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2. Sophie taucht auf
Am 18. Mai 1951 wurde Sophie Blees geboren. Die Geburt war zu früh und das kleine Mädchen wog gerade 1‘200 Gramm. Deshalb wurde sie in eine Isolette gelegt und behutsam gehegt und gepflegt. Dass sie heute lebt, ist alles andere als selbstverständlich, ihr Start ins Leben war jedenfalls eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod.
Sophies Mutter stammte aus dem ländlichen Trubschachen im Emmental, wo sie in einer grossen Familie aufwuchs. Sophie hatte zwar keine Geschwister – ihr älterer Bruder starb kurz nach der Geburt – dafür aber zahlreiche Cousinen und Cousins. Die Grossfamilie war so etwas wie eine Dynastie in einer strengen christlichen Gemeinde. Dort wurde ein klarer Verhaltenskodex gelehrt, den einzuhalten wichtig war, um ein anerkannter Teil der Gemeinschaft zu sein.
Als kleine Familie lebten sie an verschiedenen Orten am Thunersee. Eine sehr schöne Gegend. Sonntags legten sie den mehr als einstündigen Weg zu ihrer Gemeinde zurück, einer Gemeinde, die sich anderen Kirchen überlegen fühlte. Sie glaubten fest, dass sie im Besitz der Wahrheit waren. Jede abweichende Meinung wurde als Irrtum abgetan. Es war unvorstellbar, diese Gemeinde zu verlassen und sich einer anderen Gemeinschaft anzuschliessen. Dazu kam, dass aus Mutters Verwandtschaft viele prägende Leiter der Gemeinde hervorgegangen waren.
Was Sophie in dieser Gemeinde sehr prägte, war der starke Druck, sich den Vorgaben anzupassen. Obwohl es nie so ausgesprochen wurde, stand doch klar im Raum: «Verhalte dich so, wie wir sagen, und du gehörst zu uns.» Regelverstösse, egal wie belanglos diese auch sein mochten, hatten unmittelbar einen grossen Verlust an Gunst zur Folge. Für Sophie war ganz klar: «Wenn ich mich korrekt verhalte, bin ich von Gott geliebt – falls ich Fehler mache, stösst er mich weg.» Und diese Fehler bestanden primär darin, den Vorgaben anderer Leute nicht tadellos nachzukommen.
Die Familie ihres Vaters war Sophie völlig unbekannt. Ihr wurde gesagt, seine Eltern seien während des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Irgendwann erfuhr Sophie, dass ihr Vater ein uneheliches Kind war und bei einer Pflegefamilie in Basel aufwuchs. Diese wenigen Informationen waren eigentlich schon alles, was sie über die Herkunftsfamilie ihres Vaters wusste. Einen Verwandten väterlicherseits hatte sie nie kennengelernt.
Es war klar, dass sich Sophies Vater nach echter Zugehörigkeit sehnte. Eine Sehnsucht, die wahrscheinlich nie gestillt wurde. Er blieb wurzellos. Heute glaubt Sophie, dass ihr Vater ein Leben lang auf der Suche nach Familie und tiefer Zugehörigkeit war – selbst dann noch, als er selbst eine Familie hatte. Es schien, als würde er in der Gemeinde, am Arbeitsplatz und auch in der Familie irgendwie nicht so ganz dazugehören. Er bemühte sich ernsthaft und an seinem Verhalten war wirklich nichts auszusetzen, doch irgendwie blieb er eine einsame Person. Das Lebensgefühl des Entwurzelt-Seins und mangelndes Gefühl von Zugehörigkeit bestimmten auch Sophies Leben. Sie schien das Lebensgefühl ihres Vaters geerbt zu haben.
Ihre eigene Kindheit beschreibt Sophie als schöne und unbeschwerte Zeit. Sie wurde geliebt und verspürte Lebensfreude. Schon früh wurde sie musikalisch gefördert. Ihre Mutter weckte in ihr auch eine Liebe für die Literatur. Bücher sollten sie ihr Leben lang begleiten. Sie war fest überzeugt, in eine privilegierte Familie hineingeboren zu sein. Als Einzelkind wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt. Sie fühlte sich als Prinzessin und genoss so manche Privilegien. Mithilfe im Haushalt wurde von ihr nicht verlangt und auch sonst entbanden ihre Eltern sie von unangenehmen Verantwortungen.
Während ihrer Teenagerzeit zog die Familie ins Emmental, wo ihr Vater eine gute Anstellung als Verwalter in einem Bundesbetrieb gefunden hatte. Eigentlich hätte sie mit dem Zug zur Schule fahren müssen, aber ihr Vater empfand dies als eine zu grosse Zumutung. Soweit möglich fuhr er sie zur Schule. Und wenn er verhindert war, schickte er einen seiner Angestellten, um Sophie den benötigten Taxidienst zu leisten. Oft nahm er sie mit an seinen Arbeitsplatz, wo er ihr viele Dinge zeigte und sie ihm behilflich sein durfte. Bis heute sind das für Sophie schöne Erinnerungen geblieben.
Sophie wünschte sich, Lehrerin zu werden, und besuchte nach der Schulzeit das Lehrerseminar. Ihre schulischen Leistungen waren schon immer einwandfrei gewesen und sie glänzte auch am Seminar. Es war ihr ein grosses Anliegen, alles perfekt zu machen. Niemand sollte jemals ihre Leistungen bemängeln können. Das Muster zog sich durch ihr ganzes Leben: Sie glaubte, perfekt sein zu müssen, um die Anerkennung der Menschen zu gewinnen, und fürchtete, abgelehnt zu werden, wenn sie die Erwartungen anderer nicht erfüllte. So war es in ihrer Gemeinde, in der Familie und auch in der Ausbildung.
Trotz den sonntäglichen Gottesdienstbesuchen war Sophie nie klar geworden, dass eine echte, lebendige Beziehung mit einem liebenden und barmherzigen Gott möglich war. Ein Verständnis von Gottes bedingungsloser Annahme hatte sie nicht. Stattdessen verinnerlichte sie die elitäre Haltung ihrer Gemeinde. Sie glaubte, durch die Zugehörigkeit dieser Gruppe im Besitz der Wahrheit und anderen Menschen damit überlegen zu sein. Stolz liess in ihrer jungen Seele tiefe Wurzeln wachsen.
Während sich Sophie mit ganzem Einsatz für gute Noten am Lehrerseminar einsetzte, wurde ihr Vater krank. Es war eine psychische Erkrankung. Bis heute ist sich Sophie nicht ganz sicher, was die Ursache davon war. In der Familie sprachen sie nicht darüber.
Doch dann war er plötzlich da; der Tag, der Sophies Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Es war der 5. Februar 1970. Das war der Tag, an dem sich Sophies Vater das Leben nahm.
Es war ein Schock – sowohl für Sophie wie auch für deren Mutter.
In der Folge klammerten sich Mutter und Tochter stark aneinander. Über Trauer und Verlust sprachen sie aber nicht. Irgendwie mussten sie funktionieren. Sophie war am Ende des dritten Jahres am Seminar und hatte noch ein weiteres Jahr vor sich. Emotionale Krisen konnte sie sich nicht leisten – so dachte sie zumindest.
Verdrängen war schon immer eine stark ausgeprägte Eigenschaft der Familie gewesen. Dinge wurden nicht ausdiskutiert. Insbesondere Unangenehmes wurde einfach ignoriert. Für sie als elitär denkende Menschen war es äusserst unangenehm, die eigene Fehlerhaftigkeit einzugestehen. Es schien einfacher, Negatives totzuschweigen.
Doch der Suizid des Vaters nagte sehr an Sophie. Insgeheim gab sie sich selbst die Schuld dafür. Sie selbst hatte es schön gehabt und ihr Vater war gut zu ihr gewesen. Es musste einfach an ihr gelegen haben. Sie verdrängte solche Gedanken, und mit jemandem darüber zu sprechen, lag weit ausserhalb des Vorstellbaren.
Da sie in einer Dienstwohnung lebten, mussten sie nach dem Tod des Vaters ausziehen. Sie zogen nach Bern, wo sie versuchten sich gegenseitig zu stützen. Sophie machte den Einkauf und putzte die Wohnung, während sich die Mutter um alles andere kümmerte.
Kurz nach dem Umzug erkrankte die Mutter an Diabetes und hatte daraufhin noch drei Herzinfarkte. Es war offensichtlich, dass es schlecht um ihre Gesundheit stand. Doch auch darüber sprachen die beiden nicht. Stattdessen investierte Sophie alle Kraft in ihr letztes Ausbildungsjahr. Das schien ihr Wert und Stabilität zu geben. Und tatsächlich schloss Sophie ihre Ausbildung ab.
Daraufhin trat sie ihre erste Stelle an. Es folgte ein Desaster. Während Sophie bisher durch Anstrengungen gute Leistungen bringen konnte, war sie jetzt dem Verhalten der Schüler ausgesetzt, welches sie nicht kontrollieren konnte. Vor einer Klasse zu stehen und diese zu unterrichten, war für Sophie eine riesige Herausforderung. Perfektion war hier unmöglich. Schnell einmal sah sie sich als Versagerin, was eine steile Abwärtsspirale ihrer Psyche in Gang brachte.
Bis zu einem Nervenzusammenbruch dauerte es nicht lange. Und da flossen plötzlich die Tränen. Die ganze Zeit, seit dem Tod ihres Vaters, hatte sie keine Tränen zugelassen. Aber jetzt brachen die Dämme. Sie war am Ende.
Die Stelle musste sie aufgeben und für Sophie stand fest: «Ich bin eine Versagerin.»
Nach kurzer Zeit wurde Sophie auf eine Stelle als Buchhändlerin aufmerksam gemacht. Sie war sehr interessiert und erhielt den Job dann auch. Mit neuem Elan machte sich Sophie an die Arbeit. Sie investierte viel, eignete sich ein grosses Wissen über die Literaturwelt an und wurde eine hervorragende Beraterin. Durch diese erbrachten Leistungen hatte sie wieder das Gefühl, wertvoll zu sein und dazuzugehören. Nach einer Weile absolvierte sie die Ausbildung zur Buchhändlerin.
Am 6. Juni 1989 starb Sophies Mutter im Alter von 76 Jahren.
Inzwischen war Sophie 38 Jahre alt, hatte aber noch nicht gelernt, sich selbst zu versorgen. Sie wusste nicht, wie man Kleider wäscht, und auch das Kochen war so eine Sache. Sie war in der Lage, Wasser zu kochen und eine Instantsuppe zuzubereiten. Damit war sie aber auch schon am Ende ihres Lateins. Sie ernährte sich ungesund und war auf die Hilfe anderer angewiesen. Zwei Cousinen ihrer Mutter wuschen ihre Kleider. Sophie war sehr dankbar dafür, denn schliesslich war sie sich nur allzu deutlich ihrer Überforderung bewusst. Sie war aber auch äusserst sensibel darauf, die Erwartungen der beiden Frauen zu erfüllen. Sie war sich sicher, dass diese ihre Unterstützung sofort eingestellt hätten, wenn sie deren Verhaltenskodex nicht eingehalten hätte.
Zwei Jahre lang wuschen die beiden Frauen Sophies Kleider. Gleichzeitig versuchten sie, ihr alle «wichtigen» Lebensprinzipien beizubringen. Sophie wusste, dass sie die Gunst der Frauen erhalten musste, um nicht fallengelassen zu werden. Ironischerweise legten die Frauen wöchentlich einen langen Weg zurück, um Sophies Kleider zu holen und dann auch wieder zu bringen. Sie wuschen und bügelten die Kleider – aber sie zeigten Sophie nicht, wie sie selbst Kleider waschen konnte. Die inzwischen 40-Jährige glaubte, dass Kleiderwaschen eine derart schwierige Sache sei, dass sie dies unmöglich erlernen konnte.
Es war wie ein unausgesprochener Pakt: Die beiden Frauen wuschen Sophies Kleider – in Gegenleistung besuchte diese mit den beiden zusammen die Gottesdienste der Gemeinde, sass an deren sonntäglichen Mittagstisch und hielt sich an alle Ratschläge, die sie ihr gaben. Wenn sie deren Anweisungen gut befolgte, waren die beiden zufrieden und beschenkten sie zusätzlich mit vorgekochten Menus und vielen anderen Dingen. In all dem verstärkte sich das Gefühl in Sophie, dass sie es selbst nicht auf die Reihe kriegen würde und auf die Hilfe anderer angewiesen war – selbst in den kleinen alltäglichen Dingen.
Trotz ihrer Überforderung hielt sich ein hartnäckiger Stolz in ihr. Sie glaubte noch immer, sich durch perfektes Verhalten und gute Leistungen von anderen Menschen abheben zu können. Wahrscheinlich versuchte sie dies auch krampfhaft zu glauben, denn Perfektion war für sie der einzige Weg zum Erlangen von Wert und Bedeutung.
1991 musste Sophie umziehen. Die frühere Wohnung war für sie als Einzelperson einfach zu teuer. Über eine andere Verwandte ihrer Mutter fand sie eine günstigere Mietwohnung in Ostermundigen. Natürlich gehörte die Verwandte, welche im selben Haus wohnte, auch zu Sophies Gemeinde. Sie nahm Sophie unter ihre Fittiche und sagte, wie sie sich zu verhalten hatte. Das alte Spiel wiederholte sich also einmal mehr. Diese Frau brachte Sophie bei, wie sie ihre Haushaltung selbst führen konnte. Doch sie pochte vehement darauf, dass Sophie sich genau an ihre Anweisungen hielt.
An dieser Stelle muss natürlich erwähnt sein, dass die hilflose und unsichere Sophie Menschen richtiggehend anzog, die über ihr Leben bestimmen wollten. Und sie hatte sich nie dagegen gewehrt.
Es folgten Jahre, in welchen Sophie verschiedene Stellen als Buchhändlerin innehatte. Irgendwann kam sie in eine christliche Buchhandlung. Trotz ihrer Berufserfahrung schaffte sie es nicht, die Anforderungen dieses Buchladens zu erfüllen. Sophie hatte schlicht zu wenig Kenntnisse über den spezifisch christlichen Buchmarkt. Worauf sie aber ganz sensibel reagierte, war erneut die Botschaft: «Wenn du es genauso machst, wie wir sagen, bist du geliebt und angenommen – falls du versagst, bist du raus!» Eine solche Botschaft war mit Sicherheit nicht die Absicht der dortigen Leitung, für die übersensiblen Ohren von Sophie war die Botschaft aber einmal mehr klar: «Sei perfekt und Gott liebt dich.»
Sie schaffte es nicht. Glücklicherweise fand sie kurz darauf eine neue Anstellung im Blaukreuz-Verlag.
Durch die Arbeit im Blaukreuz-Verlag traf Sophie auf bekennende Christen, welche eine grosse Faszination auf sie ausübten. Es waren Menschen, die ihren Glauben auf eine lebendige und anziehende Weise lebten. Sophie liebte die Gemeinschaft mit diesen Leuten und war dankbar, an deren Leben teilhaben zu dürfen.
1995 verlor Sophie ihre Stelle im Blaukreuz-Verlag. Dies war die Folge einer längeren finanziellen Krise des Verlages. Die nächste Stelle trieb sie dann an die Grenzen ihrer Kräfte, was 1998 in einer schwerwiegenden Erschöpfungsdepression endete. Sophie hatte wirklich alles gegeben. Allein schon die 700 Überstunden, die sie geleistet hatte, sprechen eine deutliche Sprache. Doch der Einsatz war zu gross für sie. Und der ständige Drang, alles perfekt machen zu müssen, wurde ihr einmal mehr zum Verhängnis. Die Erschöpfungsdepression zwang sie schliesslich, ihre Stelle aufzugeben.
Inzwischen begann sich ihr Leben aber zum Guten zu verändern. Die Freunde vom Blaukreuz-Verlag blieben weiterhin an ihrer Seite. Sie luden Sophie zu sich nach Hause ein, wo sie viele gute Stunden verbrachten. Schon bald besuchte sie auch regelmässig die Anlässe der Gemeinde ihrer Freunde. Und dort hörte sie von einem liebenden Gott, der nicht an unserer Leistung und Perfektion interessiert ist, sondern vielmehr an unserem Herz. Der Gedanke, dass Gott sie, Sophie Blees, bedingungslos liebte, liess ihr warm ums Herz werden. Konnte das wirklich wahr sein? Sehnte sich Gott tatsächlich nach einer persönlichen Beziehung mit ihr?
Es war wunderbar, die Wahrheiten zu entdecken, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
Die Veränderung vollzog sich langsam. Sophie erlebte keine grossen Durchbrüche und emotionalen Momente. Sie kann auch kein Datum nennen, an welchem sich etwas ganz Besonderes ereignet hat. Trotzdem weiss sie, dass sich etwas ereignet hat. Gott legte einen lebendigen Glauben in ihr Herz. Erst leise und unbemerkt, doch dann begannen sich Früchte zu zeigen. Freunde und Seelsorger halfen ihr, falsche religiöse Denkweisen abzulegen und zu einem lebendigen Glauben durchzudringen.
3. Liebe in der Luft
Nach Beendigung ihrer Anstellung im Blaukreuz-Verlag pflegte Sophie weiterhin regen Kontakt mit Doris und Gerold Huber. Mehrmals ging sie sogar mit ihnen in die Ferien.
Interessant war diese Freundschaft aber auch deswegen, weil ich damals ebenfalls regelmässig bei Hubers ein- und ausging. Aber Sophie und ich sind uns nie begegnet. Zumindest einige Jahre lang nicht. Während bei Sophie die frühere Arbeitsstelle den Kontaktpunkt zu Hubers herstellte, war es bei mir der Kontakt zum Blauen Kreuz – ein Kontakt, welcher für mich als ehemaligen Alkoholiker sehr wichtig war.
Im Jahr 2000 feierte Gerold Huber seinen 55. Geburtstag. Den ganzen Tag war das Haus geöffnet und die Gäste konnten kommen und sich in der reichhaltigen Festwirtschaft bedienen. Wie es ihrer Grosszügigkeit und Gastfreundschaft entsprach, hatten Hubers zu diesem Anlass sehr viele Leute eingeladen. An diesem Tag begegnete ich Sophie zum ersten Mal.
Sie hatte dieses wunderbare herzliche Lachen, welches ihr Umfeld sofort ansteckte. Mich hatte ihr Lachen jedenfalls sofort in den Bann gezogen und ich liess nichts unversucht, um sie durch Witze und lustige Geschichten zum Lachen zu bringen. Erfolg hatte ich dabei immer wieder, schliesslich war ich ja auch schon früher in den Kneipen ein Meister der Unterhaltung gewesen.
Wie ich später erfuhr, war meine anfängliche Wirkung auf Sophie etwas weniger überwältigend. Ihr Gedanke zu meiner Person war nämlich: «Dieser Mensch spricht aber langsam.» Noch heute kann Sophie sich daran erinnern, wie sie sich hin und wieder gefragt hatte, ob ich meine Sätze überhaupt jemals zu Ende bringen würde.
Von meiner Seite hätte ich Sophie gerne etwas näher kennengelernt. Sie hatte wirklich mein Herz erwärmt. Zu mehr als etwas Smalltalk brachten wir es allerdings nicht. Für Sophie war ich damals lediglich ein Typ, der an einer Geburtstagsparty viel und vor allem langsam sprach.
Kurze Zeit später fragte mich Gerold Huber, ob ich interessiert sei, mit ihnen einen Hauskreis zu beginnen.
«Ja, da bin ich interessiert. Wie würde das denn konkret aussehen?», antwortete ich und Gerold schilderte mir kurz, wie er sich die Sache vorstellte. Als er erwähnte, dass Sophie ebenfalls dabei sein würde, war mein Interesse zusätzlich geweckt. Sehr sogar!
So starteten wir diesen Hauskreis unter der Leitung von Doris und Gerold. Die Anzahl Teilnehmer variierte immer etwas, wir blieben aber stets eine kleine Gruppe. Somit hatte ich die Gelegenheit, mehr von Sophie zu erfahren und sie kennenzulernen.
Die Zeit nahte, wo Gerold und Doris nach Madeira in die Ferien verreisen wollten. Sophie war damals psychisch instabil und Hubers machten sich offensichtlich Sorgen um ihr Wohlergehen. Wie würde es Sophie ergehen, wenn sie im Ausland waren? «Irgendjemand muss nach Sophie sehen», müssen sie sich gesagt haben. So kam Gerold eines Tages mit diesem Anliegen auf mich zu.
«Jakob, wie du weisst, gehe ich mit Doris in die Ferien», begann er.
«Ja, das ist schön», erwiderte ich und wünschte ihm eine gesegnete Zeit.
«Nun ist da aber noch die Situation mit Sophie. Doris und ich machen uns Gedanken, wie es ihr während unserer Abwesenheit ergehen wird.»
Ich nickte und fragte mich, worauf Gerold hinauswollte.
«Wir haben uns jetzt überlegt, ob es für dich vielleicht möglich wäre, zwischendurch mal bei Sophie anzurufen und nach ihrem Ergehen zu fragen. Könntest du das tun?»
«Ja, das kann ich gerne machen!», sagte ich, während mein Herz einen grossen Freudensprung machte.
Die praktische Umsetzung dieser Bitte war dann nicht etwa nur ein gelegentlicher Anruf bei Sophie. Ich begann, ihr Briefe zu schreiben. Und zwar viele. Es gab Tage, an denen sie gleich mehrere Umschläge von mir aus ihrem Briefkasten nahm. Und sie schrieb zurück – wenn auch deutlich weniger oft als ich. Zwischendurch telefonierten wir. Aber das Briefeschreiben war in diesen Wochen doch meine Freizeitbeschäftigung Nummer eins.
Ich bin sehr froh, dass sich Sophie von meinem «Briefsturm» nicht bedrängt fühlte. Sie schätzte es, handgeschriebene Briefe in ihren Händen zu halten. Ihr Erleben schriftlich festzuhalten und mir zu schicken, war ihr in diesen Wochen eine grosse Hilfe. Für Sophie ist das Schriftliche die bevorzugte Ausdrucksweise. So genoss sie den Briefwechsel mit mir, obwohl sie damals an einer Beziehung überhaupt nicht interessiert war. Sie nannte mich immer «frère Jacques» und drückte damit aus, was sie in mir sah: einen Bruder.
Irgendwie schien ich Sophies Vertrauen gewonnen zu haben, denn sie schrieb mir sehr viel über Dinge, die sie in ihrem Alltag beschäftigten. Auch wenn unsere Telefongespräche jeweils mehr als eine Stunde dauern mochten, vertieften wir unsere Beziehung aber primär über das Schreiben von Briefen. Nach der Rückkehr von Hubers führten wir unseren Briefwechsel fort. Mein Dialekt war für Sophie allerdings etwas gewöhnungsbedürftig. Sie entschied sich, ein Vokabular anzulegen, damit sie sich die Bedeutung aller meiner «unverständlichen» Ausdrücke merken konnte.
Sophies breite Wissen über Literatur und viele andere Dinge öffnete mir neue Welten. Wissbegierig nahm ich alles auf, was sie mir über die Welt der Bücher zu erzählen hatte. Eine Welt, die ich selbst auch immer mehr zu lieben begann.
So kamen Sophie und ich uns langsam näher. Sie suchte dennoch weiterhin keine Liebesbeziehung mit mir und freute sich einfach, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. So musste ich mich damit begnügen, Sophies Sympathie zu besitzen. Meine Gefühle für Sophie waren inzwischen allerdings ganz schön in Bewegung geraten.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, als die bekannte blinde Fürbitterin Helga Anton für einen Vortrag nach Bern kam. Gemeinsam mit Hubers nahmen Sophie und ich an diesem Anlass teil. Vom Vortrag habe ich aber so gut wie nichts mitbekommen. Das lag weniger am Thema, welches mich eigentlich sehr interessierte. Der Vortrag war auch gewiss nicht eintönig oder langweilig. Es war ganz einfach so, dass meine Gedanken und Sinne alle bei Sophie waren. Ja, die Liebe hatte mich ganz schön erwischt.
Die Zeit verging. Inzwischen hatten wir das Jahr 2001 und Sophies 50. Geburtstag stand kurz bevor. Einmal mehr zeigten sich Doris und Gerold Huber von ihrer freigebigsten Seite und wollten für Sophie eine grosse Party in ihrem Haus veranstalten.
«Du sollst dich um nichts kümmern müssen», sagten sie und trugen ihr auf, 50 Gäste einzuladen. Das sei die angemessene Anzahl für einen 50. Geburtstag. Für Sophie war ein derartiger Liebesbeweis etwas ganz Besonderes und sie freute sich sehr auf diesen Tag.
Im Vorfeld dieser Party war ich gewillt, die Schmetterlinge, die schon lange in meinem Bauch flatterten, endlich freizulassen. Ich würde Sophie also einen Antrag machen. Ich war ein wenig nervös, als ich mich am Tag vor Sophies 50. Geburtstag bei ihr einlud. Mein Vorwand war, dass wir ein paar Dinge bezüglich der Party zu besprechen hätten. Sie lud mich zum Abendessen ein und ich erschien pünktlich an ihrer Tür.
Kurze Zeit später sassen wir gemütlich am Tisch und liessen es uns schmecken. Mein eigentliches Thema schob ich noch etwas vor mir her. Ich wartete auf den richtigen Augenblick. Doch wie es in derartigen Situationen oftmals der Fall ist, entpuppte sich kein Moment als der passende.
Die Zeit verging wie im Flug und so kam der Moment, wo ich mich auf den Heimweg machen musste. Bis jetzt hatte ich es nicht geschafft, Sophie meine Liebe zu ihr zu bekennen. Die Zeit wurde knapp.
Als wir gemeinsam zum Bahnhof schlenderten, wusste ich, dass ich keine Zeit mehr zu verlieren hatte. In höchstens zehn Minuten würden wir den Ort erreichen, wo wir uns verabschieden würden. Sophies Worte, dass sie glaube, noch viele Mahlzeiten mit mir zu geniessen, hallten noch immer in meinen Ohren. War sie jetzt etwa doch bereit für eine gemeinsame Zukunft mit mir? Ich musste nun endlich Worte finden und die Sache klären!
Irgendwie schaffte ich es, meine Liebe für Sophie zu bekennen. In diesen Minuten war ich extrem aufgeregt. Was hatte ich genau gesagt? Und was hatte Sophie geantwortet? Die Erinnerung an diese Minuten verschwand in einem romantischen Nebel und schon spazierten wir weiter – Hand in Hand. Meine Geschichte sollte also ihre Fortsetzung an der Seite dieser Frau finden. Ich war bei meiner Sophie angekommen.
Eine liebe Nachbarin begegnete uns, als wir Hand in Hand zum Bahnhof gingen. Freundlich grüsste sie uns und wir grüssten zurück. Selbstverständlich hatte sie bemerkt, dass wir ein Paar waren. Das war aber o. k. und für uns ganz natürlich. In den folgenden Wochen sollten wir jedoch noch vollkommen andere Erfahrungen machen. Etliche Menschen aus unserem Umfeld reagierten äusserst negativ auf unsere Beziehung, in Einzelfällen sogar richtig feindselig.
Und dann war sie da: Die grosse Party zu Sophies 50. Geburtstag. Ohne dass wir viel gesagt hätten, haben die meisten Gäste natürlich bemerkt, dass sich zwischen Sophie und mir etwas getan hatte. Alles in allem war es ein richtig schönes Fest. Die Liebe der vielen Gäste berührte Sophie tief. Und auch ich liess es mir nicht nehmen, einen Beitrag zu leisten. Einige Zeit zuvor hatte ich gelernt, was ein «Elfchen» ist. Das ist ein Gedicht, bei dem jede Strophe aus elf Wörtern besteht. Das schien mir interessant und so entschied ich, für meine Sophie ein schönes «Elfchen» zu dichten und ihr und der ganzen Gesellschaft dann zu präsentieren. Für mich war dies ein besonderer Moment.
Es war eine sehr schöne Party im Beisammensein mit Sophies besten Freunden. Es war, als würden wir die Gunst aller geniessen. Doch der Schein trog. Da waren viel mehr Einwände gegen unsere Beziehung, als wir geahnt hatten. Viele unserer Freunde freuten sich aber sehr herzlich mit uns.
Schon früher hatte mir Sophie erzählt, wie sie Annahme und Liebe immer verdienen musste. In der christlichen Gemeinschaft ihrer Verwandtschaft war dies besonders ausgeprägt. Dort hatte sie schon als Kind gelernt, dass sie nur dann angenommen war und dazugehörte, wenn sie eine Vielzahl von äusseren Verhaltensregeln einhielt. Traurigerweise standen diese Regeln in keinem Zusammenhang mit einem lebendigen Glauben an Jesus Christus.
Doch auch später geriet sie immer wieder an gutmeinende Christen, die sie unter ihre Fittiche nahmen. Immer hatte sie das Gefühl, deren Massstäben genügen zu müssen. Durch ihre unsichere Art zog sie wahrscheinlich auch gerade diejenigen Christen an, denen es eine Genugtuung war, wenn sich Menschen durch ihr Engagement veränderten. Damit berührten sie aber regelmässig einen sehr sensiblen Punkt bei Sophie. Wenn jemand ihr sagte, wie sie eine gewisse Sache zu tun hatte, glaubte sie, dass sie keine Wahl hätte, als einfach zu gehorchen. Sie glaubte, dass sie sonst die Liebe dieser Menschen verlieren würde. Und genau davon war sie abhängig. Traurigerweise wurde ihre Furcht immer wieder bestätigt, indem Menschen unzufrieden wurden, wenn sie deren Erwartungen nicht erfüllte.
Und Sophie erhielt sehr viele Ratschläge und auch direkte Anweisungen. Für mich, der ich mein Leben lang gewohnt war, die Meinung anderer Menschen zu ignorieren, waren die Dynamiken bei Sophies Beziehungen eine grosse Herausforderung.
«Du musst dir das nicht gefallen lassen!», sagte ich oft zu ihr, wenn ich mich daran störte, auf welch bevormundende Weise sie von anderen Menschen behandelt wurde. Bei Christen wurde das noch zusätzlich verstärkt, indem diese ihre Meinung oft sehr geistlich verkauften. Für manche Gläubige schien es nur eine richtige Art zu geben, wie etwas getan werden konnte. Und genau dieser Art musste Sophie sich anpassen – sonst war es einfach «falsch» oder sogar «unbiblisch».
Früher hatte ich derartige Aussagen auch gehört, diese aber grosszügig ignoriert. Und heute muss ich zugeben, dass ich gut beraten gewesen wäre, mehr auf andere Menschen zu hören – besonders auf reife Christen. Aber zu sehen, wie Sophie unter den vielen Anweisungen litt, war für mich sehr schwer. Immer versuchte sie, allen alles recht zu machen. Damit konnte ich schlecht umgehen. In meinem Herzen schrie es unaufhörlich: «Lasst Sophie doch einfach ihren eigenen Weg gehen und bemuttert sie nicht andauernd!»
Oft sprach ich Leute direkt auf deren Verhalten und ihre Wirkung auf Sophie an. Es kam auch vor, dass ich dabei richtig wütend wurde. Dadurch gewannen wir etwas Raum, um unseren eigenen Weg finden zu können. Doch der Preis war hoch: Viele Beziehungen wurden auf diese Weise in Mitleidenschaft gezogen, einige zerbrachen sogar. Das war einerseits schmerzhaft, andererseits musste Sophie unbedingt aus diesem Muster von «Bemutterung» und Abhängigkeit herauskommen.