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Kapitel 4
Bald wimmelte es um Cara herum von Menschen. Polizei, Spurensicherung, Rettungssanitäter, ein Bergungsfahrzeug der Feuerwehr und Journalisten der hiesigen Presse.
„Sie haben den Unfall gemeldet?“, fragte ein uniformierter Kollege, abseits des Trubels. Er sah sie forschend an.
„Ja.“
„Wie heißen Sie?“
„Cara Goldmann, Mordkommission Düsseldorf.“ Sie zückte ihren Dienstausweis.
„Düsseldorf? Na, da waren Sie ja schneller am Unfallort als wir“, scherzte er.
„Ich verbringe hier meinen Urlaub“, betonte sie und setzte nach, „Schrecklicher Unfall.“
„Leider erleben wir das oft zu dieser Zeit.“ Er sah zur Unfallstelle und wieder zu Cara. „Wo sind Sie untergebracht?“
„In einer Ferienwohnung in Lausgrott.“
„Und bei wem?“
„Marie Steiert.“
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Bei der Steiert Marie?“ Es schien dem hiesigen Dialekt geschuldet zu sein, stets den Nachnamen vor den Rufnamen zu setzen.
„Sie kennen sich?“
„Eher Maries Bruder.“ Mehr verriet er nicht. Stattdessen fragte er, seit wann sie in Lausgrott sei und was sie zu ihrer Wanderung veranlasst hätte.
„Ich kenne den Toten“, räumte Cara ein und sah dem Zinksarg nach, der an ihnen vorbei den Hang hinaufgetragen wurde. „Nicht seinen Namen, aber ich habe ihn gestern in Begleitung eines anderen Burschen im Reblaus Stüble gesehen.“
Der Beamte hielt in seinen Notizen inne. „Warten Sie bitte einen Augenblick.“ Er winkte dem ermittelnden Kommissar aus Freiburg zu sich.
„Dann lassen Sie mal hören“, übernahm dieser die weitere Befragung. Er überragte Cara um einen Kopf und besaß die Statur eines Türstehers.
„Die beiden schienen im Reblaus Stüble nicht erwünscht zu sein“, schilderte sie ihre Sichtweise vom gestrigen Abend.
„Woraus schließen Sie das?“
„Der Wirt drohte damit, die Polizei zu holen, wenn sie das Lokal nicht verließen. Ferner ließ der Sohn des Gastwirtes durchblicken, er hoffe, es wäre der letzte Besuch der beiden.“
„Und wo ist das Reblaus Stüble?“, hakte er nach.
„In Lausgrott.“ Dabei hatte sie längst den Eindruck gewonnen, dass ihm das Wirtshaus geläufig war.
„Frank, kommst du mal zu uns? Wir brauchen dich bei den Presseleuten“, rief der Kollege, der Cara zuerst befragt hatte, überfordert. Presseleute! Cara schnaufte verächtlich.
„Seid ihr dazu nicht selbst in der Lage?“, gab er unwirsch zurück.
„Würde ich dich dann fragen?“
„Ich bin hier gleich fertig.“ Und wieder an Cara gewandt: „Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Ich meine, hier, am Unfallort?“ Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen.
Sie sind mit der Situation völlig überfordert, mutmaßte Cara. „Eine Erntemaschine verschwand in dem Hohlweg da hinten“, sie deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die entsprechende Richtung, „bevor ich den Abhang hinabkletterte.“
„Ein Vollernter?“
„Nennt man die so?“
„Ja. Farbe?“
„Gelb würde ich sagen. Der Fahrer müsste eigentlich etwas von dem Unfall mitbekommen haben …“
„Haben Sie eine Ahnung, wie laut diese Maschinen sind? Da bekommt man kaum mit, was um einen herum geschieht. Sonst noch was?“
„Wie nennt man die Art von Traktor?“ Cara wies auf das umgekippte Fahrzeug. „Das ist ein Schmalspurtraktor.“ Miene und Tonfall ließen erahnen, dass er nicht erpicht darauf war, ihr Nachhilfe in Maschinenkunde zu erteilen. „Aha. Der hat sicher ein anderes Reifenprofil.“ „Ja, und?“ „Ich meine nur, weil an dem Abhang zwei unterschiedliche Reifenspuren zu sehen waren, die ineinander verliefen.“ „Das haben Sie in dem Durcheinander erkannt?“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne, doch sein Gesichtsausdruck war spöttisch. „Kommst du?“, drängte sein Kollege. „Bitte halten Sie sich zur Verfügung, falls wir weitere Fragen haben.“ Er wandte sich um und ließ Cara stehen. „Der Verunglückte könnte absichtlich abgedrängt worden sein“, rief sie ihm hinterher. Der Kriminalkommissar wirbelte herum und kam mit energischen Schritten auf Cara zu. „Geht’s noch was lauter? Möchten Sie vielleicht mit der Presse sprechen?“, zischte er. „Wir haben das hier im Griff, Frau Kollegin. Genießen Sie Ihren Urlaub.“ Er stapfte davon. Es folgte ein knapper Wortwechsel, gefolgt von Köpfen, die sich verstohlen in ihre Richtung drehten. Souverän stellte er sich daraufhin den Fragen der Reporter. Eine Frau zwängte sich aus der Gruppe der Schaulustigen hervor und steuerte mit gezielten Schritten auf Cara zu. Marie Steiert. „Du liebe Güte. Was ist denn da vorgefallen?“ Ihr Mienenspiel wechselte zwischen Entsetzen und Faszination, als sie ihre Kommissarin erreichte, die verloren am Rande des Geschehens stand. „Sind Sie mit dem Auto hier?“, antwortete Cara mit einer Gegenfrage. „Ja. Ich stehe gleich da vorne.“ „Können Sie mich mitnehmen?“ „Ja, sicher.“ Marie erhoffte sich Informationen aus erster Hand. Warum sonst hätte man die Kommissarin aus Düsseldorf befragt? „Steigen Sie ein.“ Sie setzte zurück und wendete ihren Wagen. „Was ist passiert?“, bohrte sie weiter, um ihren Wissensdurst zu stillen. „Jemand ist mit dem Traktor den Hang hinabgestürzt.“ „Ach herrje. Weiß man schon, wer es war?“ „Wie kommt es, dass Sie in so kurzer Zeit hier waren?“, stellte Cara eine Gegenfrage. „Ich war zufällig auf dem Blankenhornsberg, da sah ich Polizei und Krankenwagen vorbeijagen. Da habe ich gleich vermutet, dass etwas in den Reben passiert ist.“ „Kommt das denn öfter vor, dass ein Traktor den Abhang hinunterstürzt? Die Weinberge kommen mir nicht so steil vor wie an der Mosel.“ Wenn sie dagegen Maries Fahrstil auf sich wirken ließ … In halsbrecherischem Tempo jagte sie über den schmalen Wirtschaftsweg bis zur Hauptstraße, die nach Lausgrott führte. „Das ist die Zeit des Herbstens. Alle stehen unter Druck. Da passieren dauernd Unfälle, weil die Ladung nicht festsitzt oder der Anhänger ins Trudeln gerät.“ Marie sah Cara von der Seite an. „Und Sie haben den gefunden?“ „Achten Sie bitte wieder auf den Weg“, mahnte Cara, die nicht darauf erpicht war, dass sie die nächsten waren, die den Hang herunterstürzten. „Ich meine, da empfehle ich Ihnen einen Wanderweg und Sie stolpern gleich über eine Leiche.“ Maries Wangen glühten vor Aufregung. „Wie kommen Sie darauf, dass es einen Toten gab?“ „So wie der durch die Weinberge abgegangen ist? Das konnte der Fahrer unmöglich überlebt haben. Und der Leichenwagen …“ „Das haben Sie alles mitbekommen?“ „Ich war natürlich wie paralysiert. Später dachte ich: Die Frau Goldmann, wenn der was passiert ist, wo ich der den Wanderweg empfohlen habe … Zum Glück habe ich Sie dann bei den Polizisten stehen sehen.“ Sie verließen die Weinberge und fuhren auf die Bundesstraße. Marie überholte zwei Fahrzeuge und gliederte sich hinter einem Traktor ein. „An dem kommen wir jetzt bis Lausgrott nicht mehr vorbei“, jammerte sie – und behielt recht. „Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.“ Hektisch kramte Cara ihren Schlüssel wie einen rettenden Anker hervor. Maries draufgängerische Fahrweise war ihr in die Glieder gefahren. „Mögen Sie noch auf einen Kaffee reinkommen?“, fragte Marie. Sie bemerkte Caras Zögern und setzte nach: „So ein Erlebnis muss ja erstmal verarbeitet werden. Obwohl, für Sie als Kriminalbeamtin ist das sicherlich nichts Ungewöhnliches.“ „Wie meinen Sie das?“ Cara folgte ihr und ließ sich auf der Eckbank ihrer offenen Küche nieder. Die Stube war rustikal eingerichtet und vermittelte Gemütlichkeit. „Sie werden oft mit dem Tod konfrontiert.“ „Selten auf diese Art.“ „In welcher Abteilung arbeiten Sie?“, hakte Marie nach. „Mordkommission“, erwiderte Cara. Marie nickte nachdenklich, stellte zwei Kaffeebecher mit Smiley Motiven auf den Esstisch sowie einen appetitlich duftenden Kuchen. „Nehmen Sie Zucker und Milch in Ihren Kaffee?“ „Schwarz bitte.“ Allein beim Anblick des Gebäcks meinte Cara, die zusätzlichen Pfunde auf ihren Hüften zu spüren. „Ich hoffe, Sie vertragen einen kräftigen Kaffee.“ Marie goss eine Flüssigkeit ein, deren Farbe und Konsistenz an Teer erinnerten. „Was ist das für ein Kuchen?“ Cara schob die Kaffeetasse unschlüssig von der rechten auf die linke Seite ihres Tellers. „Ein Rahmkuchen. Ohne Rosinen.“ Gut, dass sie die Kaffeesahne weggelassen hatte, dachte Cara. Ihr Ex-Mann predigte seit Monaten, dass sie in ihrem Alter mehr auf ihr Gewicht achten müsse. Sie ließe sich gehen, meinte er. Voller Neid sah sie zu Marie Steiert, die sich drei Löffel Zucker in den Kaffee schaufelte und eine ordentliche Portion Sahne dazugab. „Grausige Geschichte“, setzte Marie erneut an und rührte so energisch den Löffel in ihrer Tasse, dass Sahne auf den Unterteller schwappte. „Ja. In der Zeitung wird man sicher darüber berichten.“ Ausweichend sah Cara sich in der Küche um. Fotos von einem Jungen und einem Mädchen im Wandel der Zeit: Bei der Einschulung, Kommunion und Abiturfeier. Zwei schlaksige Teenager mit ernstem Blick. „Ihre Kinder?“ „Ja. Basti und Marlene.“ Marie starrte versonnen auf ihre Kaffeetasse. Ein wunder Punkt in ihrer Familienchronik. Nicht geeignet, um mit einem fremden Feriengast darüber zu schwätzen. „Kommen in dem Gelände, in dem der Unfall passierte, Erntemaschinen zum Einsatz?“, fragte Cara. „Für einen Vollernter sind die Terrassen dort ungeeignet. Es gibt keine Möglichkeit zum Wenden“, seufzte Marie, dankbar für den Themenwechsel. „Die Steigung beziehungsweise das Gefälle wäre aber unproblematisch?“ „Wie meinen Sie das?“ „Mir kam der Hang nicht sonderlich steil vor.“ „Das sind schon so um die 20 Prozent. Aber für einen Vollernter stellen selbst 30 Prozent kein Problem dar. Dagegen sind die Zwischenräume der angelegten Terrassenflächen, dort, wo der Unfall passierte, zu eng. Der Fahrer wäre gezwungen, rückwärts in die nächste Reihe einzubiegen.“ „Ein Stück weiter vorne würde man eine Erntemaschine wieder einsetzen?“ „Nur wenn man lebensmüde ist. Bei der damaligen Planung der Terrassen war der Gebrauch von Vollerntern nicht vorgesehen. Das kam erst Anfang der 80er Jahre. In Lausgrott kommen sie ausschließlich in flachen Lagen, wie beispielsweise am Ortsausgang, zum Einsatz. – Aber was ich Sie fragen wollte: Was ist eigentlich gestern im Reblaus Stüble vorgefallen?“ Sie fegte ein paar Kuchenkrümel vom Tisch und sah Cara abwartend an. „Inwiefern?“ „Ich habe gehört, es gab da einen Zwischenfall. Eine Touristin soll belästigt worden sein.“ „Tatsächlich?“ „Ja. Waren Sie das?“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Das Reblaus Stüble liegt nahe der Ferienwohnung.“ „Der Vorfall scheint sich ja schnell herumgesprochen zu haben“, grummelte Cara und nagte an ihrem Daumennagel. „Zwei Burschen kamen herein, setzten sich bei mir an den Tisch. Einer der beiden griff nach meinem Weinglas und trank daraus.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sachen gibt’s.“ „Also ist da doch etwas dran an der Geschichte.“ Maries Augen weiteten sich vor Sensationslust. „Ich habe ja gleich gesagt, die werden dem Reni nicht den Umgang mit der Emilia verbieten können. Aber dass der dann so arg provoziert …“ „Wer sind die beiden? Reni und Emilia?“ „Die Emilia ist unsere Weinkönigin“, verkündete Marie mit leidenschaftlichem Tonfall. „Das ist die Tochter vom Linder, dem Wirt aus dem Reblaus Stüble. Und die ist mit einem der beiden Elsässer Brüder zusammen. Reni Durand. Das ist der Jüngere“, setzte sie Cara ins Bild. „Haben die Geschwister deshalb Hausverbot im Reblaus Stüble?“ „Nicht nur deswegen. Nachdem die Emilia zu unserer Weinkönigin gewählt wurde, passte dem Leonard der Umgang mit denen erst recht nicht.“ „Und was ist der Grund dafür?“ „Weil die Konkurrenten sind.“ „Die Burschen sind Winzer?“ „Ja, aber eben aus dem Elsass.“ „Was ist daran verwerflich?“ „Um das zu begreifen, muss man hier geboren sein.“ Maries Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. „Ich bin lernfähig.“ „Ist eine längere Geschichte.“ „Kommt darin ein Pinot Noir vor?“ Marie sah sie verständnislos an. „Pinot Noir?“ „Einer der Brüder unterstellte Herrn Linder, dass sein Wein nur deshalb prämiert worden wäre, weil er den richtigen Kellermeister kenne. Er empfahl mir einen Pinot Noir zum Vergleich.“ „So? Sagt er das?“, bemerkte Marie skeptisch. „Bisher nahm ich an, Pinot Noir und Spätburgunder seien unterschiedliche Weine. Da ich überzeugte Altbiertrinkerin bin, kenne ich mich mit den Klassifizierungen nicht sonderlich aus“, räumte Cara ein. „Pinot Noir und Spätburgunder sind zwei Bezeichnungen für die gleiche Sorte“, klärte Marie sie auf. „Man findet die Rebsorte vor allem in Weinbaugebieten wie im französischen Burgund oder dem Elsass.“ Bereitwillig unterwies sie die Kommissarin in die Techniken des Weinanbaus. „Der Pinot Noir ist schwierig anzubauen, da der Rebstock anfällig für Krankheiten ist. Die Traubenhaut ist dünn.“ Sie goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Die Durands versuchten, ihre Rebsorten aus dem Elsass in Lausgrott einzuführen. Schon immer. Dafür haben sie hier aber den falschen Boden.“ Sie schürzte die Lippen. „Wir haben vorwiegend Vulkangestein. Lössboden. Dazu kommt, dass die Sommer von Jahr zu Jahr heißer werden. Es regnet kaum. Ein erfolgreicher Winzer passt sich den Gegebenheiten an.“ Marie hatte nie begriffen, warum die Durands so sehr darauf beharrten. Selbst beim drastischen Rückgang ihrer Erträge blieben sie unbelehrbar. „Und die Durands sind da anders geartet?“ „Sie sind rebellisch, halten sich nicht an unsere Regeln. Erst recht, seit die Söhne aus dem Teenageralter herausgewachsen sind. Der alte Durand hat seine liebe Mühe mit denen. Hat selbst mal gesagt, dass er sie am liebsten im Haus behalten würde.“ Ihre Wangen hatten vor Eifer wieder einen rosigen Schimmer angenommen. „Wer ist dieser Karl Erchinger, von dem Sie gestern sprachen?“ „Wie kommen Sie jetzt auf den?“, fragte Marie verwirrt. „Der Name fiel im Reblaus Stüble – und Sie erwähnten ihn gestern im Zusammenhang mit einer furchtbaren Geschichte, die ihm widerfahren sei.“ Marie legte ihre Kuchengabel sorgfältig neben dem Teller ab und strich die Tischdecke glatt. „Der Erchinger Karl, das war ein trauriges Ereignis. Grad mal fünfzig bekommt der einen Herzanfall bei der Arbeit.“ Sie lud sich ein zweites Stück Kuchen auf den Teller und sah Cara fragend an. Sie lehnte dankend ab. „Der Karl war Kommissar im Polizeirevier Lausgrott“, erklärte sie. „Aha. Und wegen des plötzlichen Ablebens des Kollegen Erchinger nahmen Sie an, ich käme extra aus Düsseldorf hierher?“ „Was? Nein.“ Sie lachte. „Theo Conrads het Ihre Noome erwäähnt, wiil e Kolleeg us Friiburg quasi in letschter Sekund die Arbit in Lausgrott abglehnt het.“ Cara sah Marie irritiert an. „Verstehen Sie, was ich sage?“, bemühte sich Marie nun wieder auf Hochdeutsch. „Nicht genau.“ „Theo Conrads erwähnte Ihren Namen, weil ein Kollege aus Freiburg quasi in letzter Sekunde die Anstellung in Lausgrott ablehnte. – Mit der Zeit werden Sie das Badische verstehen. Hat viel mit dem Alemannischen gemein.“ Es stand nicht in Caras Absicht, ihren Aufenthalt in Lausgrott zu verlängern. „Theo hat Ihnen gegenüber erwähnt, dass ich die Nachfolge von Kommissar Erchinger antrete, anstatt der Kollege aus Freiburg?“, hakte sie nach. „Ja.“ „Warum?“ „Weil“, Marie zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, „mein Bruder andere Pläne hatte.“ Sie sah an Cara vorbei zu einem imaginären Punkt an der Wand. „Ihr Bruder ist bei der Polizei?“, fragte Cara ungläubig. „Ja, in Freiburg. Wissen Sie, ich wollte damals ebenfalls Polizistin werden.“ Marie wusste, dass man sie in Lausgrott dafür belächelte. Aber Cara war neu hier. Sie sollte nicht von dem Geschwätz der Leute beeinflusst werden, die sich darüber den Mund zerrissen. Ihr war daran gelegen, dass die Kommissarin es von ihr erfuhr. „Aber das haben meine Eltern nicht zugelassen.“ Sie seufzte. Ein verbitterter Ausdruck zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie starrte auf ihre Hände, die harte Arbeit gewöhnt waren. „Winzerin war nicht mein Traumberuf. Aber in Lausgrott ist man Winzer, heiratet einen Winzer und die Kinder werden Winzer.“ Ihre Augen blitzen angriffslustig. „Der Weinbau allein reicht nicht zur Lebensgrundlage. Erst recht nicht, wenn der Ehemann seinen Wein selbst in hohem Maß verköstigt und die Kinder aus dem Haus treibt.“ Ihre anklagenden Worte öffneten für einen winzigen Moment eine Türe ihres Seelenlebens. „Ich habe mich ja noch gar nicht bedankt für den regionalen Willkommensgruß in meiner Wohnung“, lenkte Cara ein in dem Bemühen, die entstandene Disharmonie abzuschwächen. Marie nickte beiläufig und pickte mit der Kuchengabel die restlichen Krümel von ihrem Teller auf. „Wann ist Kommissar Erchinger denn gestorben?“ „Das ist noch gar nicht so lange her. Vor zwei Wochen.“
Kapitel 5
Cara genoss ihr Frühstück auf dem Balkon mit Blick auf die Weinberge des Kaiserstuhls. Zumindest versuchte sie sich einzureden, dass sie Gefallen daran fand. Stattdessen war sie von einer unbestimmten Unruhe erfasst. Urlaub sah anders aus.
Neben ihr lag die Tageszeitung zusammengerollt auf dem Tisch. Wie sie richtig vermutet hatte, handelte es sich bei dem tödlichen Unfall in den Reben um einen der Elsässer Brüder. Reni D. war dem Artikel zufolge im Alter von zwanzig Jahren bei einem Traktorunfall in den Weinbergen seinen lebensgefährlichen Verletzungen erlegen. Es hieß, er sei mit einem Schmalspurtraktor im Gelände unterwegs gewesen. Aus bisher ungeklärter Ursache war er beim Wenden auf der mit zweiundzwanzig Prozent abfallenden Fahrspur zwischen die Reben geraten, woraufhin sein Traktor ins Rutschen geriet und sich mit einem Hinterrad an einem Metallpfosten verhakte. Dadurch drehte sich das Fahrzeug seitlich und überschlug sich in dem Gefälle. Der 20-Jährige wurde abgeworfen, kam vor dem Traktor zum Liegen und von dem nachfolgenden Gefährt überrollt. Eine Urlauberin stieß bei ihrer Wanderung auf den Verunglückten und alarmierte den Rettungsdienst. Dennoch kam für Reni D. jede Hilfe zu spät – so der Zeitungsbericht.
Beklemmende Gedanken waren auf Cara eingestürmt. Reni war im Alter ihres Sohnes. Was würde sie durchleben, wenn Lennis etwas Derartiges zustieß? Nicht gerade mit einem Traktor. Es gab andere Möglichkeiten. Sein altersschwacher VW Scirocco beispielsweise, der ständig in der Werkstatt war.
Sie zwang sich, wieder die Fakten in den Fokus zu stellen. Reni war gemeinsam mit seinem Bruder nach einem provokanten Auftritt im Reblaus Stüble tödlich verunglückt. Darüber war in den Zeitungen nichts zu lesen, weil niemand über dieses Hintergrundwissen verfügte.
Mitten hinein in ihre Überlegungen kam ein Anruf von Theo. Sie verließ den Balkon und nahm das Handy mit in die Wohnung.
„Theo, welche Überraschung. Was gibt es?“ Sie war gespannt, wie er sich aus der Nummer herauswinden wollte, dass er Marie gegenüber ihre Versetzung nach Lausgrott ausgeplaudert hatte, bevor sie davon erfuhr.
„Die Kollegen aus Freiburg haben Fragen gestellt“, kam er nach einer knappen Überleitung auf den Kern seines Anrufs zu sprechen.
„Die da wären?“
„Ob es Zufall sei, dass eine Düsseldorfer Kommissarin in ihren Ferien am Schauplatz eines Unfalls mit Todesfolge anwesend war und die Behauptung aufstellte, am Vortag die Bekanntschaft mit dem Opfer gemacht zu haben.“
„Ich war nicht Zeuge des Unfalls“, verbesserte sie ihn entrüstet. „Ebenso könnte ich dich fragen, ob es Absicht war, dass du mir Lausgrott zu diesem Zeitpunkt empfohlen hast. Oder wieso Marie Steiert darauf kommt, dass ich die neue Kommissarin in Lausgrott bin.“
„Hat Marie das gesagt?“
„Was fällt dir ein, interne Dienstabläufe mit Marie zu sprechen?“
„Ich habe ihr lediglich erzählt, dass ich einer Mieterin für ihre Ferienwohnung wüsste.“
„Und dabei erwähnt, dass ich Kommissarin bin.“
„Vielleicht.“
„Sehr verantwortungsvoll von dir. Habt ihr auch über meine Krankenakte gesprochen, meine Scheidung?“, ereiferte sie sich.
„Ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Marie aus der Tatsache deines Aufenthaltes diese Schlüsse für sich zieht und gleich zum Besten gibt.“
„Dann gibst du Maries Kombinationsgabe die Schuld an der Verbreitung interner Angelegenheiten?“
„Ich habe nichts in dieser Richtung nach außen dringen lassen. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie hast du das Opfer kennengelernt?“
Langsam stieg ihr Blutdruck an. „Das Opfer mit Namen Reni Durand hatte das Reblaus Stüble am Vortag gemeinsam mit seinem Bruder besucht. Zwei unbeliebte Elsässer Geschwister.“ „Was haben die beiden angestellt?“ „Reni hatte meinen Wein ungefragt probiert, einen Emilia Spätburgunder, falls das für dich relevant ist. Und was für ein Zufall, dass Reni tags darauf in den Weinbergen mit seinem Traktor tödlich verunglückt.“ „Dafür bringt man niemanden um.“ „Ich würde es nicht ausschließen. Erst recht nicht, nachdem der Sohn des Wirtes eine unterschwellige Drohung aussprach.“ „Elias? Was hat er denn gesagt?“ „Ist das der Sohn vom Linder?“ „Ja.“ „Wörtlich?“ Theo stieß genervt die Luft aus. „Cara. Was hat er gesagt?“ „Auf meine Frage, ob das öfter vorkäme, antwortete er, er hoffte, es sei das letzte Mal. Was schließt du als erfahrener Ermittler daraus?“ „Ich würde mich an die Fakten halten und keine Vermutungen anstellen.“ Cara kaute an ihrer Nagelhaut. „Bei dem Abhang, wo Reni verunglückte, trafen zwei unterschiedliche Reifenspuren aufeinander. Die eine war deutlich breiter und tiefer. Sie verlor sich neben den Reben auf der anderen Seite. Vermutlich ein Vollernter. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich keine Kenntnis davon, wie diese Dinger arbeiten, aber dass es für zwei Fahrzeuge nebeneinander zu eng war, lässt sich nicht von der Hand weisen.“ „Was willst du damit andeuten?“ „Das man Reni absichtlich mit einem Vollernter abgedrängt hat.“ „Das ist reine Spekulation. Zu dieser Jahreszeit fahren unzählige Traktoren durch die Weinberge. Das können alte Fahrspuren gewesen sein.“ „Sagen das die Freiburger Kollegen?“ „Nein ich, weil ich den Landstrich besser kenne.“ „Du sitzt aber in Düsseldorf und hast nicht die Spuren gesehen. Das war ich.“ Theo seufzte vernehmlich. „Was zerbrichst du dir darüber den Kopf? Die Spurensicherung in Baden-Württemberg arbeitet genauso korrekt wie bei uns in Nordrhein-Westfalen. Wenn ein begründeter Verdacht besteht, stellen sie es fest. Du hast Urlaub.“ „Ich soll also Augen und Ohren geschlossen halten?“ „Das habe ich nicht gesagt. Versuche, dich für die Schönheit der Weinregion zu begeistern, anstatt irgendeine blutrünstige Geschichte in den Unfall hineinzuinterpretieren.“ „Wie fürsorglich“, gab sie bissig zurück. „Da ist noch etwas“, druckste er herum. „Dein Versetzungsgesuch ist durch.“ „Also stimmt es?“ „Was?“ „Eben habe ich dich gefragt, warum Marie davon wusste. Da hast du es abgestritten.“ Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Zu wann?“ „Erster Oktober.“ „So schnell?“, presste Cara hervor. „Es hat sich irgendwie überschnitten.“ „Hältst du mich für blöde, oder was? Eine Versetzung ist nur im Austausch mit einem Kollegen möglich. Da Karl Erchinger dies kaum nach seinem Tod beantragen konnte, ist Maries Bruder aus Freiburg eingesprungen. Welch glückliche Fügung. Wie kam es dazu, Theo?“ „Wo hast du das denn her?“ „Ich habe meine Quellen.“ „Marie, vermute ich.“ „Warum wurde ich nach Lausgrott versetzt, Theo?“ „Du interpretierst da zu viel hinein, Cara.“ „Und warum rufst du mich wegen des toten Elsässers in meinem Urlaub an?“ „Entschuldige, wenn ich dich gestört habe. Genieß deine Ferien“, beendete er das Gespräch. Eine tiefe Leere breitete sich in Cara aus.
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