Читать книгу: «Ewig schön»

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Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie der Autoren oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Deutsche Erstausgabe Dezember 2020

Titel der Originalausgabe: My Pretties

Copyright © 2019 by Jeff Strand

Published by arrangement with the author

Copyright dieser Ausgabe © 2020 Savage Types Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover-Artwork: Björn Craig

Käfig-Vektoren: macrovector / Freepik und Shutterstock

Lektorat/Korrektorat: im Verlag

E-Book: im Verlag

ISBN: 978-3-9819621-0-9

www.savage-types.de


Olivia sagte dem Publikum nicht, dass es ihr letzter Auftritt sein würde. Es waren nur wenige Leute da und diese waren wohl nicht unbedingt wegen ihr hier, also würde es ohnehin niemanden interessieren. Sie würde einfach versuchen, die beste Show zu liefern, all ihre Leidenschaft in diese letzten sechs Songs zu legen und dann von der Bühne gehen, um sich auf andere Bereiche ihres Lebens zu konzentrieren.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht hätte vorstellen können, ihren Traum aufzugeben. Das war, bevor sie zehn Jahre lang in kleinen, oft beschissenen Läden mit klebrigen Fußböden aufgetreten war, für wenig bis gar kein Geld und das vor einem kaum interessierten Publikum. Es war kein feindseliges – immerhin war es ihr gelungen, ein Jahrzehnt lang zu spielen, ohne dass ihr jemand eine Bierflasche an den Kopf geworfen hatte –, doch häufig ein lustloses und gleichgültiges. Sie war lediglich dazu da, den Leuten die Zeit so lange zu vertreiben, bis endlich der Headliner auftrat.

Olivia liebte die Musik mehr als alles andere. Und endlich begann sie zu akzeptieren, dass sie womöglich gar nicht so gut darin war.

Sie war sicherlich keine talentlose Langweilerin. Die Leute flüchteten nicht mit den Händen über den Ohren aus dem Laden, aber sie rannten ihr auch nicht gerade den Merchandise-Stand ein, um Sticker und CDs zu kaufen. Manchmal sagten ihr einzelne Konzertbesucher, dass ihnen ihr Auftritt gefallen hatte, doch sie konnte nicht behaupten, sich in all den Jahren eine Fangemeinde aufgebaut zu haben. Es kam höchst selten vor, dass jemand extra wegen ihr vorbeikam. Groupies hatte sie jedenfalls keine, dabei würde sie sich inzwischen sogar über einen gruseligen Stalker-Typen freuen.

Die Erkenntnis, dass sie womöglich bestenfalls durchschnittlich talentiert war, kam ihr, nachdem sie wider besseren Wissens einen regulären Job angenommen hatte, bei dem sie spürte, dass sie ihn vielleicht nicht hassen würde. Und damit behielt sie recht. Es war ein anständig bezahlter, befriedigender Job mit freundlichen Kolleginnen – eigentlich ein Albtraum also für ihre Künstlerseele. Sie wollte noch immer eine erfolgreiche Musikerin sein, doch sie gierte nicht mehr danach. Obwohl sich Olivia nach der Bewunderung des Publikums sehnte, hatte sie durchaus auch etwas für betriebliche Beihilfe zur ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung übrig.

Mit dem Gedanken, die Musik an den Nagel zu hängen, spielte sie nun schon eine ganze Weile. Den Ausschlag gab der Moment, als sie beschlossen hatte, keiner ihrer Kolleginnen etwas von ihrem heutigen Gig zu erzählen, weil sie sich Sorgen darüber machte, dass diese aus Höflichkeit gezwungen wären, zu lügen, wenn sie ihren Auftritt lobten.

Also war’s das jetzt.

Der Verantwortliche gab ihr ein Zeichen, und sie betrat mit ihrer akustischen Gitarre die Bühne, spielte sich förmlich die Seele aus dem Leib.

Sie hatte befürchtet, dass sie zu weinen anfangen würde, wenn das Set vorbei war, was eher unangenehm für die Zuschauer gewesen wäre, weil die schließlich nicht ahnen konnten, dass es für sie das Ende eine Ära bedeutete. Als es vorbei war jedoch, fühlte sie eine merkwürdige Ruhe, ganz so als wäre das alles nicht real. Sie war beinahe glücklich. Erleichtert.

Olivia verließ die Bühne unter verhaltenem Applaus. Sie holte sich ein Bier und lehnte sich gegen die hintere Wand, sammelte ihre Gedanken.

Ein Mann kam zu ihr herüber. Er wirkte ein paar Jahre älter, vielleicht Mitte dreißig. Er trug eine getönte Brille und besaß einen dieser gigantischen Hipster-Bärte. Am Hals trug er einen schmalen Verband. »Tolles Set«, sagte er.

»Danke.«

Er wechselte seine Bierflasche von der rechten in die linke Hand und streckte ihr erstere hin. »Greg.«

Sie schüttelte ihm die Hand. »Olivia.«

»Echt beeindruckend, was Sie da oben abgeliefert haben.«

»Danke. Hey, ich möchte echt nicht zickig sein, aber ich muss ein bisschen runterkommen und bin gerade nicht darauf aus, angemacht zu werden.«

Greg hob die Linke und tippte sich an den Ehering. »Das habe ich auch nicht vor.«

»Und verheiratet zu sein würde Sie davon abhalten?«

»Ich schwöre, ich versuche nicht, Sie in die Kiste zu kriegen. Alles, was ich will, ist eine Minute Ihrer Zeit. Wer ist Ihr Manager?«

»Ich habe keinen.«

»Echt jetzt?«

»Echt jetzt.«

»Dann bin ich ja froh, dass ich rübergekommen bin, um mit Ihnen zu sprechen. Ich habe keine Ahnung, welche Richtung Sie sich für Ihre Karriere vorstellen, aber ich könnte wetten, Sie haben höhere Ziele, als in diesem Laden zu spielen.«

Olivia zuckte die Achseln. Auch wenn Greg nett zu sein schien, er war genau einen Auftritt zu spät dran.

Er griff in seine hintere Hosentasche, holte seine Brieftasche hervor und zog eine Visitenkarte heraus. Darauf stand: Gregory Coffer – Künstlervertretung, dazu eine Telefonnummer und Webseitenadresse. In der oberen rechten Ecke waren ein paar Musiknoten abgebildet. Er steckte die Brieftasche zurück, während Olivia auf die Karte starrte.

»Sie vertreten Musiker?«, vergewisserte sie sich.

»Jap.«

Sie gab ihm die Karte zurück. »Danke. Das habe ich schon mehrfach durch. Nichts für ungut, aber mir haben schon diverse Manager das Blaue vom Himmel versprochen.«

»Ich verspreche Ihnen nicht das Blaue vom Himmel. Ich behaupte nicht, dass ich Sie in den Madison Square Garden bringen kann. Aber ich sage, dass ich Ihnen weit bessere Gigs als den hier verschaffen kann. Sie schreiben alle Ihre Songs selbst, richtig?«

Olivia nickte.

»Das merkt man. Wenn eine Künstlerin ihr eigenes Material spielt, die Songs, die sie selbst geschrieben hat, für die sie Leidenschaft empfindet, dann hat das eine ganz spezielle Energie. Sie haben zu viel Talent, um nur für ein Dutzend Leute zu spielen, die zu beschäftigt damit sind, auf ihre Telefone zu starren, und gar nicht wirklich mitbekommen, was Sie zu bieten haben. Sie sollten in besseren Läden als Vorband für größere Acts spielen. Und dann sollten andere Leute ihre Vorband und Sie der Hauptact sein. Das lässt sich nur in ganz kleinen Schritten vorantreiben, und es bedeutet eine Menge harter Arbeit, aber Sie haben etwas Besonderes. Ich kann Ihnen helfen.«

Olivia lachte. Sie konnte nicht anders.

Greg hob eine Braue. »Ich habe den Witz wohl nicht verstanden.«

»Ich höre auf«, erklärte sie. »Heute Abend war mein Abschiedsauftritt. Ich habe genug von diesem Geschäft.«

»Oh. Das bricht mir das Herz. Ich fühle mich geehrt, dass ich dabei sein durfte, und ich wünschte, ich wäre Ihnen früher begegnet. Ich habe das Gefühl, ich hätte einiges ändern können.«

»Vielleicht.«

»Kann ich Ihnen dann wenigstens eine signierte CD abkaufen?«

»Ich habe diesmal keinen Tisch mit Merch-Kram aufgestellt.«

»Tja, Scheiße. Ich mache jeden Abend meine Runden, um unentdeckte Talente wie Sie aufzuspüren, und jetzt bin ich verdammt nochmal zu spät hierhergekommen. Wenn ich Glück habe, sehe ich Sie in einem Jahr oder auch mehr woanders spielen und finde heraus, dass Sie sich’s anders überlegt haben.« Er streckte die Hand aus. »Viel Glück, Olivia.«

Sie seufzte. Dann nahm sie einen langen Zug von ihrem Bier und leerte damit die Flasche. »Ich brauche noch was zu trinken«, stellte sie fest. »Wie wäre es, wenn Sie mir eins kaufen und wir reden?«

»Das würde mich sehr glücklich machen.«

»Es ist fast sicher, dass ich nein sage. Aber ich werde mir anhören, was Sie zu sagen haben.«

»Fantastisch.« Er zeigte auf ihre Flasche. »Dasselbe nochmal?«

»Ja.«

»Bin gleich wieder da.«

Olivia beobachtete Greg aufmerksam, als er zur Theke hinüberging. Er schien ein wirklich netter Kerl zu sein, doch das hieß nicht, dass er nicht versuchen würde, ihr etwas ins Getränk zu mischen.

Sie konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. Sie hatte nächtelang wachgelegen und über diese Entscheidung nachgedacht. Auf der Arbeit hatte sie deshalb auf der Toilette geweint. Und jetzt, nachdem sie ihren Frieden damit gemacht hatte, nachdem sie sich mit ihrem Leben zufriedener fühlte, tauchte Greg auf und würde ihr womöglich ein Angebot machen, das sie auf ewig grübeln lassen würde, was hätte sein können, wenn sie es ablehnte.

Doch sie sollte es ablehnen. Absolut, ganz sicher und fraglos sollte sie es ablehnen. Wieso noch einmal die ganze Frustration durchmachen?

Der Barmann öffnete die Flaschen, und Greg brachte sie an ihren Tisch. Er stellte ihr eine der beiden Flaschen hin und hob dann seine. »Prost.«

»Prost.« Sie stießen an.

»Also. Erlauben Sie mir, ganz offen zu sein«, begann Greg. »Wenn Sie bisher zu kämpfen hatten, liegt das nicht am fehlenden musikalischen Talent, sondern an der fehlenden Bühnenpräsenz.«

Olivia grinste. »Wollen Sie damit sagen, ich bin langweilig?«

»Ganz und gar nicht. Sie konzentrieren sich nur komplett auf die Songs, null aufs Reden. Zu jedem Song sollten Sie eine Anekdote parat haben. Einen Witz, irgendetwas, das den Zuschauern das Gefühl gibt, dass sie ihre Freunde sind.«

»Das habe ich schon versucht. Ich war furchtbar schlecht darin.«

»Daran können wir gemeinsam arbeiten. Ich schwöre Ihnen, Olivia, ich kann Sie auf die nächste Stufe heben. Ich behaupte nicht, dass ich Sie bis da oben bringen kann«, sagte er, während er die Hand hoch in die Luft reckte, »aber ich verspreche Ihnen, dass ich Sie auf jeden Fall bis hierhin bringen kann.« Nun hielt er die Hand vor seinem Körper auf Brusthöhe.

»Von wo aus genau?«

Greg senkte die Hand nur wenige Zentimeter. Dann lachte er leise. »Tut mir leid, ich möchte mich ungern unter Wert verkaufen, doch ich möchte meine Hand auch nicht zu weit herunternehmen und Sie damit beleidigen. Diese Handsache ist etwas, bei dem ich nicht gewinnen kann. Ich will damit lediglich sagen, dass ich helfen kann.«

»Ich weiß nicht.«

»Ich mag es, einen gewissen Zweifel in Ihrer Stimme zu hören. Wir sind auf einem guten Weg.«

Eine sichtlich betrunkene Frau stolperte in ihre Sitznische hinein und hätte beinahe die Bierflaschen umgestoßen. Mit unstetem Blick sah sie Olivia an. »Das. War. Super.«

»Entschuldigung?«

Die Frau zeigte auf die leere Bühne. »Das da. Als du da oben warst. Diese krassen Songs. Hast du mich nicht mitgrooven sehen?«

»Bei dieser Beleuchtung ist es schwer, die Leute vor der Bühne richtig zu sehen, aber das freut mich. Dankeschön.«

»Nein, ich danke dir. Na ja, ich wollte dich nicht bei deinem Date stören. Tschüss.« Die Frau schwankte davon.

»Sieht aus, als wäre ich nicht der einzige mit einem sehr guten Musikgeschmack«, stellte Greg fest.

»Das war schräg. So etwas passiert mir sonst nie. Wenn es das täte, hätte ich doch nicht aufgehört.« Zugegeben, die Frau würde wahrscheinlich in drei Minuten auf dem Klo einschlafen, doch es machte Olivia nichts aus, wenn das Lob von Leuten kam, die zu besoffen waren, um zu wissen, was sie von sich gaben.

»Ich habe Sie zwar vorher nie spielen sehen, aber vielleicht hat der Gedanke, dass dies ihr letzter Auftritt war, Ihnen erlaubt, sich auf der Bühne zu entspannen.«

»Ich war nicht entspannt.«

»Aber zumindest entspannter als sonst?«

»Nein. Noch mehr unter Druck. Aber ich habe versucht, mit einem Paukenschlag abzutreten. Ich weiß nicht, doch was ist, wenn ich mich die ganze Zeit zu sehr zurückgehalten habe?«

Greg trank einen Schluck Bier. »Ist schon möglich.«

»Oder es ist purer Zufall«, gab Olivia zu bedenken. »Das Schicksal versucht, mich zu verarschen. Die Welt pflanzt mir lauter ›Was wäre wenn‹ ins Hirn, gerade als ich dachte, ich weiß jetzt, wie der Hase läuft.«

»Wo wäre das Risiko dabei? Ich will kein Geld von Ihnen. Ich arbeite auf Provision. Ich bitte Sie nur um ein wenig Ihrer Zeit. Damit ich an Ihrem Auftritt, Ihrem Auftreten feilen kann, und Sie ein paar bessere Gigs spielen können, die ich Ihnen verschaffen werde. Ich bitte Sie um einen Monat. Nur einen Monat. Einen Monat, damit Sie sagen können: ›oh, meine Karriere läuft ja tatsächlich etwas besser als noch vor einem Monat. Ohne Vertrag. Sie können gehen, wann immer Sie wollen.«

Olivia wollte schon ablehnen. Stattdessen nahm sie einen großen Schluck Bier. »Ich muss erst darüber nachdenken.«

»Das ist vollkommen in Ordnung. Ich will Sie nicht unter Druck setzen. Ich bitte Sie nur darum, meine Karte nicht wegzuwerfen. Vielleicht gehen Sie nach Hause und stellen fest, dass Sie absolut kein Interesse haben, dann ist das in Ordnung, doch wenn Sie es sich noch anders überlegen, rufen Sie mich an, auch in einem Jahr oder in zwei Jahren. Ich lüge nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich fast nie ein Talent wie das Ihre zu sehen bekomme. Das sage ich nicht bloß so dahin. Ich meine, zur Hölle, es hat mich jetzt schon ein überteuertes Bier gekostet.«

Olivia lachte und nahm einen weiteren Schluck. »Es war ein sehr merkwürdiger Abend.«

Sie trank die Flasche leer und begann, den Überblick über die Unterhaltung zu verlieren. Greg bot an, Sie zu ihrem Wagen hinauszubegleiten, und sie fand, das wäre eine gute Idee, weil er doch sehr nett war, also ließ sie sich von ihm aus dem Club führen, konnte sich nicht erinnern, ob sie ihre Gitarre bereits ins Auto gebracht hatte, doch das spielte wahrscheinlich keine Rolle, da sie bezweifelte, dass sie diese je wieder spielen würde, doch vielleicht sollte sie die Gitarre lieber verkaufen, statt sie einfach hier stehenzulassen, aber vielleicht hatte sie sie auch schon zum Auto gebracht, das wusste sie jetzt nicht mehr so genau, und Greg führte sie auch nicht wirklich in Richtung ihres Wagens, was ihr zunächst nicht gut erschien, doch dann auch wieder gar nicht so schlimm, als sie feststellte, dass sie sowieso nicht mehr fahren sollte, denn das wäre leichtsinnig und verantwortungslos, und es war auch sehr nett von Greg, dass er sich um sie kümmerte, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie keine Musik mehr machen wollte, und er war sogar so nett, den Sicherheitsgurt für sie zu schließen, fast so, als wäre sie seine Tochter, Olivia wünschte, sie hätte eine Tochter, nur eine, sie musste es ja nicht gleich übertreiben, oh, das war witzig, aber sie konnte ihren Mund nicht zum Lachen bewegen, wollte die Augen schließen und für immer schlafen, doch das wäre ja unhöflich, aber es war zu spät, sie hatte die Augen bereits geschlossen und konnte sie nicht mehr öffnen und wollte sie auch nicht öffnen und Greg war wirklich nett zu ihr.


Olivia öffnete die Augen.

Sie schwankte hin und her.

Allerdings nicht wegen der Drogen, die ihr verabreicht worden waren. Sie befand sich in einem Käfig, der mehr als einen Meter über dem Betonboden hing, und ihre Beine baumelten lose herab. Sie hatte kaum Platz, sich zu bewegen – mit ihrem Höchstgewicht vor ein paar Jahren, hätte sie hier wahrscheinlich nicht hineingepasst. Die Oberseite des Käfigs drückte gegen ihren Kopf. Ihre Schultern berührten die Seiten.

Ihren Kopf konnte sie drehen. Als sie das tat, stellte sie fest, dass der fensterlose Raum ein Dutzend Käfige enthielt, vier Reihen à drei Stück, die an dicken Ketten von der Decke hingen. Mehr als die Hälfte davon waren belegt.

Ein Holzstuhl und eine Trittleiter standen hinten in der Ecke, neben einer Tür.

Die Frau im Käfig neben ihrem war blass. Abgemagert. Ihre Augen waren geöffnet und sie blickte Olivia an, doch es war nicht klar, ob sie sie auch wirklich sah.

Die anderen Frauen – es waren alles Frauen – schienen tot zu sein. Drei von ihnen waren es ohne Zweifel. Die anderen beiden konnten auch nur ohnmächtig sein, waren es jedoch vermutlich nicht. Alle waren albtraumhaft dünn. Beinahe wie Skelette. Eine war tatsächlich nicht mehr als ein Skelett.

Der Verwesungsgestank war so überwältigend, dass sie einen Hustenanfall bekam, der fast eine Minute lang anhielt.

Als sie aufhörte zu husten, schrie und brüllte Olivia.

Dann zwang sie sich, den Mund zu halten und eine vernünftige Bestandsaufnahme zu machen. Greg war nicht im Raum. Sie könnte entkommen. Ihr Verstand war noch benebelt, doch es musste einen Weg hier raus geben. Einen, den all diese anderen zum Tode verdammten Frauen übersehen hatten.

»Tu’s nicht«, sagte die Frau im Käfig neben ihr. Ihre Stimme war ein schwaches Krächzen.

»Tu was nicht?«

Die Frau blinzelte zweimal heftig, als müsse sie sich konzentrieren. »Schreien. Das tut meinen Ohren weh.«

»Wo sind wir?«

»Spielt das eine Rolle? Warte einfach, bis es vorbei ist. Wenn du aufhörst, etwas zu spüren, ist es nicht mehr so schlimm.«

Olivia fing an, mit den Beinen vor und zurück zu schwingen. Der Käfig schaukelte mit.

»Das haben wir auch schon versucht. Wir haben das alles versucht. Wir haben wirklich alles versucht.«

»Na ja, ich werde nicht einfach hier sitzen bleiben.«

»Doch, wirst du. Das ist alles, was du hier machst. Sitzen. Er gibt dir Wasser. Aber nichts zu essen. Es gibt nie etwas zu essen. Wir sehen bald genauso aus wie die anderen.«

»Sind die alle verhungert?«

»Ich glaube, auf die erste war er wütend. Hab ich gehört. Da war ich noch nicht hier. Der Rest ist verhungert.«

»Wir können abhauen«, beharrte Olivia. »Wenn wir zusammenarbeiten, können wir uns befreien. Es muss einen Weg geben.«

Die Frau lächelte. »Du bist ja süß.«

»Ich gebe nicht auf.«

»Wirst du.«

»Wann kommt er zurück?«

»Spielt keine Rolle.«

»Wann?«

»Das weiß keiner.«

Olivias Käfig schwang hin und her, immer nur wenige Zentimeter an dem der anderen Frau vorbei. Die Dinger waren wahrscheinlich gerade mit so viel Abstand aufgehängt worden, dass sie nicht zusammenstoßen konnten. Schwer vorzustellen, dass die Befestigung so wenig robust war, dass sie den Käfig mit ihren Schaukelbewegungen aus der Decke reißen konnte, doch irgendetwas musste sie doch versuchen. Sie konnte nicht einfach hier sitzen und sterben.

Der Käfig löste sich nicht von der Decke.

Nach einer Weile hörte sie auf zu schaukeln.

Dann verlegte sie sich wieder aufs Schreien.

Natürlich war der Raum schalldicht isoliert. Die anderen Frauen hatten sicher auch schon daran gedacht, um Hilfe zu rufen. Sie verschwendete bloß ihre Energie.

Ihre Beine baumelten herab. Wenn Greg zurückkam, könnte sie ihn zu sich locken, ihm dann ins Gesicht treten. Ihm die Nase brechen.

Das würde ihr allerdings kaum etwas nützen. Sie wäre immer noch im Käfig gefangen.

Sie könnte mit ihm reden. Ihn zu überzeugen versuchen, dass sie es niemals jemanden sagen würde, keiner Menschenseele. Sie hatte keine Ahnung, was die anderen Frauen zu ihm gesagt hatten, doch vielleicht konnte sie etwas anderes sagen. Etwas, das ihn zum Umdenken brachte.

Sie schrie noch ein bisschen weiter.

»Das tut meinen Ohren weh«, wiederholte die andere Frau, als Olivia endlich verstummte.

»Es muss doch einen Ausweg geben.«

»Das glaubst du schon bald nicht mehr. Wenn er wiederkommt, setzt er sich auf den Stuhl und sieht uns zu. Er sieht uns einfach nur zu. Sieht uns beim Verhungern zu.«


Ach, Scheiße, dachte Charlene, als sie ins Hinterzimmer kam und die Neue erblickte, die an der Wand lehnte und weinte. Musste sie das Mädel jetzt etwa fragen, was los war? Versuchen, sie zu trösten? Oder sollte sie einfach leise wieder gehen und hoffen, dass sie sie nicht bemerkt hatte?

Die Neue registrierte ihr Eindringen sofort und tupfte sich schnell die Augen trocken. »Tut mir leid. Es tut mir leid.«

Charlene war ziemlich sicher, dass das Mädchen gesagt hatte, ihr Name sei Gertie. Beim Vorstellen hatte sie gesagt: »Ja, wie Drew Barrymore in E.T.«, und wenn Drew in diesem Film jemanden namens Gertie gespielt hatte, dann musste die Neue so heißen. Charlene hatte E.T. nie gesehen und wäre nicht darauf gekommen, den Namen damit in Zusammenhang zu bringen. Stattdessen war ihr eine unglaublich unanständige Bemerkung über Aliens in den Sinn gekommen, doch erstens war Charlene auf der Arbeit und zweitens war sie Gertie gerade erst begegnet, also hatte sie sich zurückgehalten und den saukomischen, unfeinen Alien-Kommentar für sich behalten.

Darauf war sie stolz. Denn sonst sagte sie andauernd ungefiltert Dinge, die ihr gerade durch den Kopf gingen. Viele, viele Dinge.

Gertie war attraktiv, aber nicht Charlenes Typ. Sie bezweifelte, dass Gertie auch nur ein einziges Tattoo besaß. Charlene wurde lieber verführt, als selbst die Verführerin zu geben. Auch wenn es inzwischen, mit 26 Jahren, schwierig war, Momente zu erleben, in denen sie sagen konnte: »Um Himmels Willen, das habe ich ja noch nie gemacht!« Gertie machte einen unverdorbenen Eindruck. Nicht jungfräulich, aber auch niemand, der sich beim Liebesspiel würgen ließ. Durchschnittlich groß, aber extrem dünn – nicht, auf eine magersüchtige Weise, aber dennoch verdammt schlank. Wahrscheinlich kam sie frisch vom College und ihre Tränen waren der Erkenntnis geschuldet, dass ihr das vierjährige Studium einen Job als Bedienung in einem mittelmäßigen italienischen Restaurant eingebracht hatte.

»Ist alles okay?«, fragte Charlene. »Ich meine, offensichtlich nicht; war eine blöde Frage. Was ich sagen wollte ist, kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Nein. Ich brauchte nur eine Minute für mich, und die Toilette war schon besetzt.«

»Bist du sicher?« Charlene wusste nicht, wieso sie überhaupt nachfragte, ob Gertie sicher war. Mist, sie hatte die Gelegenheit gehabt, sich höflich zurückzuziehen – wieso hatte sie diese nicht ergriffen?

Gertie nickte. »Ein Gast war gemein zu mir. Ist keine große Sache. Ich werde mich daran gewöhnen.«

»Welcher Tisch?«

»Acht.«

»Die Dame im blauen Kleid?«

»Ja, genau.«

»Die sieht aus wie eine Oberzicke. Weiß sie, dass du neu bist? Du hast doch bestimmt die ersten paar Tage unter Jasons Aufsicht bedient, oder?« Charlene hatte Dienstag und Mittwoch frei gehabt. Den gesamten Dienstag hatte sie vor dem Fernseher verbracht und Serien geschaut, und am Mittwoch ihren Eltern geholfen, deren Haus zu streichen.

»Ja. Es ging nicht mal darum, dass ich etwas durcheinandergebracht hätte. Sie ist einfach nur eine von denen, der einer abgeht, wenn sie andere runtermachen, die sich nicht wehren können. Aber ich sag ja, ist kein Ding. Ich war in letzter Zeit etwas durch den Wind und war nicht darauf eingestellt, dass es gleich so losgeht, wenn ich mit meiner Schicht anfange. Das war der allererste Tisch, den ich allein bedient habe.«

»Möchtest du, dass ich mich darum kümmere?«, fragte Charlene.

»Nein, das ist schon okay. Du hast doch deine eigenen Tische.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Was denn dann?«

»Wiedergutmachung.«

Gertie bedacht sie mit einem Blick, der sagte, du machst doch wohl Witze, aber dann schien ihr rasch aufzugehen, dass es Charlene ernst meinte.

»Oh, nein, nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig. So schlimm war sie auch wieder nicht.«

»Sie hat dich zum Weinen gebracht.«

»Stimmt. Ja, doch, sie war echt schlimm. Sie kommt direkt aus der Hölle. Aber nein, du brauchst trotzdem nichts zu unternehmen.«

Charlene ging zu ihr hinüber. »Ich sag’s dir ganz ehrlich: Dieser Job ist Kacke und mir ist es egal, ob ich gefeuert werde. Also wird es mir ein Vergnügen sein, etwas gegen dein Problem zu unternehmen.«

»Ich will aber nicht, dass du Ärger bekommst.«

»Gerade habe ich doch gesagt, dass mir scheißegal ist, ob ich gefeuert werde. Ich werde ihr schon nicht mit der Gabel ein Auge ausstechen. Aber wenn ich etwas mache, wird es dir besser gehen, das verspreche ich.«

»Nein. Mach das nicht.«

»Tut mir leid. Der Zug ist abgefahren. Wenn du mich aufhalten willst, wirst du mich zu Boden ringen müssen.«

Charlene drehte sich um und verließ das Hinterzimmer. Sie ging zur Theke und nahm ein Tablett, das für Tisch 14 gedacht war, marschierte damit in den Gastraum. Sie steuerte auf Tisch 8 zu, wo eine Frau mittleren Alters saß, die aussah, als würde sie in ihrer Freizeit zum Spaß Delfine verprügeln. Ihr gegenüber saß ein weit älterer Mann, der aussah, als würde er ihr die Delfine besorgen, damit sie zum Spaß draufknüppeln konnte.

»Ihre Kellnerin musste wegen eines Notfalls in der Familie gehen«, informierte Charlene die beiden.

Die Frau schien verärgert über diese Aussage. Der Mann zuckte die Achseln und gab ein unverbindliches Brummen von sich.

»Wer bekommt die Lasagne?«

»Das ist nicht unsere Bestellung«, erwiderte die Frau. Sie hatte recht; es war nicht ihre Bestellung, aber die pampige Art, wie sie es sagte, machte zweifelsfrei klar, dass Gertie nicht übertrieben hatte, was ihr unangenehmes Wesen anging.

»Ist sie nicht?«, vergewisserte Charlene sich. »Sind Sie sicher?«

»Wir sind nicht senil. Wir wissen doch wohl selbst am besten, was wir bestellt haben.«

Charlene blickte sich kurz in Richtung Küche um. Gertie stand im Durchgang und beobachtete sie sehr genau. Sie wirkte nervös wegen dem, was Charlene womöglich tun würde. Es schien, als würde sie es jetzt bereuen, sie vorhin nicht doch zu Boden gerungen zu haben. Tja.

»Hm, mir wurde aufgetragen, Ihnen diesen Teller Lasagne zu bringen. Vielleicht habe ich mich auch verhört. Manchmal bin ich schrecklich zerstreut. Die sagen mir immer wieder, mir sollte man mal den Kopf zurechtrücken, doch höre ich deshalb besser hin? Nee. Mein Kopf sitzt immer noch schief. Sehen Sie?«

Sie legte den Kopf schief. Dann kippte sie den Teller mit der Lasagne und verschüttete alles über das Kleid der Frau.

»Oh nein!«, rief Charlene, während sich alle im Restaurant zu ihnen umdrehten und hinüberstarrten. »Oh je!«

»Verflucht nochmal!« Die Frau stand hastig auf. Tomatensauce, Käse und Pasta rutschten an ihrem Kleid hinab.

»Das tut mir schrecklich leid! Ich bin so ungeschickt!«

Charlene sah sich zu Gertie um. Die starrte erschrocken zurück, die Hand auf dem Mund. Charlene konnte nicht sagen, ob ihr der Aufruhr gefiel oder nicht Aber das spielte auch keine Rolle – er gefiel Charlene.

Sie stellte das Tablett ab, nahm eine Stoffserviette und tupfte damit am Kleid der Frau herum. »Zumindest waren es keine Spaghetti. Die wären viel glitschiger. Lassen Sie mich helfen.«

Die Frau schlug ihre Hand weg. »Sparen Sie sich die Mühe.«

»Ich bitte um Verzeihung. Wir werden Ihnen die Lasagne nicht berechnen.«

»Ich hatte keine gottverdammte Lasagne bestellt!«

»Es macht Gott traurig, wenn Sie solche Ausdrücke benutzen.«

Die Frau bedachte sie mit einem Blick voll ungefiltertem Hass.

Jetzt musste Charlene eine extrem wichtige Entscheidung treffen. Auf dem Tablett befand sich immer noch ein großes Glas Coke. Ginge das zu weit oder wäre es genau die richtige Menge Vergeltung? Vielleicht wusste die Frau ja zu schätzen, wenn das heiße Pasta-Gericht durch eine eiskalte Cola kompensiert würde. Vielleicht würden ihre Nippel davon hart werden. Jeder mochte doch harte Nippel.

Sie hob das Tablett hoch, hatte sich noch nicht entschieden, ob sie es tun sollte. Vielleicht blieb die Coke ja auch stehen. Vielleicht aber auch nicht. Es hing ganz davon ab, ob die Frau in den folgenden Sekunden aufhören würde, ein grimmiges Gesicht zu machen.

Die Frau hörte nicht auf, ein grimmiges Gesicht zu machen.

Charlene, die ein durchgeknallter Tollpatsch war, hielt das Tablett absichtlich schräg, sodass die Coke umkippte und die Frau vollspritzte. Weil diese inzwischen stand, traf das Getränk sie weiter unten als die Lasagne; sonst hätte die Flüssigkeit womöglich sogar geholfen, etwas von der Tomatensauce wegzuspülen. Die Frau stieß einen prächtigen Schrei aus.

»Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade getan habe. Es ist, als hätte ich meine Ausbildung komplett vergessen. Es tut mir ja so, so, so, so, so, so, so, so furchtbar leid.«

»Sie strunzdumme Idiotin!«

»Strunzdumme Idiotin? Ich verstehe, dass Sie sich aufregen, aber das ist kein Grund, redundant zu werden.«

»Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen.«

»Der wird gleich hier sein. Ich bin sicher, er hat ihr Geschrei gehört.«


Charlene saß im Hinterzimmer. Travis, der Manager von Davey’s Italian Grill, der keine Spur italienischen Bluts in sich hatte, saß ihr mit strengem Gesicht gegenüber. Er rieb sich die Augen, fuhr sich mit der Hand durch sein grau werdendes Haar, kratzte sich am Kopf, rieb erneut seine Augen, seufzte und machte dann den Mund auf. »Du weißt, was ich jetzt sagen werde, richtig?«

»Ich bin gefeuert?«

»Natürlich bist du nicht gefeuert. Wir sind jetzt schon knapp besetzt. Ich schneide mir doch nicht ins eigene Fleisch.«

»Ich habe nie verstanden, was das heißen soll.«

Travis wirkte überrascht. »Es heißt, dass man sich selbst bestraft, wenn man jemanden feuert und sich damit nur noch mehr Arbeit aufhalst. Es tut weh, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.«

»Warte, ich wusste doch, was das bedeuten soll. Es war das andere, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass; das habe ich nie verstanden.«

»Wenn dir jemand den Pelz wäscht, bist du nass; anders geht es nicht. Du kannst nicht beides haben, kannst nicht gewaschen werden, ohne dabei nass zu sein.«

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268 стр. 31 иллюстрация
ISBN:
9783985229260
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