Читать книгу: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 653»

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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-067-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Jan J. Moreno

Der Schrecken von Ascension

Die Segel am Horizont versprechen Rettung – doch dann erscheinen wüste Kerle

Die Schlucht sah aus, als sei sie von dem Dolch eines Riesen in das Lavagestein gekerbt worden. Der einzige Zugang führte zwischen wuchtigen Klippen hindurch, an denen sich die Brandung schäumend und tosend brach.

Irgendwann war ein kleines Schiff hier gestrandet. Stürme und eine aufgepeitschte See hatten es bis ans äußerste Ende der Schlucht getragen. Unberührt lag es da, dem Wind und dem Wetterpreisgegeben. An Deck nisteten Seeschwalben, und in den aufgerissenen Laderäumen fühlten sich längst die Fische heimisch.

Balken und Planken, Tuch und Tauwerk verrotteten. In wenigen Jahren würde die Karavelle für immer verschwunden sein – wie die Mannschaft, deren Schicksal einst auf Gedeih und Verderb mit diesem Schiff verbunden gewesen war.

Totenstille hing über dem Wrack, nur gelegentlich von den Schreien der Seevögel unterbrochen.

Die Hauptpersonen des Romans:

Jerome – zwar ist er der älteste Sproß einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, aber er zieht es vor, sein Vermögen als Schnapphahn zur See zu vergrößern.

Old Donegal O’Flynn – kann froh sein, daß ihm Ferris Tucker und Old Shane das Holzbein zum Schießprügel umfunktioniert haben.

Hasard und Philip Killigrew – sollen auf der namenlosen Insel Ziegenkäse beschaffen, weil ihr Granddad Appetit darauf hat.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Achtundzwanzig Kerben zierten an Steuerbord das Dollbord des Bootes. Jede von ihnen stand für einen Tag und eine Nacht auf See und erinnerte an Hoffnung und Verzweiflung, an Sturm, Gewitter und nächtlichen Platzregen, aber auch an Hunger, Durst und körperliches Siechtum.

Die sechs Kerben an Backbord waren noch nicht von Sonne und Salzwasser ausgelaugt. Sie wirkten frisch, als wären sie eben erst ins Holz geschnitzt worden. Jede dieser sechs Kerben bedeutete erfüllte Hoffnungen und neu geschenktes Leben auf einer Insel irgendwo in den Weiten des Ozeans.

Keiner der drei Schiffbrüchigen wußte, wohin Wind und Wellen ihr kleines Boot verschlagen hatten. Der Lauf der Gestirne wie auch die nach Süden fallenden Schatten verrieten lediglich, daß das Eiland aus Vulkangestein südlich des Äquators lag.

„Irgendwo zwischen der afrikanischen Küste und den Gestaden der Neuen Welt“, murmelte Hasard Killigrew junior gedankenverloren, während er mit den Fingern die soeben geschnitzte neue Kerbe auswischte.

Wie weit war das Festland entfernt? Tausend Seemeilen oder gar zweitausend?

Hasard stutzte, dann zählte er die Kerben nach, und ein Lächeln huschte über sein gegerbtes, von Entbehrungen gezeichnetes Gesicht.

„Heute ist Sonntag“, sagte er. „Den Tag des Herrn sollten wir gebührend feiern.“

Philip, sein Zwillingsbruder, bedachte ihn mit einem überraschten Blick.

„Fehlt bloß noch, daß du versuchst, einen Prediger aufzutreiben“, sagte er.

Hasard legte die Stirn in Falten.

„Die Idee ist gar nicht schlecht, Bruderherz“, erwiderte er grinsend. „Irgendwo müßten sogar noch ein paar Seiten aus der Bibel herumliegen.“

Er begann, unter den Ruderbänken zu kramen und förderte schließlich eine dünne Schwarte hervor, die lediglich aus den beiden Deckeln und noch rund hundert Blättern bestand. Die Bibel stammte aus einer Seekiste, die sie irgendwann aufgefischt hatten.

Die Blätter, die jetzt fehlten, hatten für ein kleines Feuerchen herhalten müssen. Leider war an Deck des vorbeiziehenden Schiffes niemand auf den Rauch aufmerksam geworden. Längst fragten sich die Zwillinge, ob sie womöglich einem Trugbild zum Opfer gefallen waren, einer Fata Morgana auf hoher See.

Wahllos begann Hasard, in der Bibel zu blättern.

Eine Weile sah Philip ihm schweigend zu, bevor er sagte: „Sieht so aus, als suchst du nach etwas Bestimmtem. Falls du Hilfe brauchst, frag Old Donegal, der kennt sich aus.“

„Quatsch.“ Hasard junior hob kaum den Blick, als er ungehalten die Erwiderung hervorstieß. „Granddad hat nicht mal alle die Seiten gelesen, die verbrannt sind.“

„Gib her!“ Philip griff einfach zu, nahm seinem Bruder die Bibel aus der Hand und schlug sie wahllos auf. Mit dem Finger deutete er auf eine Seite und begann zu lesen.

„Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und ließ das Meer trocken werden, und die Wasser teilten sich. Die Kinder Israels gingen mitten hinein ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken …“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Hasard. „Genau nach einer solchen Stelle habe ich gesucht. Noch lieber wäre mir allerdings ein Kapitel über eine Insel.“

„Da wirst du Pech haben, Junge. In der ganzen Bibel steht nichts über ein Eiland wie unseres, da gibt es höchstens mal einen mächtigen Wal und ’ne Menge Fischer. Und außerdem: Wenn jemand aus der Bibel liest, flucht man nicht gleichzeitig. Das gehört sich nicht, klar?“ Old Donegal Daniel O’Flynn stand offenbar schon lange genug zwischen Felsen und Gebüsch, so daß er die Unterhaltung der Zwillinge mitgehört hatte. Dabei hatten sie ihn noch unten am Strand vermutet, wo er sich waschen und nach Schildkröten Ausschau halten wollte. Er war eben trotz seines Holzbeins geschickt genug, sich lautlos anzuschleichen.

„Laß dich von mir nicht stören!“ fuhr er Philip an. „Na los, lies weiter!“

„Natürlich, Sir.“ Der junge Killigrew, Sohn des Seewolfs, nickte knapp. Danach fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Und die Ägypter folgten und zogen ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Männer, mitten ins Meer …“

„Himmel, Arsch und …“ Old O’Flynn hatte das Pech, über einen Lavabrocken zu stolpern. Für die Dauer mehrerer Augenblicke ruhte die Last seines Körpers nur auf dem Holzbein, während er verzweifelt mit beiden Armen in der Luft ruderte und erbärmlich fluchte. Es sah beinahe so aus, als könne er das Gleichgewicht halten, aber letztlich landete er doch unsanft auf seinem Achtersteven.

„Scheiß Geröll!“

„Granddad!“ riefen Hasard und Philip wie aus einem Mund. „Man flucht nicht, während jemand aus der Bibel liest!“

„Spart euch eure Klugscheißereien!“ schnaubte Old Donegal. „In meinem Fall war das etwas anderes. Zwingende Notwendigkeit nämlich.“

„Hingefallen bist du trotzdem, Sir“, sagte Hasard.

„Trotz deiner Flüche“, ergänzte Philip.

„Als ich so ein junger Hüpfer war wie ihr, hätte ich mir eher die Zunge abgebissen, als mich über eine Respektsperson zu mokieren. Helft mir auf, oder ihr kriegt nichts von den Eiern ab, ihr Halunken.“

„Aye, Sir, natürlich.“

„Welche Eier, Sir?“

Unwirsch schlug der Alte Hasards helfend ausgestreckte Hand zur Seite. Er stemmte sich aus eigener Kraft hoch, griff, als er wieder sicheren Stand hatte, in seine Hosentasche und holte eine Handvoll kleiner, milchig schimmernder Gebilde heraus.

„Die Seeschildkröten haben Brutplätze auf der Insel. Ihr braucht nur die Augen offenzuhalten und ein wenig im Sand zu graben.“

„Ehrlich gesagt“, Philip rümpfte die Nase, „ausgewachsene Schildkröten wären mir lieber.“

„Du weißt eben nicht, was gut ist. Vorwärts, keine Müdigkeit vorschützen, kümmere dich um Zunder und trockenes Holz für ein Feuer. Zur Feier des Tages gibt es gebackene Schildkröteneier – ab sofort übrigens jeden Tag. Der Strand liegt voll davon.“

„Ich weiß nicht“, sagte Hasard. Er warf einen mißtrauischen Blick auf die runden Dinger.

„Verlaß dich nur auf mich“, beharrte Old Donegal. „In der Karibik sammeln die Indianer Eier in großen Mengen, weil sie aus den Dottern ein gutes Speiseöl zubereiten.“

Sobald sich Old Donegal etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte er das auch aus. Und wenn er zum Frühstück Schildkröteneier wollte, duldete er keinen Widerspruch. Philip versuchte deshalb gar nicht erst, zu widersprechen. Er packte seinen Bruder am Arm und zog ihn mit sich.

Der Admiral folgte ihnen gemessenen Schrittes. Hin und wieder blieb er stehen und ließ seinen Blick über den Strand bis zur Kimm wandern. Der Tag versprach heiß zu werden. Nachdem sich der leichte Morgendunst verflüchtigt hatte, erstrahlte der Himmel in wolkenlosem Blau. Das Meer schimmerte in der Nähe der Insel türkis, erst zum Horizont hin war es dunkler gefärbt.

Bis zu ihrem luftigen Lager zwischen halbkreisförmig angeordneten Lavablöcken waren es nur wenige hundert Schritt. Nachdem sie entdeckt hatten, daß in der zuvor bewohnten Höhle vulkanische Gase aufstiegen, waren sie unter den freien Himmel umgezogen.

Die Zwillinge fanden in dem Bereich kaum mehr dürre Äste, aber genügend vertrocknete Farnwedel und braune Moose. Wo der Wind angreifen konnte, hatte er die dünne Erdschicht verweht. An solchen Stellen wirkten die Pflanzen, überwiegend Ginster und Farne, zerzaust und verkümmert.

„Er hält schon wieder Ausschau.“ Hasard deutete zu Old Donegal.

Der Alte stand wie zur Salzsäule erstarrt, die Augen mit der rechten Hand beschattet, und blickte starr übers Meer.

„Er wartet auf ein Schiff“, erwiderte Philip seufzend. „Mir wäre auch lieber, Segel an der Kimm zu sehen, aber offenbar befinden wir uns fernab aller Schiffahrtsrouten.“

„Unser Vater und die Arwenacks suchen nach uns“, sagte Hasard bestimmt. „Ein Seewolf gibt niemals auf.“

Nachdenklich schüttelte Philip den Kopf.

„Ich glaube nicht, daß die Schebecke eines Tages hier vor Anker geht. Wir wurden zu weit nach Süden abgetrieben. Dad sucht uns im Gebiet der Kapverden, darauf gehe ich jede Wette ein.“

„He, ihr beiden, was gibt es zu palavern?“ rief Old Donegal, ohne sich zu den Zwillingen umzuwenden.

„Granddad hat Ohren wie ein Luchs“, murmelte Philip. Diese Tatsache war um so erstaunlicher, da sie nicht nur leise gesprochen, sondern auch den Wind gegen sich hatten.

„Er hört eben immer alles, was ihn nichts angeht.“ Hasard grinste schräg und merklich gequält.

Old Donegal Daniel O’Flynn wandte sich jetzt um.

„Was ist?“ bellte er. „Steht nicht herum wie vom Donner gerührt. Heute ist Sonntag, und ich habe ein Recht auf ein gutes Feiertagsessen. Wenn ihr schon nichts zuwege bringt, muß ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Also los, hopp-hopp, ihr habt noch junge Knochen …“

„Den Spruch kenne ich“, stöhnte Philip. „Das kriegen wir demnächst stündlich zu hören.“

Hasard schickte einen flehenden Augenaufschlag zum Himmel.

„Ein Königreich für ein Schiff“, murmelte er. „Unser Granddad wird mit jedem Tag unausstehlicher.“

„Das Inselleben behagt ihm nicht“, sagte Philip.

„Brennt das verdammte Feuer endlich?“ rief Old Donegal. „Ich habe Hunger auf Eier!“

„Was hältst du von einer Kokosnuß zwischendurch?“ entgegnete Philip. „Die sind größer.“

Was sein Großvater darauf erwiderte, war alles andere als druckreif.

Hasard grinste spöttisch. „Bruderherz, diesmal hast du dein Fett weg“, sagte er. „Warum reizt du den Admiral unnötig?“

Schweigend begann Philip Killigrew junior, Stahl und Feuerstein gegeneinander zu schlagen. Beides stammte aus der aufgefischten Seekiste. Funken fielen ins Moos, das Augenblicke später zu glimmen begann. Das erste zarte Flämmchen züngelte auf, von Philips Händen schützend geborgen.

Eigentlich sollte stets ein kleines Feuer brennen. Mehrere hundert Yards entfernt, auf einem höher gelegenen Plateau, hatten die Zwillinge auf Old Donegals Geheiß einen Haufen dürrer Äste aufgeschichtet. Sobald Segel an der Kimm auftauchten, sollten sie den Stoß in Brand setzen. Dabei ging es möglicherweise um Augenblicke, denn Schiffe hatten mitunter die Eigenart, sehr schnell wieder zu verschwinden. Die drei Arwenacks konnten es sich nicht erlauben, im Fall eines Falles erst mühsam Funken zu schlagen.

Deshalb hatte Old O’Flynn eine geharnischte Predigt vom Stapel gelassen, nachdem in den frühen Morgenstunden die bislang sorgsam gehegte Glut erloschen war.

„Jeder hat sein Schicksal selbst in der Hand“, hatte er erklärt. „Richtet euch danach, oder wir beschließen unser Leben auf dieser Insel.“

Als er jetzt zu den Zwillingen aufschloß, knisterte und prasselte das Feuer, daß es eine Pracht war. Er nickte zufrieden, murmelte etwas, das so ähnlich klang wie: „Na also, es geht doch, man muß eben nur den Willen dazu aufbringen“, und hielt Hasard die Schildkröteneier hin. „Drei für jeden. Nimm schon, Junge, du bist heute der Koch.“

Hasard schluckte eine heftige Erwiderung ungesagt hinunter. Statt dessen fragte er, wie lange die Schildkröteneier im Feuer liegen müßten.

„Nach spätestens einer halben Stunde sind sie weich“, sagte Philip spöttisch.

Hasard legte die Eier einzeln auf die Gabel eines kurzen Astes und schob sie nacheinander in die Glut. Nach einer Weile blickte er Old Donegal fragend an.

„Du bist der Koch“, sagte der Alte. „Tu, was du für richtig hältst.“ Offenbar wußte er selbst nicht, wie lange Schildkröteneier garen mußten.

„Wenn heute nicht Sonntag wäre …“, murmelte Hasard, mehr für sich selbst, als für die Gefährten bestimmt. Dennoch hakte Old Donegal sofort ein.

„Was wäre dann?“ fragte er.

„Dann würde ich die Eier ins Meer werfen“, sagte Hasard schroff. „Von mir aus fang Fische oder ausgewachsene Schildkröten oder nimm Vogelnester aus, aber laß diese mickrigen Eier, wo sie sind.“

„Auf See würdest du anders reden, Freundchen. Es gab eine Zeit, da hättest du dir alle zehn Finger nach einem solchen Genuß abgeleckt. Aber was sage ich! Die Jugend war schon immer viel zu sprunghaft in ihren Entschlüssen.“

Zögernd stocherte Hasard in der Glut. Eigentlich konnte er tun, was und wie er es wollte, sein Großvater würde mit Sicherheit einen Grund zum Meckern finden.

Eins der Eier kullerte ihm entgegen. Es wirkte abgekohlt und etwas verschrumpelt.

„Mann“, sagte Philip, „sieh zu, daß du alles herausholst.“

Ehe Hasard reagierte, schnappte sich Old Donegal das Ei. Es war heißer, als er erwartet hatte. Unwillig grunzend, ließ er es von einer Hand in die andere fallen.

„Zuviel Glut“, sagte er tadelnd. „Das kann nichts werden.“

Hasard schwieg. Erst recht, weil er Philips schadenfrohes Grinsen bemerkte. Und irgendwie bereitete ihm der Anblick der Schildkröteneier Magengrimmen.

Genußvoll begann Old Donegal, das Ei aufzubrechen. Es fiel ihm überraschend leicht. Dann schob er sich das mickrige Ding, das im Grunde nur eine karge Vorspeise war, in den Mund – und spie, nachdem er kräftig zugebissen hatte, in hohem Bogen aus.

„Pfui Teufel!“ rief er und spuckte, bis es ihm an Speichel mangelte. Selbst dann schüttelte er sich noch. „Kerl, was hast du nur angestellt? Wie kann man eine Delikatesse so zurichten?“

„Findest du nicht den rechten Geschmack, Granddad? Mag sein, daß die Eier angebrütet waren. Sie liegen wahrscheinlich schon seit Wochen im Sand.“

„Dann hättest du sie aufschlagen müssen.“

„Gern. Aber verrate mir, wo ich eine Pfanne finde.“

„Ein flacher Stein erfüllt den gleichen Zweck.“

Hasard schlug eins der Eier auf und roch daran. Es stank penetrant faulig. Auch die beiden nächsten bildeten keine Ausnahme.

„Ein guter Koch hätte das vorher gemerkt“, zeterte Old Donegal. „Nicht erst, wenn das Essen schon auf dem Tisch steht.“

„Pech gehabt“, sagte Hasard, hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „In dem Fall war aber nicht der Koch schuld, sondern derjenige, der die Eier aufgesammelt hat.“

„Papperlapapp!“ Old Donegal Daniel O’Flynn vollführte eine herrische Handbewegung. „Das Küken will also wieder mal klüger sein als die Henne. Dann verrate mir gefälligst, was du uns zur Feier des Tages vorsetzen willst.“

„Wir haben nichts zu feiern, Sir.“

Old Donegal überhörte den Einwand geflissentlich. Erst legte er die Stirn in Falten, dann begann er, nachdenklich auf seiner Unterlippe zu kauen. Schließlich fuhr er mit beiden Händen durch sein weißes Haar, das während der vergangenen Wochen eine beachtliche Länge erreicht hatte. Wirr fielen die einzelnen Strähnen auseinander.

Auch die Bartstoppeln wucherten in der feuchten Schwüle üppiger als sonst. Jedenfalls hatte es den Anschein. Nur wirkte Old Donegals Manneszierde ganz und gar nicht imposant. Rund um das Kinn schienen Motten den Haarfilz angefressen zu haben. Aber das waren die Folgen eines mißglückten Versuchs, mit Messerschneide und Muschelschalen die Borsten abzuschaben.

Unvermittelt hellte sich das Gesicht des alten Zausels auf.

„Ich habe Appetit auf Käse“, verkündete er laut. „Und den werdet ihr mir besorgen.“

„Na klar“, sagte Philip gereizt, ohne zu begreifen, was der Alte wirklich meinte. „Wir schwimmen mal kurz rüber nach Afrika oder entern ein Handelsschiff, das zufällig vorbeisegelt. Darf’s vielleicht noch was anderes sein als Käse – ein kühles Bier oder Wein? Bitte sehr, Euer Gnaden, Ihr Wunsch ist uns Befehl.“

„Das hoffe ich“, sagte Old Donegal ernst und ohne eine Miene zu verziehen. „Ich habe es gar nicht anders erwartet. Also los, fangt endlich die Ziegen ein, die zwischen den Felsen leben!“

2.

Sie wußten nicht, ob es sich bei den beiden mageren Ziegen, die sie tagtäglich in einiger Entfernung sahen, jeweils um dieselben Tiere handelte, oder ob womöglich eine ganze Herde die Insel bevölkerte. Gegen diese Annahme sprach allerdings, daß die Ziegen nicht gut im Futter standen.

Vielleicht waren sie von Seeleuten auf dem Eiland ausgesetzt worden, damit sie sich vermehrten und den Mannschaften künftig hier ankernder Schiffe als Proviant dienten. Dann hätten die Unbekannten aber auch für besseres und vor allem für mehr Futter sorgen sollen.

Die paar Maispflanzen, die am Fuß eines Hanges wuchsen, die Farne und das andere Gestrüpp reichten kaum aus, um eine Herde von Ziegen zu ernähren. Außerdem standen von dem Mais inzwischen fast nur noch Stengel. Über dem Feuer geröstet und in Seewasser getunkt, hatten die gelben Körner die Mahlzeiten der vergangenen Tage abwechslungsreicher gestaltet.

„Ziegenkäse“, schnaubte Hasard, während Philip und er in die Felsen aufstiegen. „Was hat Granddad eigentlich vor? Will er Ackerbau und Viehzucht betreiben?“

„Das ist kein schlechter Gedanke“, sagte Philip. „Der vulkanische Boden speichert die Wärme, so daß wir mühelos zwei oder gar drei Ernten im Jahr erzielen …“ Er unterbrach sich jäh und sah zu, daß er Distanz gewann, denn sein Bruder schien von dem Vorschlag ganz und gar nicht begeistert zu sein.

„Du hast sie wohl nicht mehr alle!“ rief Hasard. „Ich bete, daß bald ein Schiff aufkreuzt, und du …“

„Die Ziegen! Dort oben!“

Da waren die beiden mageren Tiere wieder. Keine hundert Yard entfernt, grasten sie friedlich zwischen Sträuchern und Geröll. Noch hatten die offensichtlich scheuen Ziegen die beiden Menschen nicht bemerkt, aber sobald das der Fall war, würden sie, wie bisher, im unübersichtlichen Gelände verschwinden.

„Der Wind steht günstig“, sagte Philip. „Wenn wir Glück haben, erreichen wir die Biester, bevor sie uns wittern.“

„Wir sollten uns während der nächsten zehn Tage nicht waschen“, sagte Hasard.

„Wieso?“

„Weil wir dann wieder wie die Ziegenböcke stinken. Oder hast du einen besseren Vorschlag?“

Philip hob das kurze Tauende, das ihn beinahe einen halben Tag lang beschäftigt hatte. Er hatte die Kardeele aufgedreht und in ihre Enden halb faustgroße, glattgeschliffene Steine eingespleißt. Bis das Gebilde so geworden war, wie es jetzt aussah, hatte er sich etliche spöttische Bemerkungen anhören müssen. Hasard zweifelte noch immer an der Wirksamkeit des Wurfgeschosses, zumindest was eine Entfernung von mehr als zehn Schritten betraf.

Die Zwillinge kletterten weiter, bemüht, jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel und heizte das Gestein auf. Das Meer verwandelte sie in eine schier endlose Fläche, deren grelles Glitzern in den Augen schmerzte.

Bis auf etwa fünfzig Yard näherten sich Hasard und Philip den Ziegen, dann stieß eins der Tiere ein kurzes Meckern aus. Im nächsten Moment verschwanden beide zwischen dem Geröll.

„Mist“, stöhnte Hasard. „Ich wußte gleich, daß das nichts wird. Granddad soll sich die Flausen aus dem Kopf schlagen, von wegen Käse und so.“

„Willst du schon aufgeben, Bruderherz? Was, glaubst du, wird Old Donegal dazu sagen?“

Wortlos stieg Hasard weiter nach oben. An manchen Stellen waren Philip und er zum Klettern gezwungen, aber das Lavagestein bot guten Halt.

Sie erreichten ein kleines Hochplateau. In den Mulden wuchsen Gras und Blumen, sofern die Ziegen nicht schon alles abgefressen hatten. Daß die Tiere regelmäßig hier erschienen, bewiesen die vielen Spuren und die getrockneten Exkremente.

„Wir sollten Schlingen auslegen“, schlug Hasard vor. „In einigen Tagen essen wir dann womöglich doch Käse.“

„Es geht einfacher“, widersprach Philip. Er hob sein aufgedrehtes Tau mit den daran befestigten Steinen. „Heute haben wir das erhoffte Jagdglück, du wirst sehen.“

Die Ziegen waren in südliche Richtung verschwunden. Nach wie vor hatten die Zwillinge den Wind gegen sich. Sie überquerten das Plateau und gerieten erneut in schwierigeres Gelände. Obwohl sie die Ziegen mehrmals ziemlich nahe vor sich sahen, konnte Philip keinen gezielten Wurf anbringen.

„Ich warte, bis ich sicher bin, daß ich die Vorderbeine einem der Tiere treffe“, sagte er. „Die Kardeele werden sich wie Fesseln um die Läufe schlingen.“

„Vielleicht sollten wir uns trennen“, schlug Hasard vor. „Ich könnte dir die Ziegen zutreiben.“

„Das ist keine schlechte Idee.“ Philip nickte zustimmend. „Versuchen wir es zumindest.“

Hasard schlug einen Bogen nach Osten. Schnell verschwand er aus Philips Gesichtskreis und tauchte nur hin und wieder zwischen Felsen und Sträuchern auf.

Es dauerte nicht lange, da stieß er einen überraschten Ausruf aus. Offenbar war es ihm egal, ob die Ziegen endgültig ihr Heil in der Flucht suchten. Das bedeutete, daß er etwas entdeckt hatte, was ihm weitaus wichtiger erschien als Old Donegals vierbeinige, meckernde Käselieferanten.

„Was ist los?“ fragte Philip.

„Sieh es dir selbst an“, erwiderte Hasard.

Philip ließ sich das nicht zweimal sagen, zumal sich sein Bruder eines geradezu beschwörenden Tonfalls bediente. Er hastete los, seine selbstgefertigte Waffe noch wurfbereit in der Rechten, doch die Ziegen sah er nicht mehr.

Was immer er vorzufinden erwartet hatte, er wurde enttäuscht, als er zu seinem Bruder aufschloß. Hasard deutete zu einer kraterförmigen Senke, die sich nach Südosten erstreckte. Wie wenig sie bislang über ihre Insel wußten, wurde ihnen jetzt klar. Wären sie den Ziegen nicht nachgelaufen, sie hätten den Talkessel, der schützend von schroffen Felsen umgeben war, kaum entdeckt.

Philip folgte der Linie, die Hasards ausgestreckter Arm wies, mit den Augen.

„Das sind Feigenkakteen“, murmelte er. „Ihre Früchte können wir essen.“

„Das meine ich nicht“, sagte Hasard. „Ein Stück weiter rechts – der knorrige Baum!“

Ein abgestorbener Drachenbaum ragte in der Senke auf, nicht sonderlich groß, aber dennoch bizarr anzusehen. Vogelnester hingen in seinen verschlungenen Ästen. Die Ausscheidungen der Tiere bildeten den Nährboden für schmarotzende Schlingpflanzen, die den Baum fest in ihrem Würgegriff hatten.

„Und?“ fragte Philip.

„Verstehst du noch immer nicht?“

„Was soll ich verstehen?“

„Der Drachenbaum ist der markanteste Punkt weit und breit. An solchen Stellen pflegen Piraten ihre Schätze zu vergraben.“

„Nicht überall, wo ein einsamer Baum steht, liegen auch Gold, Silber und Perlen. Außerdem habe ich die Nase von der Schatzsuche voll.“

„Das dachte ich auch.“ Hasard grinste breit und herausfordernd.

Daß sie auf der unbekannten Insel festsaßen, nachdem sie dem Tod nur knapp entronnen waren, hatten sie zwar einer alten Schatzkarte zu verdanken, doch das tat der Abenteuerlust eines Killigrew, der außerdem O’Flynnsches Blut in den Adern hatte, keinen Abbruch. Sie hatten den höllischen Sandsturm und die lange Zeit in dem kleinen Boot überlebt, sie würden auch über kurz oder lang das Eiland wieder verlassen. Wenn das zusammen mit einer Schatzkiste geschah, um so besser.

Hasard Killigrew junior hatte in der Tat Grund zu seiner Annahme. Aus einem von Menschenhand aufgeworfenen flachen Hügel inmitten der sonst gleichmäßigen Ebene ragte ein hölzerner Stiel.

„Eine Schaufel“, sagte Philip ungläubig. Der Gedanke, doch nicht allein auf der Insel zu sein, drängte sich auf. Mußten sie damit rechnen, jeden Moment wildem Piratenpack gegenüberzustehen?

Hasard schien die Überlegungen seines Bruders zu erraten.

„Falls ein Schiff vor Anker liegt, hätten wir es bemerkt“, sagte er. „Die Kerle, die hier gegraben haben, sind längst über alle Berge.“

„Vielleicht gehörten sie zu dem Wrack …“

Die Insel, soviel hatten die Zwillinge inzwischen herausgefunden, hatte eine Ausdehnung von knapp sechs mal acht Meilen. Sie ragte im Durchschnitt bis zu vierhundert Yard über den Meeresspiegel auf, stieg aber im Osten, im Bereich des erloschenen Vulkankegels bis auf mehr als das Doppelte an.

Es gab zwei oder drei Punkte, von denen aus das gesamte Gelände gut zu überblicken war. Ein Schiff, das in einer der vielen Buchten ankerte, konnte nicht unbemerkt bleiben.

Hasard erreichte vor seinem Bruder die tief im Boden steckende Schaufel. Der Stiel, abgesehen davon, daß die Sonne ihn merklich ausgebleicht hatte, wies keine Besonderheiten auf. Mitunter markierten Schiffsbesatzungen ihre Werkzeuge, doch das war hier nicht der Fall.

Hasard packte kurzerhand zu und begann zu graben. Das Erdreich war locker und von faustgroßen Lavabrocken durchsetzt. Er arbeitete mit dem Eifer eines Schatzgräbers. Daß der Wind das Meckern der Ziegen herantrug, spornte ihn nur noch weiter an. Old Donegal würde die Tiere und den erhofften Käse bestimmt vergessen, wenn seine Enkel wenigstens mit einer kleinen Truhe voll Gold zurückkehrten.

Philip wurde vom Eifer seines Bruders angesteckt. Sie schaufelten abwechselnd.

Das Loch war beinahe einen Yard tief, als Hasard einen verblichenen Fetzen Stoff zum Vorschein brachte. Ein weiteres, größeres Stück folgte.

Knirschend grub sich die Schaufel durch einen plötzlichen Widerstand. Hasard wußte sofort, daß es sich nicht um Steine handelte. Die Lippen trotzig aufeinandergepreßt, förderte er bleiche Knochen zutage. Sein Bruder blickte ihn überrascht an.

„Das sind die Überreste eines Menschen“, sagte Hasard. „Hier wurde jemand begraben. Vielleicht einer der Seeleute vom Wrack.“

„Manche Piraten werfen einen Toten über ihre Schätze. Zur Abschreckung.“

„Ich grabe trotzdem nicht weiter.“ Hasard warf einen bedauernden Blick in das Loch, in dem weitere Knochen zu erkennen waren. „Falls der Tote zur ehemaligen Mannschaft des Wracks gehört hat, sollten wir woanders Hinweise finden.“

„Wie lange, schätzt du, liegt das Wrack in der Schlucht?“

Hasard zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Ein Jahr. Wahrscheinlich sogar länger.“

Philip mußte sich eingestehen, daß er plötzlich ein verdammt mulmiges Gefühl hatte. Vielleicht lebte wirklich noch jemand auf der Insel. Daß derjenige sich bislang nicht zu erkennen gegeben hatte, konnte aber nur bedeuten, daß er unlautere Ziele verfolgte. Dennoch tat Philip etwas, was sich aus der Situation heraus eigentlich verbot. Er legte die Hände trichterförmig vor den Mund und begann zu rufen.

Sein langgezogenes „Hallo!“ verwehte mit dem Wind. Von zwei oder drei Seiten erklang ein schwaches Echo.

„Wir sind Freunde!“

„…reunde – eunde!“ hallte es von den Felsen wider.

Danach herrschte erneut Stille, nur vom Wispern und Raunen des Windes unterbrochen. Die Zwillinge lauschten eine Weile. Als Philip wieder die Hände hob, hielt Hasard ihn zurück.

„Laß es gut sein“, sagte er. „Auf die Art kriegen wir nicht raus, ob wir allein sind. Das schaffen wir nur, wenn wir die Insel Stück für Stück absuchen.“

„Weißt du, wie lange wir dazu brauchen?“

„Wir haben Zeit, oder?“ Hasard versuchte ein Lächeln, das über ihre triste Lage hinwegtäuschen sollte. Es mißlang ihm gründlich.

Vergeblich suchten sie in der Senke nach weiteren Spuren. Das Grab des unbekannten Seemanns war, mit Ausnahme der Ziegen, deren Meckern wieder heranwehte, das einzige, was auf die mögliche Anwesenheit von Menschen auf der Insel hindeutete.

Hasard hatte die Schaufel geschultert und stapfte voraus, ihren eigenen Spuren folgend. Die Schatten wurden kürzer, die Sonne näherte sich dem Zenit, und zwischen den Felsen breitete sich eine drückende Schwüle aus.

Hasard bemerkte den metallischen Reflex nur zufällig, weil er mit sehnsüchtigem Blick einem Schwarm aufsteigender Seeschwalben folgte.

Zu seiner Linken wirkten die Felsen so schroff und unwirtlich, als wären sie erst vor kurzem aus brodelnder Lava erstarrt. Viele Schründe und düster gähnende Höhlen durchzogen das Gestein. Licht und Schatten taten das ihre, um menschliche Augen zu narren und sie Bewegung sehen zu lassen, wo in Wirklichkeit keine war. Der Wall des erloschenen Kraters schien von unheimlichem Leben erfüllt. Ein stetes Knistern und Knacken lag in der Luft, hin und wieder lösten sich Steine und kullerten die Hänge hinunter.

Hasard fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der Reflex im Eingang einer kleinen Höhle, gerade hundertfünfzig Yard entfernt, blieb. Auch Philip wurde jetzt darauf aufmerksam.

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