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Jennifer Mai

ALLE HÖREN AUF „DAFFY“,

NUR DAFFY NICHT

Abenteuer Blindenführhündin

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Versuch macht klug

Das Kennenlernen

Beginn der Einarbeitung

Die kleinen und großen Veränderungen

Der Wall

Wenigstens sie liebt mich

Unverhofft kommt oft

Für immer

Ein Ende mit Schrecken

On tour

An die Klugscheißer dieser Welt

Erste Gehversuche

Beleidigt

Mein Kind

Wenn ich das Sagen hätte

Der Fresserei ein Ende sei

Willkommen zu Hause

Neues Jahr, und dann?

Schnee

Produktgruppe 99

Meine Männer

Ausgeklinkt

Meine Sichtweise

Der natürliche Typ

Meine Chefsekretärin

Was ich dir schon immer mal sagen wollte

Vorwort

Ich stehe am Rand eines Feldes und rufe Daffy. Neo, Hanker und Gomez kommen folgsam angerannt und stehen erwartungsvoll um mich herum. Nur die eigentlich Gerufene kümmert es nicht die Bohne.

„Alle hören auf ‚Daffy‘, nur Daffy nicht!“ Verzweifelt stampfe ich mit dem Fuß auf. Im selben Moment halte ich inne.

„Das ist ein geiler Buchtitel, oder?“

Antoine ist verwirrt. „Was denn für ein Buch?“ Ich erkläre es ihm. Ich will darüber schreiben, wie das Leben mit einem Blindenführhund ist. Was er so macht und kann, und vor allem, dass er letztlich auch nur ein ganz normaler Hund ist – ein Hund mit einem Job.

Daffy ist meine lackschwarze, neugierige, verfressene, verspielte, kinderliebe, gut genährte, faule, plüschig weiche, nicht stinkende Blindenführhündin. Sie verabscheut es, offensichtliche Kommandos zu befolgen, und erinnert mich durch konsequentes Verweigern von Treppen oder Ampeln gerne daran, ihr doch bitte etwas mehr zuzutrauen.

Darf ein Blindenführhund so etwas? Ist er etwa schlecht ausgebildet?

Nein, ist er nicht. Daffy hatte meinem Empfinden nach den besten Trainer, den sie hätte haben können, aber der ist nicht dafür da, den Charakter meiner dickköpfigen Hundedame zu brechen. Auch wenn sie mich an der Rollleine über Stock und Stein schleift, schnuppert, andere Hunde anwedelt oder sich lustlos hinterherziehen lässt, ist sie nicht schlecht ausgebildet. Sie trägt dann nur die Kenndecke oder das Halstuch, auf dem zu lesen ist, dass ihr Job der einer Blindenführhündin ist. Und die hat gerade frei. Ich empfehle jedem Führhundhalter, sich die Kenndecke mit der Aufschrift „Blindenführhund in Freizeit“ zuzulegen. Dann hat man zwar wahrscheinlich immer noch keine Ruhe vor Menschen, die einem erklären wollen, wie der Hund zu sein hat, aber es hilft ein wenig. Theoretisch wird ein solcher Hund nämlich auch dann als wohlerzogen und gesellschaftstauglich angesehen und sollte deshalb in Supermärkten, Lokalen, einfach überall mit offenen Armen begrüßt werden.

Wenn Daffy im Dienst ist, trägt sie das weiße Führgeschirr mit Bügel und mir als Besitzerin daran. In diesem Fall ist es mit den Zutrittsrechten zu Restaurants, Museen, Geschäften im Grunde keine Frage, denn dann wird der Hund, zumindest laut Gesetz, zum Hilfsmittel, und das darf überall mit hin.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. In manchen Supermarktfilialen oder Arztpraxen hat man das mit den Führhunden zum Beispiel immer noch nicht verstanden. Des Öfteren ist zu hören, dass ein Führhundhalter mit seinem Hund vor der Tür stehen gelassen wird, weil dieser angeblich gegen die Hygienevorschriften verstößt. Es folgen Anrufe bei der Zentrale, die Verantwortlichen haben sich zu entschuldigen, und am Ende gibt es keine Diskussion: Der Hund darf mit.

Sobald ein Blindenführhund das weiße Führgeschirr trägt, ist es für Außenstehende verboten, den Hund zu streicheln, ihn anzuflirten oder durch sonstige Bemerkungen und Bemühungen abzulenken, denn das könnte unter Umständen lebensgefährlich für den Führhundhalter sein. Der Hund ist im Dienst und muss den Job, seinen Halter möglichst sicher überall hinzuführen, ausüben. Doch er ist eben auch nur ein Tier, das sich gern mal ablenken lässt – zum Beispiel durch andere Hunde. Für Daffy gilt das ebenso. Bitte ich in einem solchen Fall andere Hundehalter, ihren Hund zurückzuhalten oder Daffy bitte nicht zu streicheln, da sie im Dienst ist, reagieren die meisten unfreundlich, aggressiv oder tun es erst recht. Ich muss mich dann sehr zusammenreißen, um freundlich zu bleiben. Am liebsten würde ich nämlich platzen.

Zwei Jahre ist es nun her, dass Daffy in mein Leben getreten ist. Seitdem hat sich für mich einiges geändert. Mein Denken, mein Handeln, einfach mein ganzes Leben wurde durch meine Bindung zu Daffy auf den Kopf gestellt, und auch davon möchte ich erzählen. Ich musste zum Beispiel nicht nur lernen, wie Außenstehende auf Daffy reagieren, sondern auch, wie es speziell in der Szene der Führhundschulen und Führhundhalter zugeht. Wie weit beispielsweise die Meinungen innerhalb der Szene auseinandergehen, sobald es um die Erziehung eines Führhundes geht.

Ich habe die Namen der Menschen geändert, von denen ich erzähle, nur die der Hunde sind geblieben.

Versuch macht klug

Daffy war nicht mein erster Versuch mit einem Führhund. Während meines ersten Studiums der Kindheitspädagogik in Hamburg wollte ich schon einmal einem Vierbeiner mein Leben anvertrauen. Zu der Zeit regte es mich fürchterlich auf, dass mir unachtsame Leute auf dem Hamburger Hauptbahnhof innerhalb eines halben Jahres drei Blindenstöcke verbogen hatten. Einfach weil sie nicht aufmerksam ihrer Umwelt gegenüber waren, sondern ihnen das Smartphone oder der Hintern einer vorbeigehenden Dame viel interessanter erschien. Dieser erste Versuch scheiterte grandios – nach gerade mal vier Tagen.

Es war Anfang 2011. Ich machte mir zum ersten Mal Gedanken über einen Führhund. Warum gerade ein Hund? Eigentlich mag ich Katzen viel lieber … Wieso können Katzen nicht führen? Würde ich unseren Herrn Kater bitten, sich doch in Zukunft als mein Führkater bereitzuhalten, würde dieser mich voller Verachtung anfauchen, mir seine Krallen präsentieren und mich gnadenlos im Stich lassen. Niemals würde er seine Bedürfnisse den meinen unterordnen und sich an irgendwelche Regeln halten. Wir würden Mäuse und Vögel im Geschirr jagen und ich bekäme nichts davon ab. Außerdem würde er sich nach jeder Pfütze, durch die er mich führt, erst einmal ausgiebig putzen und ich würde jeden Termin, jede Bahn und jeden Bus verpassen.

Nun ja, was nicht ist, ist einfach nicht. Ich hörte mich um und stellte mich bei drei Schulen vor. Die erste war in Hamburg. Super, das passte! Einen Ansprechpartner in der Stadt zu haben, in der ich wohnte, das gefiel mir.

Eines Nachmittags trudelte die Trainerin mit zwei Labradoren und einem Pudel bei mir in Bergedorf ein. Nachdem sie die Hunde von der Leine gelassen hatte, begannen diese, wie wild in meinem Zimmer herumzutoben. Sie hüpften über mein Sofa und hatten einen Höllenspaß.

„Oh, das ist mir aber unangenehm“, sagte die Trainerin und schubste das Pudelmädchen von meiner Couch. „Eigentlich war ich extra mit denen auf dem Feld, damit die etwas ausgepowert sind.“

„Alles klar“, erwiderte ich breit grinsend.

Wir unterhielten uns eine Weile über ihre Trainingsmethoden und die einzelnen Hunde. Die Trainerin belohnte alles, was der Hund anzeigte, mit Futter. „Sie arbeiten ja auch nicht ohne Bezahlung“, erklärte sie mir.

„Ja, schon“, sagte ich und überlegte. „Aber ich möchte gern entscheiden, wann und warum ich den Hund belohne.“

„So arbeite ich eben“, entgegnete die Trainerin knapp.

Ich erfuhr, dass sie eine wahnsinnig lange Warteliste hatte. Allerdings, so versicherte sie mir, könne sie mir guten Gewissens die Deutsche Stiftung für Blindenführhunde in Berlin empfehlen. Das gefiel mir nicht, denn alle redeten von dieser Stiftung, weshalb ich schon aus Prinzip nicht dorthin wollte. Alles das, was alle anderen toll finden, mag ich erst mal nicht.

Die zweite Schule befand sich in Berlin. Eine Freundin hatte mich dorthin mitgeschleppt, um sich selbst dort umzusehen und um mir noch einen Blick auf andere Schulen zu ermöglichen. Jede von uns lief mit drei unterschiedlichen Labradoren durch eine sehr ruhige Gegend Berlins. Ob dies überhaupt noch zu Berlin zählte, war mir nicht ganz klar. Doch mich störte, dass die Hunde nicht im Haus lebten, sondern separat untergebracht waren. Mit der Trainerin verstand ich mich super, zum Chef und Trainer war mein Bauchgefühl eher verhalten. Ich weiß sehr wohl, dass Sympathie nicht ausschlaggebend sein sollte, doch ich würde mit dem Trainer ein ganzes Hundeleben lang zusammenarbeiten müssen, und manchmal muss man auch sich selbst der Nächste sein.

Im Oktober entschied ich mich für die Schule einer netten, etwas aufgedrehten Frau irgendwo im Sauerland. Als wir uns kennenlernten, erläuterte sie mir die Vor- und Nachteile der zur Ausbildung in Frage kommenden Hunderassen. Mir gefiel, wie sie mit mir sprach und dass sie sich so viel Zeit für mich nahm.

Natürlich hätte ich gerne etwas Ausgefallenes gehabt, einen Königspudel zum Beispiel oder einen plüschigen, treuen weißen Schäferhund. Auf keinen Fall wollte ich einen undankbaren, verfressenen Labrador, dem es wie einer Katze völlig egal ist, von wem er das Fressen bekommt, Hauptsache, es ist verfügbar.

Ich lernte einige Hunde kennen, die in dem Rudel lebten, und sagte der Frau, was ich über die Tiere im Einzelnen dachte.

Zwei Tage später, nachdem ich ihr meine Entscheidung mitgeteilt hatte, es mit einem Führhund zu versuchen, erklärte sie mir, dass die Hündin „Gin Tonic“ gut zu mir passen würde, allein schon der Statur wegen. „Sie sind ja auch so eine Zarte.“

Also doch ein Labrador. Hm, ich war skeptisch. Reichte die Statur wirklich als Kriterium aus? Andererseits war es nicht der erste Hund, den die Frau vermittelte. Ich beschloss daher, ihr zu vertrauen.

An diesem Abend ging ich mit meiner Mitbewohnerin Greta in unser Lieblingsrestaurant. Dort wollte ich zur Feier des Tages Gin Tonic probieren. Greta warnte mich: „Gin Tonic? Ich hasse dieses Gesöff! Pass bloß auf, am Ende ist dieser Köter noch genauso ekelhaft wie das Zeug!“

Als das Glas vor mir stand, hob ich es an meine Lippen und nahm neugierig einen ersten Schluck. Was ich dann auf meiner Zunge schmeckte, war so ziemlich das Abartigste, was ich je zu mir genommen habe. Greta erstickte fast vor Lachen.

Der restliche Abend war eine Qual, denn ich bestellte mir Muscheln in Tomatensoße, auch diese zum ersten Mal, da sie nur in den Monaten mit „r“ angeboten werden. Ich konnte es kaum abwarten, sie zu probieren, doch ich wurde bitter enttäuscht. Ich hatte angenommen, die Muscheln wären bereits geschält. Stattdessen saß ich dort mit meinem Glas, das mir Schauer des Ekels durch den Körper jagte, und meinen blöden Muscheln, die ich aus der Schale pulen musste, und das in aller Öffentlichkeit. Ob all dies, wie Greta schon angedeutet hatte, ein Omen war?

Im Januar, so hieß es, sollte Gin gedeckt werden. Im März kämen dann die Welpen, anschließend sei die Kastration geplant. Im Juli könnten wir mit der Einarbeitung beginnen. Im Juli? Klasse!

Eigentlich hätte ich damals schon stutzig werden müssen. So ein hormoneller und emotionaler Stress für das arme Tier! Wenn man in dieser Branche das Wort „normalerweise“ benutzen darf, würde ein potenzieller Blindenführhund nicht vor der Einarbeitung noch gedeckt werden. Entweder wird das Tier zur Zucht eingesetzt oder als Führhund. Das ist zumindest meine Meinung.

Meine Entscheidung wurde noch bestärkt, als ich mit Luisa zusammentraf.

Luisa – da muss ich jetzt etwas ausholen:

Ich bin mit meinem früheren Grundschullehrer gut befreundet. Oft höre ich längere Zeit nichts von ihm, doch dann taucht er zu den unmöglichsten Zeiten völlig unerwartet auf. Zum Beispiel im Krankenhaus nach meiner Augen-OP, oder einmal beim Grillen an meinem Geburtstag. So war es auch dieses Mal. Er kam unangemeldet zu mir nach Hamburg, wir quatschten über dies und das, und dann erzählte er mir von einer Integrationsschülerin namens Luisa, die, wie er sagte, einen „schrecklichen“ Pudel als Führhund hatte. „Bali heißt der.“

Als ich Näheres erfahren hatte, musste ich lachen. „Ah, krass, ich bekomme meinen Hund von der gleichen Schule und kenne Bali. Warum ist der schrecklich?“

„Sind nicht alle Pudel schrecklich?“, fragte mein Grundschullehrer. „Und eingebildet obendrein?“ Er lachte ebenfalls. „Und dann diese Frisur!“

„Ich werde es herausfinden“, sagte ich.

So kam eins zum anderen. Ich verabredete mich mit Luisa in Stade, wo sie zu der Zeit arbeitete. Bali führte uns durch die Stadt. Richtig – uns. Natürlich schützte ich mich mit dem Stock, aber dieses schöne, stolze, kluge Tier führte Luisa und mich so sicher durch die Gässchen Stades, als hätte es das schon immer getan. Wahnsinn!

„Luisa, das ist einfach unfassbar!“, schwärmte ich. „Ich bin auf unserem ganzen Weg nicht einmal irgendwo hängen geblieben.“

Als meine Mutter mich wenig später in Hamburg besuchte, bummelten wir zusammen mit Luisa durch die Innenstadt. Auch sie verliebte sich in den Pudel, obwohl sie die üblichen Vorurteile gehabt hatte.

In den nächsten Monaten besuchte ich Gin zwei Mal. Der große Tag rückte näher und ich war voller Vorfreude. Zwischenzeitlich war ich ins Studentenwohnheim gezogen, weil Greta spontan eine Hundeangst entwickelt hatte, obwohl ich ihr noch vor unserer ersten gemeinsamen Wohnungsbesichtigung gesagt hatte, dass ich in Zukunft definitiv mit einem Hund leben würde. Dies war nun schon mein dritter Umzug innerhalb Hamburgs. Aus Bergedorf war ich ausgezogen, weil ich mit zwei ehemaligen Mitschülern in einer WG wohnte, diese mich aber als unbezahlte Putzfrau betrachteten, bis morgens um fünf Uhr soffen und grölten, ohne Rücksicht auf Verluste und morgendliche Termine.

Am Montag, dem 16. Juli 2012, zog Gin Tonic zu mir. Ich war schrecklich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, bis es richtig losging. Die Trainerin reiste am selben Abend an. Eigentlich hatten wir vereinbart, dass sie gegen Mittag kommen sollte, doch aus privaten Gründen verschob sich ihre Ankunft. Mir stiegen immer wieder die Tränen in die Augen – vor Freude. Die Trainerin lachte mich aus und wiederholte jedes Mal, dass ich verrückt sei. Aber was sollte ich tun? Ich freute mich eben so sehr auf meine neue Begleiterin.

Am Dienstag begannen wir mit dem Training. Wir übten den Freilauf und den Gehorsam, und nachmittags liefen wir schon eine kleine Runde im Geschirr über die wuselige Grindelallee. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Nur gut ein halbes Jahr, nachdem ich mich bei dieser Schule vorgestellt hatte, war nun ein Hund an meiner Seite. Doch manches gefiel mir überhaupt nicht. So musste ich nach gefühlten fünfzig Metern, in denen wir im Geschirr liefen, ständig Futter verwenden, um Gin zum Weitergehen zu motivieren. Wie bei einer Dampflok, die mit Kohle befeuert wird.

Die erste Nacht schlief ich sehr unruhig. Gin schlug bei dem kleinsten Geräusch an. In einem Studentenwohnheim ist es allerdings leider selten ganz still. Kein Vergleich zu dem Dörfchen, in welchem sie ihre Ausbildung genossen hatte.

Der Mittwoch verlief wie der Dienstag. Allerdings stieß mir die Art und Weise auf, wie die Trainerin Fehlverhalten korrigierte. Kam Gin zu mir, stellte sich aber nicht korrekt an meine linke Seite, sollte ich ihr in die Flanke kneifen. Verweigerte sie einmal das Anzeigen einer Treppe, riss die Trainerin sie im Geschirr hoch und ich hörte den Hund quietschen. Ich möchte hier keine schmutzige Wäsche waschen, sondern gebe nur ungeschönte Tatsachen wieder. Nach der zweiten Nacht war ich so kaputt, dass ich das Gefühl hatte, ein Jahr lang schlafen zu müssen. Gin bellte viel und war nur dann völlig entspannt, wenn die Trainerin bei uns war.

Donnerstagmorgen eskalierte die Situation. Meine Nachbarin Olga begrüßte Gin, nahm ihren Kopf in beide Hände, kraulte ihre Schnauze, blickte ihr in die Augen und fragte, ob sie denn gut geschlafen hätte. Gin fing an zu knurren. Sie hörte gar nicht mehr auf damit. Ich war schockiert. Was zur Hölle war mit Gin los? Ich versuchte, ihr gut zuzureden, aber vergebens. Da ich das Verhalten des Hundes nicht einschätzen konnte, bat ich Olga, mein Zimmer zu verlassen, bevor noch etwas Schlimmes passierte. Sie ging, und Gin hörte mit dem Theater auf.

Vollkommen fertig berichtete ich der Trainerin von diesem Vorfall. Ihre Antwort darauf war: „Du musst ihr das Gefühl geben, dass alles in Ordnung ist und es keinen Grund zum Knurren gibt.“ Großartig! Wie sollte ich einem völlig fremden Hund, der aus heiterem Himmel Leute anknurrte, nur weil man ihn falsch angeschaut hatte, ein Gefühl von Sicherheit geben, wenn ich doch selbst total verunsichert war?

Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt wenig Erfahrung mit Hunden. Eine wichtige Begegnung aber werde ich nicht vergessen: Der Hund des damaligen Freundes meiner Mutter hatte anfangs fürchterliche Angst vor mir, weil er nicht damit umgehen konnte, dass ich mich komisch bewegte oder ihn nicht direkt ansah. Bei jeder Gelegenheit bellte und knurrte er mich an. Aus Angst, ihn zu verärgern, überlegte ich mir nachts dreimal, ob die Blase wirklich doll genug drückte und ich mich aus meinem Zimmer trauen sollte. Aber nach einer Weile lagen wir beide vor dem Kamin, der Hund mit dem Kopf in meinem Schoß. Ich weiß nicht, wie es geschehen war, irgendwie hatten wir zueinandergefunden. Ich war kein Profi, was Hunde anging. Zu wenig wusste ich über den Umgang mit ihnen. Und ich hatte großen Respekt vor ihnen, vor allem vor den knurrenden. Weil die Trainerin das wusste, fühlte ich mich mit ihrem Rat ziemlich alleingelassen. Sie schien meine Bedenken, Gin nicht in den Griff zu bekommen, nicht wirklich ernst zu nehmen.

Gin, die Trainerin und ich bummelten durch meine Lieblingspassage und aßen eine Kleinigkeit. Wir saßen da, waren ganz entspannt, und ich dachte schon: „Na also, es klappt ja doch!“ Aber dann kam ein Kind, das Gin zu lange in die Augen schaute, und schon fing sie an zu knurren und zu bellen. Ich hätte auf der Stelle heulen können.

Am Nachmittag rief mich meine Mutter an und fragte begeistert nach den Fortschritten. Jetzt heulte ich wirklich.

„Ich schaff das nicht. Gin bellt ständig, wenn andere Leute etwas tun, was ihr nicht passt, und ich weiß einfach nicht wieso. Ich glaube, wir passen nicht zueinander!“

Meine Mutter versuchte erst, mich zu trösten, und redete mir gut zu, aber je mehr ich ihr mein Leid klagte, desto besser verstand sie, was wirklich los war. „Hör auf dein Bauchgefühl“, sagte sie. „Erzwingen kannst du nichts!“ Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich mich längst entschieden. Die vielen Gassirunden im Dunkeln, in denen Gin unschuldige Passanten anknurrte, dieses ständige Gebell, sobald sich jemand erdreistete, sein Zimmer zu verlassen, die scheinbare Lustlosigkeit, mit der Gin mit mir arbeiten wollte …

Da ich die Anweisungen hatte, Gin nicht allein zu lassen, damit die Bindung sich festigte, nahm ich sie am Abend umständlich mit in den Wäschekeller. Mittlerweile hatte ich Angst vor lauten Geräuschen, denn ich wollte um jeden Preis ihr Bellen vermeiden. Bis zur Waschmaschine ging alles gut. Es lag nur noch der Rückweg vor uns. Während wir auf den Fahrstuhl warteten, kam ein Bewohner des Wohnheims über die Treppe zu uns in den Keller. Er bog um die Ecke und ich grüßte ihn. Gin auch – auf ihre Art. Sie bellte und knurrte, als wolle sie ihn zerfleischen. Zum Glück kam in dem Moment der Fahrstuhl. Ich konnte sie hineinziehen und dem armen Mann nur noch ein „Es tut mir wirklich leid!“ hinterherrufen. Vor lauter Hektik drückte ich irgendeinen der Knöpfe. Zu meinem Glück war es nicht der Alarm, doch wir stiegen im falschen Stockwerk aus. Ich erkannte es am Geruch im Flur und daran, dass ich mir fast das Genick brach, als ich über einen geparkten Rollstuhl vor einem der Zimmer stolperte. Nicht auch das noch! Nicht noch mehr potenzielle Opfer!

Irgendwie schafften wir es ohne weitere Zwischenfälle in mein Zimmer. Der Tag mit Gin war schlimm genug gewesen und ich hatte mich entschieden, mich von ihr zu trennen. Und wie es kommen musste, tat sie alles, um diesen Entschluss zu festigen. Was hatte ich nur falsch gemacht? Weinend brach ich auf meinem Bett zusammen. Was zu viel war, war zu viel!

Wenn schon niemand meine Sangeskünste entdeckte, ich nicht auf große Welttournee gehen konnte, wollte ich mit Kindern arbeiten. Wie aber sollte mein Alltag aussehen, wenn ich einen so launischen und unberechenbaren Hund an meiner Seite hatte?

Wir taten beide kein Auge zu. Gin fühlte sich offenbar genauso unwohl in meiner Gesellschaft wie ich mich in ihrer. Wir verunsicherten einander und alles würde sich nur noch weiter aufschaukeln, statt besser zu werden. Mein Entschluss, Gin zurückzugeben, war richtig, das wusste ich nun ganz sicher, auch wenn es wehtat. Die Ärmste konnte ja nicht wirklich etwas dafür.

Am Freitagmorgen teilte ich der Trainerin meine Entscheidung mit: „Wir passen wohl doch nicht zueinander. Oder ich bin noch nicht so weit. Oder es ist etwas ganz anderes, keine Ahnung. Jedenfalls kann Gin nicht hierbleiben.“

Sie nickte und meinte, ich wäre wohl zu unsicher gewesen und sie würde es gern in drei Jahren noch einmal mit mir probieren. Frustriert schleppte ich Gins Bett zum Auto. Zum Abschied bellte sie mich noch einmal aus dem Auto heraus an. Die Trainerin lachte nur und sagte: „Jetzt bellt sie ja wieder.“

Ich war am Boden zerstört. Alles hätte so schön sein können. Musste ich wirklich drei Jahre lang warten, bis ich einen erneuten Versuch starten konnte? Würde ich überhaupt jemals so weit sein und den richtigen Hund finden?

Wie sollte es nun weitergehen? Ich durchsuchte das Internet nach Führhundschulen. Davon gibt es gefühlt tausend in Deutschland. Das Problem bei dieser Art von Dienstleistung ist, dass jeder, der möchte, eine solche Schule aufmachen kann und dass es nur sehr wenig Statuten und kaum einheitliche Richtlinien gibt. Jede Schule kocht ihr eigenes Süppchen und wir Interessenten können nichts anderes tun, als die Spreu vom Weizen zu trennen. Wahrscheinlich sind von einhundert Schulen sechsundneunzig ein Griff ins Klo.

Die Suche nach der perfekten Schule stellte sich als genauso schwierig heraus wie die Suche nach dem Mann fürs Leben oder einem geeigneten Katzenstreu. Zusammen mit meiner Mutter besuchte ich im August eine weitere Schule in der Nähe unseres Wohnortes in Niedersachsen. Alles klang toll und wieder einmal sehr vielversprechend. Ich betonte, dass ich den Welpen, der für mich in Frage kam, gern schon kennenlernen würde, um später nicht einem völlig fremden Hund ausgeliefert zu sein. Die Idee fand Anklang, ebenso wie mein Wunsch nach einem weißen Königspudel. Im Nachhinein entpuppten sich meine Wünsche als äußerst dämlich. Was, wenn der heute so süße Welpe sich aus irgendeinem Grund nicht zur Ausbildung eignete?

Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte, klang doch alles fast schon zu perfekt. Zu Hause googelte ich den Namen des Trainers, und was ich herausfand, war ernüchternd. Er hatte in der Vergangenheit Polizeihunde ausgebildet. Ich las mehrere Erfahrungsberichte von Hundehaltern, die mit dem Trainer dieser Schule in anderen Kontexten zusammenarbeiteten, und immer wieder tauchten die Worte „Unterwerfung“, „Gewalt“ und „Angst“ auf. Von ihm ausgebildete Führhunde hatten wieder aus dem Dienst genommen werden müssen, da sie erhebliche Mängel in der Führarbeit, im Verhalten oder in anderen Eigenschaften aufwiesen.

Nun ging das Theater los! Ich wurde von der Schule des Trainers mit Anrufen bombardiert, sodass ich bei meinem Mobilfunkanbieter anrief, um mir eine neue Nummer geben zu lassen. Unerklärlicherweise erhielt ich daraufhin Mails von der Schule, obwohl diese nicht im Besitz meiner E-Mail-Adresse sein konnte. Eine entfernte Freundin, die wir von den Heimspielen des VfL Wolfsburg her kennen, rief meine Mutter an und teilte ihr aufgeregt mit, dass sich eine Blindenführhundschule bei ihr gemeldet und nach meiner Telefonnummer gefragt habe. Voll der Psychoterror!

Ich beschloss, mir noch eine einzige verdammte Schule anzusehen, und zwar – welche auch sonst? – die Stiftung aus Berlin. Nun also doch! Blöde Stiftung! Aber was soll ich sagen … Ich hatte mich auch mehrere Jahre lang gegen die Känguru-Chroniken oder gegen Game of Thrones gewehrt und war am Ende vollkommen hin und weg gewesen.

Am 2. November 2012 kam ich am Berliner Hauptbahnhof an und wurde von einer Trainerin und ihrem Auszubildenden begrüßt. „Hallo, ich bin Antoine“, sprach es aus der Nähe meines Bauchnabels zu mir. Mein Gott! Haben wir Deutschen auch so schrecklich typische Namen?

Auf dem Weg zur Schule, der sich etwas verlängerte, da das Berliner S-Bahnnetz wohl auch für Einheimische eine gewisse Herausforderung darstellte, gurkten wir, während ich mit der Trainerin über den Besuch von Martin Rütter plauderte, erst einmal eine halbe Stunde in die entgegengesetzte Richtung, bis einem meiner beiden Begleiter der Irrtum auffiel. Ich konnte mir Kommentare über die Mobilität und ihren Orientierungssinn nicht verkneifen. Als wir endlich ankamen, setzten wir uns bei Kaffee und Keksen zu sechs oder sieben Trainern an den Tisch und ich erzählte von meinen Abenteuern mit den bisher kennengelernten Schulen. Sie hörten aufmerksam zu und schienen keineswegs überrascht.

Die Schule verfügte über eine eigene Zucht, womit die Herkunft der Hunde von Anfang an klar war. Sobald der passende Hund für mich gefunden worden sei, sollte ich für drei Tage in die Schule kommen, damit wir einander kennenlernen. Der erste Teil der Einarbeitung würde in Berlin stattfinden, damit die gewohnten Wege des Hundes dazu genutzt werden konnten, dass ich mich dessen Führung anvertrauen sollte. Das klang gut. Ich erinnerte mich an die Einarbeitung mit Gin, die mich fürchterlich gestresst hatte, weil auf einmal Hund und Haushalt gleichzeitig zu führen waren. Die Warteliste, so hieß es, sei allerdings derart lang, dass es gut und gerne zwei Jahre dauern würde, bis ich einen Hund bekäme. Auch dies sprach in meinen Augen für die Qualität dieser Schule. Es folgte ein Gang durch das Haus mit seinen Gästezimmern, den drei Wurfräumen für Mutter und Welpen, dem paradiesischen Garten, in welchem es so viel Spannendes für kleine Hunde zu entdecken gab, dass ich selbst gerne mit den Welpen ins Bällebad gehüpft wäre, den wackelnden Halbkreis zur Förderung der Balance ausprobiert hätte, über Baumstämme und Sandhaufen gekugelt wäre und vieles mehr. Zu meinem Glück waren gerade Welpen da, von denen mir einer zur Begrüßung voller Inbrunst in die Nase biss. Herr Geiger, der Chef der Schule, grinste und erklärte: „Wir machen Taschenkontrolle, bevor Sie gehen.“ So ein Mist! Konnte der Kerl Gedanken lesen?

399
477,84 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
160 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783960088288
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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