voll auf die Bremse und brachte das Auto mit einem Ruck zum Stehen, während der gestreifte Kater sich mit lautem Fauchen auf den Bürgersteig rettete.

„Ist das ein gutes Omen? Immerhin war’s keine schwarze und sie lief von rechts nach links!“

Karl rieb sich die Knie, die vom Aufprall gegen das Handschuhfach noch schmerzten.

„Aberglaube, Papa. Ich sehe da nur Zufall, nichts sonst! Es gibt keine Vorherbestimmung!“

„Na, wenn du meinst.“

Langsam fuhr Herr Grün wieder an und sagte für den Rest der Fahrt nichts mehr.

Als sie das Elternhaus erreichten, stand Frau Grün schon in der Tür und winkte den beiden Männern zu.

„Na, Herr Professor“, sagte sie und schmunzelte, „machst du mal eine Pause?“

„Ja, ja“, antwortete Karl lief und auf sie zu.

Ich kann es ihr nicht sagen. Ihr nicht, Papa nicht, Susanne nicht.

Seine Mutter fragte nicht weiter, drückte ihren Sohn kurz und wartete auf ihren Mann, der den Weg vom Stellplatz zur Haustür heran kam. Karl wollte schon um das Haus herum in den Garten gehen, drehte sich aber an der Ecke noch einmal um. Als er sah, wie sich seine Eltern in die Arme schlossen und küssten, fühlte er einen warmen Stich in seinem Bauch.

Immer noch so verliebt. Ist das wohl das berühmte Glück mancher langjähriger Ehen?

„So, jetzt aber an die Arbeit“, rief sein Vater und eilte in den Garten hinab.

Er drückte seinem Sohn einen Rechen in die Hand.

Karl machte sich sogleich an die Arbeit und entfernte mit Armbewegungen wie Windmühlenflügel die Zeugen des letzten Herbstes vom Frühlingsgrün des Rasens. Der Garten war nicht groß, aber mit viel Liebe und einem Sinn für schöne Details angelegt. Von der Terrasse des Hauses erstreckte sich die Wiese über den leicht geschwungenen Hang bis zum Zaun des Gemüsegartens. Rechts und links war das Grundstück mit Blumenbeeten eingefasst, in denen von den ersten Frühlingstagen bis zum spätherbstlichen Schnee immer etwas blühte.

Endlich spüre ich meinen Körper mal wieder.

Er zog die zaghaft duftende Märzluft tief ein. Schon nach einer knappen Viertelstunde war er mit dem Harken des Laubes fertig.

„He, du musst keinen Rekord aufstellen“, rief sein Vater lachend.

Er stand zusammen mit Karls Mutter jenseits des Zaunes, wo sie Gemüse und Kräuter einsäten.

„Ist es dafür nicht zu früh?“ fragte Karl und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen.

„Fürs Aussäen? Nein, genau richtig. Außerdem bekommen wir dieses Jahr keinen Frost mehr. Es soll einen frühen und heißen Sommer geben.“

Seine Mutter schien sich über diese Aussichten zu freuen.

„Wenn du willst, kannst du mir nachher beim Beschneiden der Obstbäume helfen“, sagte Herr Grün und wies mit einer Kopfbewegung auf den Kirschbaum und den Apfelbaum, die ihre Kronen über die Wiese ausbreiteten. Unter beiden Bäumen hatte Herr Grün um den Stamm herum eine schmale Bank ohne Lehne gezimmert, damit man bei jedem Sonnenstand dort sitzen konnte.

Karl, der sich unter den Ästen der Kirsche auf den Stiel des Rechens gestützt hatte, blickte am Stamm empor.

Setzen Sie sich unter einen Kirschbaum. Hat Kiefer doch gesagt, oder? Was hat er bloß gemeint?

Er wollte gerade den Rechen wieder zum Haus tragen, aber es ging nicht. Einem Impuls folgend und zu seiner eigenen Verwunderung setzte er sich auf die Rundbank unter dem Kirschbaum und lehnte sich an den Stamm. Der Rechen fiel mit einem dumpfen Laut in den Laubhaufen.

Karl schloss die Augen. Der Geruch von feuchten Blättern und Erde kroch in seine Nase. Sein Atem ging ganz gleichmäßig, die Schultern sanken herab und der Rücken schmiegte sich an die Rinde des Stamms, bis dieser eine bequeme Lehne bildete. Karl saß einfach da, zog die Frühlingsluft tief in seine Lungen und tat… nichts. Als er einige Augenblicke später die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass er sich nicht erinnern konnte, was er die letzten Sekunden gedacht hatte.

Seltsam, ich fühle mich, als hätte ich in einem Bergsee gebadet. Alles ist plötzlich so klar. Mein Körper ist HIER! Ich bin einfach nur HIER!

„Na, kleines Nickerchen gemacht?“ rief sein Vater aus dem Gemüsegarten zu ihm herüber.

„Ja, fast!“

Karl rieb sich die Hände, stand auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund.

„Wann sollen wir mit dem Beschneiden der Obstbäume anfangen?“

„Jetzt gleich“, antwortete Herr Grün und schloss die Holzpforte zum Gemüsegarten hinter sich.

Den Rest des Vormittags verbrachte Karl auf einer Aluminiumleiter mit der Baumschere in der Hand. Sein Vater stand unten und hielt die Leiter fest.

„Wenn ihr mit dem Zweig da fertig seid, könnt ihr zum Essen kommen!“

Karls Mutter winkte ihnen von der Terrasse zu.

„Wie macht sie das bloß? Gerade war sie noch mit dir im Gemüsebeet und jetzt ist das Essen fertig.“

Karl schüttelte den Kopf und stieg die letzten Sprossen herunter.

„Du kennst doch deine Mama. Ein kleiner Tausendsassa!“, antwortete Herr Grün und unterstrich seinen Satz mit einem Kopfnicken.

„Außerdem schnippeln wir schon seit einer guten Stunde an den Bäumen herum!“

Das Mittagessen stand auf dem Tisch, als die beiden Männer ins Haus gingen.

Nudeln mit Schinkensahnesoße. Wie früher! Und im gleichen vier Liter Stahltopf. Na, da sollten wir ruhig zweimal nehmen, was, Meister Grün? Ich bin lange nicht hier gewesen. Irgendwie hat es mir aber gefehlt. Muss öfter kommen, Zeit genug habe ich ja. Wenn nur keine Fragen kommen.

„Was steht heute noch an?“ fragte er und schaufelte sich noch eine weitere Portion auf den Teller.

„Papa und ich fahren gleich zum Gartenmarkt, um noch ein paar Pflanzen einzukaufen. Du kannst dich ein bisschen ausruhen.“

Beim letzten Wort, das seine Mutter aussprach, verfinsterte sich Karls Miene ein wenig.

„Ausruhen!“ brummte er leise, „Ich bin froh, wenn ich was zu tun habe.“

Er ließ den Inhalt des Suppenlöffels auf seinen Teller fallen.

Das Bergseegefühl weicht gerade dem einer Bleikugel im Magen. Wie soll ich das jemals verdauen? Muss mich ein wenig hinlegen. Doch keine so schlechte Idee mit dem Ausruhen.

Fünf Minuten später stieg Karl die Holztreppe zum Obergeschoss hinauf.

Dritte und achte Stufe knarren. Nicht drauf treten. Weiß ich doch. Bin oft genug nachts hier hoch. Mama hat mich aber trotzdem immer gehört.

Oben angekommen, atmete er kurz durch und hörte von draußen einen Autoanlasser.

Karl drückte die Klinke der Zimmertür rechts vom Treppenaufgang.

Hier hat sich nichts verändert!

Unter dem Fenster stand noch immer sein Schreibtisch aus Schultagen, daneben sein Bett und auf der anderen Seite ein Holzregal in dem nur ein paar Bücher und Plüschtiere lagen. Er ging zum Bett, setzte sich schräg auf die Kante der Matratze und ließ sich dann mit Schwung aufs Kopfkissen fallen. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt blieb er liegen.

Was ist da gerade im Garten passiert? Hab ich so was schon mal gehabt? Muss ich das jetzt aufschreiben? Ist es das, was die Profs interessiert? Die haben ja nicht gesagt, wie meine Dokumentation aussehen soll. Was ist wohl der Sinn dieses Projektes? Eigentlich weiß ich gar nichts. Die bezahlen mich. Schön! Dafür erzähle ich denen, wie es mir mit dem Nichtstun geht. Auch gut! Aber, was haben die davon? Das kann doch niemanden interessieren, was mir hier im Niemandsland der gestoppten Aktivität widerfährt. Vielleicht wollen die, dass ich durchdrehe. Dass ich komplett die Kontrolle verliere und komische Dinge tue, weil man eben gar nicht NICHTS tun kann.

Karl schlummerte sanft ein und die Nachmittagssonne schien durch das Fenster auf seinen Bauch. Als er eine gute Stunde später wieder erwachte, fühlte er sich deutlich besser. Er richtete sich auf und rieb seine Augen. Gerade als er aufstehen wollte, erblickte er im Bord über dem Bett seine Fotoalben. Er streckte den Arm, bis er das erste zu fassen bekam. Auf den vorderen Seiten gab es Bilder von ihm, als er noch ein Säugling war. Später folgten Fotos aus der Zeit seiner ersten Schritte und Worte.

Und Mama hat alles kommentiert.

Karls Aufmerksamkeit blieb an einer schwarz-weißen Fotografie hängen, die ihn im Alter von etwa zwei Jahren in einem Klappstühlchen auf der Terrasse zeigte. Er trug ein gemustertes Hemdchen, kurze Hosen und einen Sonnenhut aus Jeansstoff.

Mann, das gibt´s doch nicht, bin ich das wirklich? Völlig entspannt und zufrieden sehe ich aus. Wie die Händchen auf der Lehne liegen. Und ein Blick, als wäre ich gerade im Wunderland.

„Karl in seiner Mußestunde“, hatte die Mutter in blauer Tinte neben das Foto geschrieben. Er musste den Satz immer wieder lesen und den Jungen im Klappstühlchen betrachten. Erinnerungen tauchten auf und er hörte, wie seine Mutter einmal zum Vater sagte: „Karl ist ein kleiner Träumer, aber er sieht mehr als wir.“

Zuletzt habe ich vor fünf Jahren geweint, als Opa gestorben ist. Endgültiger Abschied von der Kindheit. Heute geht es mir ähnlich.

In Gedanken an früher blieb er noch eine Weile sitzen bevor er das Album zuklappte und es wieder zurück an seinen Platz stellte. Er wusste, etwas Entscheidendes in ihm hatte sich verändert.

Beim Verlassen des Zimmers fiel ihm noch ein Gegenstand auf, den er völlig vergessen hatte. In der Ecke links neben der Tür stand ein Pappkarton, aus dem Schallplattenhüllen herausragten. Karl hockte sich hin und blätterte kopfschüttelnd seine Jugendschätze durch.

Das hört doch heute kein Mensch mehr!

Als er einige Minuten später auf die Terrasse hinausging, sah er, dass seine Eltern bereits zurück waren und Plastiktöpfe mit verschiedenen Pflanzen vom Auto in den Garten trugen.

Freitag, 29. März

Was für ein Tag! Habe heute den Eltern im Garten geholfen und mich dabei zum ersten Mal wohl gefühlt. Aber dann dieses seltsame Erlebnis unter dem Kirschbaum! Dieses einzigartige Gefühl von Wohlbehagen und Harmonie! Noch nie vorher in meinem Leben habe ich so etwas gespürt. Sehr eigenartig.

Und später in meinem Zimmer dieses Foto von mir im Stühlchen. Gegen Abend habe ich Mama noch mal darauf angesprochen und sie erzählte, dass ich als Kind, so ungefähr bis ich acht war, sehr oft einfach nur dagesessen habe und dabei völlig entspannt und ruhig wirkte. „Karl lugt nach Innen,“ hatte sie dabei gedacht. Ich war offensichtlich ein sehr ruhiges Kind, das sich gerne mit sich selbst beschäftigte. Merkwürdig.

Das Tagträumen hörte dann schlagartig auf, als ich eines Tages eine neue Lehrerin in der Grundschule bekam. Sie mochte mich nicht besonders, weil ich ihr wohl zu langsam war. Als es um die Frage ging, Gymnasium ja oder nein, sagte sie zu mir: Wetten, das schaffst du nie!“ Ich stand auf, holte tief Luft und sagte mit fester Stimme: „Nette Wetten! Amok Oma!“ Sie guckte mich nur blöde an, und merkte nichts. Totale Palindromignoranz. Später schaffte ich das Abitur mit 1,3.

Übermorgen öffnet Steve’s Café. Habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Muss auch noch zu Gert und ihm meine Jugendplattenkiste zeigen.

16

„Na, das ist aber eine schöne Überraschung. Komm rein.“

Gert hielt die Ladentür auf, um Karl hereinzulassen. „Willst du mir heute Platten verkaufen?“, fragte er, während Karl seine Fracht auf den Boden setzte.

„Ach, ich weiß nicht. Ich hab dir ein paar von meinen alten Scheiben mitgebracht und gehofft, dich schon so früh anzutreffen. Du machst doch erst um zehn auf, oder?“

„Stimmt, aber ich sortier hier schon seit halb acht meine Neuzugänge ein. Deinen Karton gucken wir uns gleich an, erst mal gibt’s Tee, o.k.?“ lachte Gert und verschwand hinter dem schwarzen Vorhang, um kurz darauf mit dampfenden Bechern zurückzukehren.

„Hier, grüner Tee mit Bocksdornbeere. Macht munter und klug!“

Karl nahm die Tasse mit einem Kopfnicken an und nippte.

„Hmm, das ist gut.“

Gert war unterdessen in die Hocke gegangen und blätterte mit Profihand die Schallplatten in Karls Karton durch. Hier und da hielt er kurz inne, zog die eine oder andere Hülle heraus und studierte die Seriennummern, bevor er die Platte wieder in den Karton zurückgleiten ließ.

„Willst du die wirklich loswerden? Da sind tolle Sachen dabei.“

Er blickte Karl von unten herauf prüfend an.

„Na, geht so. Ich bin wohl jetzt aus dem Alter raus, wo man U2 oder Eurythmics hört.“

„Das sagst du jetzt. Aber in ein paar Jahren wirst du dich ärgern. Klar, Bono und sein Weltverbesserungsgeschwafel können einem schon auf den Keks gehen. Aber sie werden als eine der größten Bands aller Zeiten in die Rockgeschichte eingehen. Verkauf das nicht!“

Gert schüttelte den Kopf.

„Und Dave Stewart ist ein verdammtes Genie. Wenn nur der scheiß Koks nicht wäre!“

Willst du mir erzählen, dass du oller Sixties-Fan auch diesen ganzen Schrott aus meiner Jugend kennst?

Gert lachte.

„Ich weiß, was du denkst. Der alte Sack. Aber du kannst mir wirklich glauben, jedes Jahrzehnt hat seine Berechtigung und ich habe alles genau verfolgt. Die 80er waren nicht nur schlecht. Smiths, Echo and the Bunnymen, ja, selbst Roxette kann ich gelten lassen.“

„Jetzt hör aber auf! Roxette?“

„Perfekter Pop. Tolle Harmonien. Die Produktion ist vielleicht aus heutiger Sicht ein bisschen misslungen. Aber sonst…“

Gert schien sich nicht von seiner Überzeugung abringen lassen zu wollen.

„Du meinst also, ich soll den ganzen Kram behalten?“ fragte Karl ein bisschen verunsichert.

Gert nickte und angelte die erste U2 LP aus der Kiste. Seine Hände waren ganz ruhig, als er das Vinyl aus der Innenhülle zog und die Scheibe auf den Plattenteller legte. Er drehte den Lautstärkeregler weit auf und setzte die Nadel für das letzte Lied an. Der wummernde Grundtonbass von „Out of Control“ hallte durch den Raum.

„So werden die in ein paar Jahren wieder klingen! Bestimmt!“

Gert wippte mit dem Fuß.

Als Karl eine halbe Stunde später wieder auf die Straße hinausging, hatte er nicht nur seine Jugendplatten wieder im Karton, sondern noch eine ganze Reihe weiterer Musikrelikte aus dem Jahrzehnt von Aerobic und Netzhemden, die Gert ihm ans Herz gelegt hatte.

„Da war mehr als nur Helmut Kohl und Modern Talking!“ hatte Gert zum Abschied gesagt und Karl auf die Schulter geklopft.

Sonntag, 31. März

Ich liege auf dem Bett und höre Platten aus meiner Vergangenheit. Irgendwie hat Gert mich mit seiner Verteidigungsrede für die 80er doch infiziert. Ist ja schließlich das Jahrzehnt, in dem ich groß geworden bin. Tschernobyl, Reagan, Challenger… Mann, ist das lange her. Kann mich noch gut erinnern, wie ich mit meinen Eltern auf der Fahrraddemo gegen die Raketenstationierung war. Bin kurz davor, mir eine Schimanksi-Jacke und ein Palästinensertuch zu besorgen und mich für den Ostermarsch anzumelden. Gibt’s so was eigentlich noch?

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9783847629283
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