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Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Danksagung

Content Notes

Lass uns in Verbindung bleiben

Impressum neobooks

Kapitel 01

Die Insel am anderen Ende des Ozeans verharrte wie ein ewiges Monument. Verwirrt musterte Kira die Gesteinsformation, die sie an einen Pilz erinnerte. Auf seinem Schirm ragten Häuser in den blauen Himmel. Das Meer rauschte unter ihr und einige Möwen kreischten, obwohl Kira keine sah. Die Sommerluft konnte nicht verhindern, dass sich eine Gänsehaut über ihren Körper legte. Eigentlich befand sich diese Insel doch längst auf dem Grund des Meeres. Sie war zerbrochen und versunken, als Kira ein kleines Mädchen gewesen war.

Langsam sah sie auf ihre Hände hinab. Winzig waren sie, speckig. Unter den Fingernägeln sammelte sich Sand. Ihre Füße steckten in staubigen, zerkratzten Lackschuhen. Einer ihrer Strümpfe hatte seinen Halt verloren und war wie eine alte Schlangenhaut hinabgerutscht.

Kira wurde heiß und kalt, ihre Kehle verengte sich. Warum war sie wieder acht Jahre alt?

»Da bist du!«

Sie fuhr herum und schnappte nach Luft, als ein dunkelhaariger Junge um ihren Hals fiel.

»Aaron!«, krächzte sie. »Was passiert hier? Warum sind wir wieder Kinder?«

»Du bist ein Kind«, lachte Aaron und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin schon zehn!«

Ihre Antwort war ein gequältes Lächeln. »Das ist nicht hilfreich.«

»Ich mache nur Spaß. Was ist los mit dir? Es ist doch alles normal. Oder immerhin ungefährlich.«

»Aaron«, knurrte sie kopfschüttelnd. »Wir waren bis eben erwachsen. Warum sind wir wieder hier?«

»Ich war hier noch nie«, gestand Aaron und machte eine Handbewegung, die beinahe einladend wirkte. »Erkennst du es nicht? Das ist nicht der Ausblick, den wir früher hatten. Die Insel am Horizont ist eine andere.«

»Ja, und sie ist ziemlich stabil«, stimmte Kira nickend zu. Ein geflochtener Zopf rutschte über ihre Schulter, was sie in ihrem unguten Gefühl bestärkte. Sie hatte es seit Jahren nicht gespürt, trotzdem war es so beklemmend wie in ihrer Kindheit.

»Irgendwoher kenne ich diesen Anblick«, murmelte sie. »Ich … weiß nur nicht, woher.«

Aaron nahm ihre Hand. »Dort drüben ist unsere Heimat. Ich bin mir sicher, dass Papa uns zeigen wollte, was aus ihr geworden ist.«

»Augustin.«

»Ja, Augustin. Ist alles in Ordnung?« Seine zehn Jahre alte Stirn legte sich in Falten. »Wir sind gesprungen, erinnerst du dich nicht? Wir haben die Insel verlassen, weil er uns diesen Morsecode geschickt hat. Mit den Sternen.«

Schwallartig kehrte Kiras Erinnerung zurück. Aarons Vater Augustin hatte sie kontaktiert, das erste Mal seit drei Jahren. Ihr Dasein verbrachten Aaron und Kira in einer Computersimulation. Nachdem sie ihre Insel von zwei tyrannischen Forschern befreit hatten, war Augustin an dem Ort geblieben, der offenbar die Realität war. Alle anderen Seelen ahnten nicht, dass sie in einem Programm lebten. Kira hatte schlaflose Nächte damit verbracht, diese absurde Wahrheit zu begreifen. Außerhalb ihrer digitalen Welt hatten sie keine Körper und mussten mit klobigen, langsamen Robotern vorliebnehmen. Sie waren Teil eines Experiments, dessen Zweck Kira zwar verstanden hatte, aber nicht wahrhaben wollte: In der Realität gab es keine Zukunft mehr. Die Erde war wie ein einziger Sandsturm, in dessen Auge ein Institut namens Wyoming Wonders stand. Hunderte, vielleicht tausende Experimente sollten hier irgendeine Lösung für die Probleme der Menschheit finden. Das Experiment von Insel 317 nahm daran nicht mehr teil, und statt den zwei Forschern wachte nun eine einsame Seele über das Programm. Augustin hatte darauf bestanden, dass Kira und Aaron in ihre Heimat zurückkehrten. Sie durften ein möglichst normales Leben führen, wie auch immer das aussehen sollte. Im Notfall wollte Augustin ihnen einen Code schicken.

Eben war genau das passiert. Sechs Sterne hatten ein Wort gemorst, »Springt«. Vom Rand ihrer Heimat zu springen war der Weg zurück in die Realität. Eigentlich.

»Ich … wie konnte ich das vergessen?«, stotterte Kira. Der Boden unter ihren Füßen geriet ins Wanken, zwischen ihren Ohren brauste es.

»Vielleicht ist etwas schiefgegangen, nachdem wir gesprungen sind. Wir wissen ja nicht genau, was passieren kann«, überlegte Aaron laut.

»Überraschung, ihr seid wieder Kinder und dürft euch eure Heimat aus der Ferne ansehen«, imitierte Kira die Stimme von Augustin, den sie seit Jahren nicht mehr in seiner menschlichen Gestalt gesehen hatte. Es kostete sie Mühe, sich an sein gutmütiges Gesicht zu erinnern. Gleichzeitig brodelte Unbehagen in ihrer Magengrube. »Aaron, da stimmt doch etwas nicht! Weswegen sollten wir von der Insel springen?«

»Hm, du hast recht«, murmelte er nachdenklich. Seine Augen wanderten vom Meer zurück zu Kira. »Er hat ja gesagt, dass wir nur im Notfall springen sollen. Das hier ist kein Notfall.« Dann blickte er auf seine Füße. »Spürst du das eigentlich auch?«

Kiras Augen weiteten sich. »Ich dachte, mir wäre schwindelig.«

»Ich auch«, entgegnete Aaron. »Diese Insel ist instabil.«

»Großartig. Da haben wir unseren Notfall.«

Jetzt rüttelte das Beben ihre Knochen durch und verschlimmerte das Surren in Kiras Kopf.

Aaron zog sie vom Abgrund fort. Als sie auf eine Gasse zwischen den Häusern zugingen, neigte sich der Boden in Richtung des Meeres, als wollte die Insel nicht zulassen, dass sie sich vom Fleck rührten. Kira rutschte auf dem Gestein nach unten, aber Aaron hielt sie fest. Schreie durchbrachen den Lärm des Bebens. Hier waren andere Menschen, und plötzlich erinnerte Kira sich an sie. An die dunklen Schemen, die in die Fluten stürzten.

»Diese Insel!«, entfuhr es ihr. »Aaron, diese Insel haben wir untergehen sehen!«

Sie waren an jenen Tag zurückgekehrt, an dem Aaron und sie sich kennengelernt hatten. Der Tag, an dem in ihrer Heimat die erste Grenze gezogen worden war. Der Anfang vom Ende. Und sie waren am völlig falschen Ort.

»Wir haben keine Chance!«, ächzte Kira und krallte sich fester in Aarons Griff. Die Insel neigte sich weiter, die Häuser über ihnen gaben ein beunruhigendes Knarren von sich. »Wir haben gesehen, was passiert!«

»Ich verstehe das nicht«, rief er. Kiras Blick fixierte seine linke Hand, mit der er eine Straßenlaterne umklammerte. »Was sollen wir tun? Papa will uns doch nicht in den Tod schicken!«

Kira hätte beinahe aufgelacht, aber es gelang ihr nicht, die Angst in ihrer Brust zerspringen zu lassen.

»Wir können nicht sterben«, keuchte sie.

Er hielt inne. »Stimmt.«

Dann ließ Aaron die Laterne los. Kira presste die Augen zusammen, als sie rückwärts zum Abgrund schlitterten. Sie verloren den Boden unter ihren Füßen. Jetzt wartete nur der Aufprall, gefolgt von der Antwort auf ihre Fragen. Kiras Kopf schnarrte immer lauter, je tiefer sie fielen, und der Wind riss Aarons Worte aus seinem Mund. Kira konnte ihn nicht verstehen, erkannte seine Panik. Sie musste an die fallenden Schatten denken, die sie als Kind beobachtet hatte. War sie letztlich einer davon gewesen?

Über den Aufprall wusste Kira wenig. Sie war schon zwei Mal von einer Insel gesprungen, hatte aber nur den zerrenden Wind gespürt. Dieses Mal war es anders. Der Atem verließ ihren Körper, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Ihr Kopf platzte, Schmerz riss ihre Glieder auseinander.

»Schatz, ist alles in Ordnung?«

Das Licht blendete sie durch ihre Lider hindurch. Sie schüttelte den Kopf, bevor sie begriff, dass sie die Stimme nicht kannte.

»Du hast geschrien«, wurde sie erinnert. Die Stimme klang weich, mütterlich. Verwirrt schlug Kira die Augen auf und sah in das Gesicht einer schmalen Frau. Sie war vermutlich Mitte dreißig, hatte hohe Wangenknochen und eine dünne Nase. Ihre blonden Haare legten sich in Wellen auf ihre Schultern.

»Carla«, flüsterte sie sanft. »Weißt du, was passiert ist?«

»…Carla?«, wiederholte Kira. »Ich bin keine Carla.« Ihr brummender Schädel protestierte, der Magen stimmte ein. Hoffentlich übergab sie sich nicht.

»Der Administrator hat es mir versichert. Er hat eben nach dir gesehen.« Sie hielt inne. »Aber du wirst dich doch an mich erinnern, oder?«

Mit offenem Mund sah Kira die Frau an. »Der … Administrator? Und, äh, ich weiß wirklich nicht, wer Sie sind.« Sie unterdrückte den Drang, aufzuspringen. Was hatte Augustin vor, was sollte das?

Die Frau runzelte die Stirn und streichelte behutsam über Kiras Handrücken. »Am besten ruhst du dich aus. Ich hole dir ein Glas Wasser.«

Schon stand sie auf und schloss die Zimmertür hinter sich. Kira verzog das Gesicht und sah sich desorientiert um. Der Raum war schlicht, aber schön. Auf dem hellen Parkett standen Bücherregale, ein braunes Ledersofa, etliche Topfpflanzen und ein niedriger Tisch, auf dem sich Papiere stapelten. Nirgends lag Sand.

Kira sah an sich herab und erkannte, dass sie nicht mehr sie selbst war. Immerhin war sie älter als acht Jahre. Ihre Finger waren länger, die Haut daran warf kleine Falten. Jemand hatte sie in ein grässliches gelbes Nachthemd gesteckt und ihr einen neuen Namen gegeben. Kira vergrub ihr Gesicht in den Händen und versuchte, ruhig zu atmen. Dann hielt sie die Luft an.

Carla war tatsächlich ihr Name. Carla Frenton. Es war der Name ihrer menschlichen Seele – jenem Teil von ihr, der im Programm zu einem neuen Ich umgebaut worden war. Aber diesen Namen kannte fast niemand.

Das Quietschen der Tür ließ sie hochschrecken. Die Frau hatte ihr ein Glas Wasser mitgebracht.

»Wo ist Aaron?«, wollte Kira wissen. »Ist ihm etwas zugestoßen?«

Ihr Gegenüber senkte mitleidig die Augenbrauen. »Von wem sprichst du?«

»Na, von Aaron! Er ist mein Freund, mein Partner.«

»Ist er das?«, hakte sie nach und setzte sich ungefragt auf die Bettkante, während sie das Wasserglas auf dem Nachttisch abstellte. Diese Art von Zuneigung gefiel ihr nicht.

»Ja«, beharrte Kira.

»Wie lange kennt ihr euch schon?«

»Ich war acht, er zehn«, entgegnete sie. »Warum glauben Sie mir nicht, dass er mein Freund ist?«

»Carla, ich kenne dich seit vielen Jahren. Du warst nie an Männern interessiert. Es tut weh, solche Worte von dir zu hören.«

Kira erbleichte. »Ich fürchte, ich stecke im falschen Körper«, nuschelte sie, zog ihre Beine an und versuchte vergeblich, an der Fremden vorbei aus dem Bett zu steigen. Das Gesicht der Frau verfinsterte sich.

»Carla, du solltest liegen bleiben. Wir müssen reden. Erst dieser Nervenzusammenbruch heute Morgen … und ausgerechnet Mortimer kommt vorbei, um nach deiner Genesung zu fragen? Ein Glück, dass dir nichts passiert ist!«

»Nervenzusammenbruch?«

»Du wolltest aus einem Fenster springen!«

»Ich bin nicht aus dem Fenster gesprungen, ich bin von einer Stadt gesprungen«, erklärte sie. »Von einer Insel.« Sie hoffte auf einen Funken Erkenntnis bei der Fremden, stattdessen legte sie die Stirn in Falten.

»Ich werde Mortimer um Rat fragen, Schatz. Er soll dir das wegprogrammieren, er hat einige Fehler übersehen, als er dich wiederhergestellt hat.«

Sie wollte aufstehen, doch Kiras Hand grub sich hartnäckig in ihren Unterarm. »Ist er dieser … Administrator

»Carla, du machst mir Angst.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Den Administrator kennt jedes Kind. Er hat unsere Inseln programmiert, das weißt du doch.«

Kira biss sich auf die Lippe und starrte ihr Gegenüber an. Ihre Hände zitterten, als die Frau nach ihnen griff.

»Bitte schau nicht so, Schatz. Es wird sich alles wieder richten. Der Fehler war offenbar schlimmer als gedacht. Leg dich ein wenig hin.«

Es beunruhigte Kira, dass sie innerhalb kurzer Zeit zwischen einer tadelnden und einer sanften Mutter wechselte. Da fiel ihr ein, dass sie alles andere als eine Mutter war – in diesem Körper war Kira anscheinend mit dieser Frau zusammen.

Sie nickte und senkte ihren Kopf auf das Kissen, wobei sie sich fragte, ob sie sich alles nur eingebildet hatte. Die Insel, Aaron, den Sprung. Ihr Leben. Aber wenn diese Frau von einem Administrator sprach, der Inseln programmierte, war sie noch innerhalb eines Experiments von Wyoming Wonders.

»Wer bist du?«, fragte sie tonlos.

»Ich bin deine Juniper. Wir sind seit zehn Jahren ein Paar. Ich hoffe, dass du dich bald von selbst erinnerst.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie den Raum mit einer Eile, die ein flaues Gefühl in Kiras Magengegend verursachte.

Sie wartete zwei Minuten, in denen ihr Herz immer schneller pochte. Dann schob sie einen Fuß über die Bettkante. Das Parkett knarrte, als Kira durch den Raum schlich und nach ihrer Kleidung suchte. Kopfschüttelnd stellte sie fest, dass sie zunächst ihren eigenen Körper finden musste.

Auf einem Stuhl entdeckte sie einen grauen Rock, eine Strumpfhose und einen weißen Pullover mit gestricktem Knotenmuster. Wer zwang erwachsene Menschen dazu, sich so anzuziehen? Allerdings blieb ihr keine Wahl, wenn sie nicht im sonnengelben Nachthemd durch die Straßen taumeln wollte. Von Schuhen fehlte jede Spur. Wo war die Person, die diesen Körper zuvor benutzt hatte, um ihn in den schrecklichen Pullover zu hüllen? Hatte Kira diese Seele verdrängt?

Sie öffnete nachdenklich die Schubladen einer Kommode und fand darin Brettspiele und Berge von Süßigkeiten. Für eine Sekunde überkam sie eine unbändige Gier. In ihrer Heimat hatte es fast nichts Süßes gegeben. Das hier waren Dinge, die sie nicht einmal aussprechen konnte, allerdings erkannte sie Schokolade und buntes Papier. Eilig ermahnte sie ihre Finger, still zu sein, schob die Schublade mit ihrer Hüfte zu und fuhr sich dabei durchs Gesicht.

Bei dem Gedanken, der fremden Frau das Herz zu brechen, wurde ihr erneut übel. Doch was blieb ihr übrig? Sie hatte keine Zeit, sich umsorgen zu lassen. Augustin hatte sie gebeten, von ihrer Insel zu springen, und das hier war sicherlich nicht Teil ihrer Aufgabe. Sie musste dringend Aaron finden und Kontakt zu Augustin aufbauen. Vielleicht war danach Zeit, sich bei Juniper für den geklauten Scheusalspullover zu entschuldigen. Seufzend schlüpfte sie in die Kleidung.

Die Tür war zwar ein Ausgang, aber zum Glück nicht die einzige Option. Durch das Fenster konnte Kira hinter Dutzenden Flachdächern und Sonnensegeln den Ozean sehen, allerdings war er näher, als sie es gewohnt war. Diese Insel war niedriger. Die Nähe zum Wasser war bestimmt praktisch und nicht so gefährlich wie die schwindelerregend hohen Klippen von Kiras Heimatinsel.

Kira öffnete das Fenster und grinste. Carla würde ihren Plan von heute Morgen doch umsetzen, und Juniper würde es dieses Mal nicht verhindern können. Sie sprang aus dem Fenster, wobei sie etwas zu spät feststellte, dass sie im oberen Stockwerk gewesen war. Mit einem unvermeidlichen Aufschrei landete sie erst auf einem Stofftuch und purzelte dann in eine Hecke. Fluchend kämpfte sie sich aus dem Geäst und beeilte sich, die schattige Straße hinter sich zu lassen. Vielleicht hatte sie jemand gehört, also rannte sie in Wollstrumpfhosen über schmutziges Kopfsteinpflaster und knarrende Bretter, die notdürftig Felsen und Wasserlöcher bedeckten. Das Meer versuchte, die Stadt zu unterwandern.

In den beengten Gassen wurde Kira von Gestalten mit trüben Augen begutachtet. Anscheinend waren das die Einheimischen. In Kiras Heimat, Insel 317, hatte es die blassen und meist übergewichtigen Amerikaner neben den dunkelhäutigeren Ruanern gegeben. Zwei Völker, die sich ständig beschuldigt hatten, einander das Wasser zu stehlen. Zum Glück waren diese Streitigkeiten vor drei Jahren aus dem Programm entfernt worden.

Die Leute, die hier herumliefen, kannte Kira nicht. Sie musste entweder in einem anderen Teil des Programms sein – einem anderen Experiment – oder in einer verwirrenden Realität. Die Möglichkeit, dass alles unecht war, erschien ihr beruhigend und bedrohlich zugleich. Auch die Gassen sahen anders aus als in ihrer Heimat. Zwischen ihnen hingen gewaltige Baldachine, die den Blick zum Himmel verwehrten. Das Licht war dadurch ungewohnt schummrig, aber es passte zu den Gebäuden, die Kira an untergegangene Schiffe erinnerten. Ihre Wände bestanden aus dunklem Holz mit lauter Nägeln darin. Löcher wurden mit zusätzlich aufgenagelten Brettern verborgen, statt gläserner Fenster gab es schiefe Holzläden. Die meisten von ihnen standen offen, aber Kira traute sich nicht, einen Blick ins Innere zu werfen. Diese Stadt war ihr unheimlich.

»Kann ich dir helfen?«, fragte jemand tonlos und lächelnd. Kira schüttelte hastig den Kopf und drängelte sich an den Leuten vorbei, die sie fragend ansahen.

Flach atmend erreichte sie das Meer. Kira wartete auf die Schritte von Verfolgern, aber bis auf die Wellen war nichts zu hören. Es würde vermutlich nicht lange dauern, bis Juniper nach ihrer verwirrten Lebenspartnerin suchte, doch Kira brauchte den Moment, um durchzuatmen und sich zu orientieren. Sie legte den Kopf in den Nacken. Wie eine reisefaule Sturmwolke bedeckte ein Schatten den Großteil der Stadt. Über den Häusern ruhte eine Insel, die dieses Gebiet verdunkelte. Im Gegensatz zu Kiras Heimat war der Schirm des steinernen Pilzes wie von Würmern durchlöchert. Sie schlussfolgerte, dass diese untere Insel aus den Überresten der oberen errichtet worden war. Aus dem Meer ragten Trümmer wie eigene kleine Inseln, die Wellen brachen sich daran.

Was hatte das zu bedeuten? War dort oben ein Experiment gescheitert? Kira ermahnte sich, dass sie zu wenig Zeit hatte, um darüber nachzudenken. Allmählich hörte sie Tumult in den Gassen, der wahrscheinlich ihr galt. Auf keinen Fall wollte sie zurück – womöglich musste sie dann für immer bleiben, gefangen in Carlas Körper. Sie zog die Mundwinkel nach unten und beschleunigte ihre Schritte. Kira weinte selten, aber jetzt staute sich Verzweiflung an, genau zwischen ihren zusammengezogenen Augenbrauen und dem Kloß in ihrem Hals. Die Stege knarrten ungeheuerlich und boten nicht nur glotzenden Möwen ein Zuhause, sondern auch Seepocken und glitschigen Algen. Ein Ruf nach Carla ertönte. Kälte kaperte Kiras Körper. Juniper wollte den Administrator holen, und dieser Gedanke behagte ihr nicht. Dieser Forscher namens Mortimer würde wissen, dass Kira eine andere Person überschrieben hatte, oder? Wenn er Carla untersucht hatte, musste es ihm aufgefallen sein. Die Forscher Hana und Elliott, die so etwas wie die Administratoren ihrer Heimat gewesen waren, hatten einmal zwei Roboter heruntergefahren und innerhalb weniger Minuten festgestellt, dass die Seelen von Augustin und Kira in ihnen steckten. Wenn selbst die beiden das schafften, wusste es der Administrator definitiv. Vorausgesetzt, dieser Name stand nicht wie Khan oder Basílissa für einen Herrschertitel eines einzelnen Experiments, sondern für den Verwalter von Wyoming Wonders. Kira schauderte.

Sie blieb hinter einem Kistenstapel stehen, um durchzuatmen. Wie praktisch es war, kein Roboter mehr zu sein, wurde ihr immer wieder neu bewusst. Sie konnte leichtfüßig laufen und jederzeit ihre Gefühle zeigen, wovon sie nie gedacht hätte, dass das eine wertvolle Fähigkeit war. Eigentlich wäre sie nach ihrem Fall in den Ozean erneut in einem Roboter aufgetaucht. Allerdings wusste Kira nicht, was genau passierte, wenn sie ein Experiment mit einem Sprung verließ. Im Grunde genommen war es ein Fehler des Systems, dass sie nicht vom Server aufgefangen und in ein anderes Experiment geschickt worden war.

Kira erstarrte. Was dachte sie da? Genau das war ihr passiert! Sie war behandelt worden, wie es eigentlich sein sollte – umgesiedelt in ein anderes Experiment. Jetzt blieb noch die Frage offen, warum sie den Körper einer anderen Seele eingenommen hatte. Wenn sie sich recht entsann, hätte sie einen eigenen bekommen sollen. Außerdem dürfte sie sich nicht mehr an ihr vorheriges Dasein erinnern, oder? Sie hoffte, dass Augustin eine Erklärung für all das hatte.

Langsam lehnte sie sich vor und lugte an den Kisten vorbei. Am Hafen lagen nur wenige Boote, behelfsmäßig zusammengezimmert und offenbar für den Fischfang gedacht. Eine Fähre zu ihrer Heimatinsel wäre zwar praktisch gewesen, aber Kira hatte in ihrer Kindheit lange genug das Meer beobachtet, um zu wissen, dass es solche Schiffe nicht gab. Es gab auch keine U-Boote, keine Hubschrauber, keine Flugzeuge, keine Züge. Aber es gab Autos. Sie waren die verrostete Heimat von Unkraut oder wurden in Garagen vergessen.

Einige Männer arbeiteten am Kai und trugen Ausrüstung von einer Lagerhalle auf ein schmales Boot, das den Namen Susan hatte. Kira sammelte ihren Mut und ging auf die Männer zu.

»Entschuldigung«, rief sie. »Könnten Sie mir helfen?«

Zwei bullige Gestalten zuckten zusammen und sahen sie unschlüssig an. Einer der beiden trat näher. Er trug leichte Kleidung und ein verschwitztes, gelbliches Stirnband.

»Tach auch. Haben Sie sich verlaufen?«

»So in der Art«, bejahte Kira und schöpfte Hoffnung aus dem Umstand, dass der Mann seine Ausrüstung auf dem Boden abstellte, um ihr zuzuhören. »Ich bin gerade erst in diesen Teil des Programms gekommen, aber irgendwie bin ich falsch. Ich sollte auf Insel 317 geschickt werden. Wo bin ich genau?«

Niemand auf ihrer Heimatinsel wusste, dass sie alle nur Teil eines Programms waren. Auch nach den Geschehnissen vor drei Jahren, in dessen Folge Kira zur Leiterin von Insel 317 befördert worden war, hatte sie es vorgezogen, niemanden einzuweihen. Aaron wusste es natürlich, aber der Rest der Insel sollte nicht mit der Ungewissheit und Furcht leben, die diese Tatsache mit sich brachte. Wenn dieser Hafenarbeiter wusste, dass sie Teil eines Programms waren, war sein Experiment erheblich anders kalibriert als ihres. Andernfalls würde Kira einige wirre Worte murmeln und davonstürmen, auch wenn sie sich schon bei dem Gedanken schämte.

»Insel 317?«, wiederholte der Mann langsam. Kiras Herz sackte ein Stückchen tiefer. »Das ist ganz schön weit weg. Wir sind hier auf Insel 002, quasi dem Zentrum aller Programme. Da wurden Sie ganz schön falsch herumgeschickt.« Jetzt verdunkelte sich sein Blick, er trat ein wenig näher und musterte Kira argwöhnisch. »Und woher wissen Sie, dass Sie sich in einem Programm befinden?«

»Ich stamme von Insel 001, da weiß man das eben«, log Kira rasch. Hoffentlich schluckte er das.

»Lügen Sie mich nicht an, Insel 001 ist ganz schön löchrig«, lachte ihr Gegenüber und deutete nach oben. »Aber okay, ich kann verstehen, wenn Sie nicht darüber reden wollen.« Nun senkte sich seine Stimme bedrohlich. »Und posaunen Sie das nicht herum – die Wände haben Ohren. Überall.«

»Reden Sie vom Administrator?«

Der Hafenarbeiter verschluckte sich an seinem Erstaunen. Hustend sah er sich nach allen Seiten um. »Den Namen würde ich an Ihrer Stelle nicht laut aussprechen. Aber ja, er hört mit. Und natürlich die R4, die laufen hier und draußen überall rum. Mir sind die unheimlich.«

Kira erinnerte sich, dass die R4 neben den R1, R2 und R3 Bestandteil eines Labors waren. Es handelte sich dabei um Roboter, die jeweils unterschiedliche Aufgaben verfolgten. R4 blieben außerhalb des Labors und kümmerten sich um Botengänge, Datentransfers. Zumindest konnte sie sich daran erinnern, die emotionslosen Körper auf den Fluren von Wyoming Wonders gesehen zu haben. Sie hütete sich, auch nur einen Ton darüber zu verlieren. Kira wusste ohnehin viel zu viel über das Programm. Trotzdem gab es einiges, das sie nicht verstand. Wie waren die Experimente verbunden? Was geschah, wenn eine Seele starb? Und wer war dieser Administrator?

Kira lächelte harmlos. »Ich werde mich daran halten, vielen Dank. Sagen Sie mal, gibt es hier Forscher, an die ich mich wenden kann?«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte der Arbeiter zu und sammelte seine Utensilien vom Boden auf. »Wir haben eine Forscherin, die ganz schön eng mit dem Administrator zusammenarbeitet. Sie wird Sie zurück auf Ihre Insel bringen können.«

»Wo finde ich diese Forscherin?«, hakte Kira weiter.

»In der Weststadt. Fragen Sie nach Juniper.«

408,14 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
310 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783753196671
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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