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Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
NOVA Science-Fiction 30
Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
NOVA Science-Fiction
Ausgabe 30
NOVA ist ein Projekt des World Culture Hub:
www.worldculturehub.org
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: März 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Innentitel: Helmut Wenske
Illustrationen: Gerd Frey, Christian Günther, Nummer 85, Victoria Sack, Christine Schlicht, Michael Wittmann
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Redaktion Storys: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de
Redaktion Sekundär: Thomas A. Sieber, thomas.a.sieber@gmail.com
Lektorat: Michael K. Iwoleit, mkiwoleit@nova-sf.de
Korrektorat: Dirk Alt, Michael Haitel
Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
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ISSN: 1864 2829
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 233 1
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 862 3
Michael K. Iwoleit: Editorial
Als Ronald M. Hahn, Helmuth W. Mommers und ich im Sommer 2002 die erste Ausgabe von Nova vorbereiteten, besorgte Helmuth Titelbilder und fertigte mal so eben Coverentwürfe für die ersten sechs Ausgaben an. Ich erinnere mich noch an Ronalds Kommentar: »So lang halten wir das doch nie durch.« Die Skepsis war berechtigt. Jahrzehntelang war vergeblich versucht worden, in der deutschen SF-Szene eine regelmäßige Veröffentlichungsplattform für einheimische Kurzgeschichtenautoren zu etablieren, und niemanden hätte es gewundert, wenn Nova ebenso zügig Schiffbruch erlitten hätte wie zahlreiche vergleichbare Projekte zuvor. Dass es, trotz diverser Krisen, Verlags- und Redaktionswechsel, anders gekommen ist, hat wiederum niemanden so sehr gewundert wie uns selber und ist wohl nur der Hartnäckigkeit einer Kernmannschaft zu verdanken, die lange Jahre aus Ronald, Olaf G. Hilscher und meiner Wenigkeit bestand. Horst Pukallus war so freundlich, uns dafür, in seinem Statement in der vorliegenden Ausgabe, ein Lob der Sturheit auszusprechen. Die belebende Wirkung von Nova (und natürlich auch Exodus, von René Moreau nicht lang nach dem Erscheinen der ersten Nova-Ausgaben nach fast zwanzig Jahren Pause wiederbelebt) auf die deutsche SF-Szene und auf die Weiterentwicklung unserer besten Story-Autoren hat uns in unserer Hartnäckigkeit und unseren Glauben an den literarischen Wert der Kurzgeschichte nur bestärkt. Im aktuellen Redaktionsteam, das sich mit seiner reibungslosen, zügigen Zusammenarbeit bereits glänzend bewährt hat, bin ich der letzte verbliebene Mitbegründer, und obwohl es auch für mich Zeit wird, allmählich über eine Ablösung nachzudenken, werde ich dem Magazin sicher noch lang genug verbunden bleiben, um auf ein Drittel meines Lebens als Nova-Mitherausgeber zurückblicken zu können.
Traditionell betrachten wir jede zehnte Ausgabe als ein kleines Jubiläum, das wir mit der einen oder anderen Besonderheit feiern wollen, und so soll es auch diesmal sein. Neben Statements der drei Mitbegründer und treuer Weggefährten und Leser haben wir einige unsere Stammautoren gebeten, nicht nur Storys zu Themen beizusteuern, die ihnen im Moment besonders auf den Nägeln brennen, sondern unseren Lesern in kurzen Werkstattberichten einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen und zu erklären, was sie zu ihren Geschichten motiviert hat. Durch Vermittlung von Andreas Irle und dank großzügiger Unterstützung der Familie von Jack Vance und dem Team der Vance-Publikationsplattform Spatterlight Press sind wir außerdem in der Lage, in unserer Gaststory-Rubrik in deutscher Neuübersetzung eine klassische Kurzgeschichte von Jack Vance zu präsentieren, einem der großen Kultautoren der Science-Fiction.
Michael K. Iwoleit
Dezember 2020
NOVA STORYS
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Autonome Roboter, seit Ewigkeiten ein Lieblingsthema der Science-Fiction, sind auch in unserem Alltag kein ganz unvertrauter Anblick mehr. Die kleinen Staubsaugerknechte, die bereits in vielen Haushalten herumwuseln und die Stubentiger irritieren, dürften erst der Anfang sein. Wissenschaftler und Futuristen versprechen sich viel von einem Sprung auf eine höhere Ebene durch Schwarmbildung. Aus dem mehr oder weniger dumpf agierenden Individuum wird, durch Vernetzung und Interaktion, eine Kollektivintelligenz. Wie die folgende kleine Geschichte zeigt, können dabei, insbesondere wenn sich ein unerschrockener Exzentriker der Möglichkeiten annimmt, auch ganz neue Querverbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft entstehen. – Karsten Kruschel, sicher einer der führenden zeitgenössischen deutschsprachigen SF-Autoren, ist unseren Lesern vermutlich noch durch seine brillante Steampunk-Story »Teufels Obliegenheiten« in Nova 20 in bester Erinnerung. Wir freuen uns, dass er auch in dieser Jubiläumsausgabe wieder mit von der Partie ist.
Karsten Kruschel: Dreckdrohnen und die Mathematik Mozarts
»Das sieht ja furchtbar aus«, sagte Frau Dorfmüller und zog rasch den Kopf weg, als der nächste Klumpen einer undefinierbaren Substanz an die Wand klatschte. Er rutschte langsam nach unten weg und sah dabei aus, als müsse er intensiv stinken.
Tat er aber nicht. Es handelte sich um schlichten Lehm.
»Glück gehabt«, sagte Göran Lundberg, der seiner fast einen Meter kleineren Chefin die Tür einen Spaltbreit offen hielt, damit sie das Desaster besser sehen konnte.
»Ich will ihn nicht stören«, meinte sie. »Er wird immer so wütend, wenn man ihn stört. Vor allem, wenn er einen seiner kreativen Schübe hat wie diesen hier.«
Beide – der groß gewachsene schwedische Gastassistent und die zierliche Chefin der musiktheoretischen Abteilung – schauten dem massigen Mann zu, der in der Mitte eines großen Klassenzimmers um ein merkwürdiges Objekt herumhüpfte. Bei dem Mann, dessen Ohren von großen Kopfhörermuscheln verdeckt waren, handelte es sich um Artigas Fessenheim, seines Zeichens Professor für Objektkunst hier im Hause und mehr oder weniger unantastbar, weil er eben diesem Haus mit seiner Kunst eine Menge Geld einbrachte.
»Dreck!«, rief er und schleuderte irgendetwas Längliches hinter sich. Es flog in hohem Bogen durch die Luft und schlidderte an die gegenüberliegende Wand. Auf seinem Weg dorthin begegnete es beschriebenen Notizzetteln, leeren Getränkedosen und spiralig aufgerollten Metallspänen.
»Wiederverwertung!«, rief Fessenheim nun und warf ein Stück Gartenschlauch in eine andere Ecke. Dann drang er mit einem Meißel auf das vor ihm aufragende Ding ein, das aussah wie ein Zwitter aus einem mittelschweren Verkehrsunfall und einem dramatisch aus dem Ruder gelaufenen Versuch, den hässlichsten Riesenkaktus der Welt zu erschaffen. Ein weiteres Kunstwerk des Professors, work-in-progress.
Ségolène Dorfmüller stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hielt die monumentalen Objekte, die ihr Kollege während seiner schöpferischen Anfälle hervorbrachte, persönlich und insgeheim für völlig wertlos, einfach wirre Haufen aus Müll, die nichts weiter bedeuteten als eben Müll. Aber auf dem internationalen Kunstmarkt, der ihr völlig fremd war, brachte jeder einzelne Artigas Fessenheim größere siebenstellige Beträge. Von dem Anteil, den das Haus von diesen Beträgen abbekam, wurde weit mehr refinanziert als Fessenheims Professur.
Ihre Meinung behielt Ségolène Dorfmüller natürlich für sich. Womöglich beruhte die Sache ja auf Gegenseitigkeit. Sie würde auch nicht wissen wollen, was Fessenheims künstlerischer Verstand von den eigenen Dorfmüllerschen musiktheoretischen Analysen halten mochte.
»Ich trau mich auch nicht, ihn zu stören«, sagte Lundberg, im wahrsten Sinn des Wortes von oben herab, und das mit einem so niedlich klingenden schwedischen Akzent, dass sie lächeln musste, weil sich der Assistent anhörte wie die Fernsehwerbung für ein großes Möbelhaus. »Man könnte verletzt werden, wenn man da reingeht«, setzte Lundberg hinzu.
»Das auch«, antwortete seine Chefin und musterte den Fußboden, der mit allerlei Stolperfallen übersät war – Drahtrollen, Besenstiele, irgendwelche verbogenen Bleche. Ein Mikado mit vielen Unbekannten. Sie seufzte und blickte zu Lundbergs blondem Schopf empor.
»Du willst nicht …?«, fragte sie und wusste schon, dass es hoffnungslos war. Sie musste Artigas Fessenheim selbst aufhalten. Dieser Lundberg hier war zwar ein großer, alle Schweden-Klischees ausfüllender Bilderbuch-Schwede, kam aber mit allem, was nicht in Noten oder Software-Codezeilen ausgedrückt werden konnte, eher schlecht zurecht.
Lundberg schwieg, wie nicht anders zu erwarten.
Artigas Fessenheim hatte sich hingehockt und mit einem dicken Filzmarker hastige Notizen auf einen der Pappdeckel geworfen, die in dem kleinen Imbisskiosk unten in der Halle als Tellerersatz für Bockwürste und Frikadellen dienten. Er pflegte ganze Stöße dieser Dinger zu mausen, um sie als Medium für allerlei Mitteilungen zu benutzen. Mit dem Ausruf »Archivieren!« schnipste er den Karton zu Seite und wandte sich wieder dem Kunstwerk zu, ohne seiner Notiz hinterherzuschauen. Der Pappdeckel landete in einer Ecke, in der schon zwei Dutzend ebensolcher Pappdeckel kreuz und quer durcheinander lagen.
»Na gut«, seufzte Ségolène Dorfmüller und wagte ein paar Schritte in das mit den Überresten Fessenheimschen Schaffenswahns übersäte Zimmer. Sie achtete sehr genau darauf, wohin sie ihre Füße setzte. Manche Dinge da unten sahen aus, als ob sie ihren Manolos etwas Böses antun könnten.
»Dreck!«, rief Fessenheim nun aus und warf wieder etwas Schmieriges, Tropfendes über die Schulter, glücklicherweise nicht in die Richtung der Musiktheoretikerin, die kurz erstarrte. Dieses Wurfgeschoss flog seitwärts, wo sich das Ding an der Wand festsaugte.
Die Dorfmüller schnappte sich nach einigen wackligen Schritten vom Boden einen langen Draht, bog ihn halbwegs gerade und stocherte damit nach den Schultern des Professors.
Schon der dritte oder vierte Anstupser führte, noch ehe Ségolène von einem der nächsten Wurfgeschosse getroffen wurde, zum Erfolg. Fessenheim erstarrte, zog sich die Kopfhörer von den Ohren und blickte sich um.
»Was zum Teufel wollen Sie denn hier?«, fragte er, ehe seine Augen sich überrascht weiteten. »Wie sieht es denn hier aus, um Himmels willen?!«
Artigas Fessenheim musterte voll ehrlichem Entsetzen das verwüstete Klassenzimmer.
Es sieht aus wie ein ganzes Klassenzimmer voller Objektkunst, dachte die Musiktheoretikerin grimmig. Ihrer Objektkunst, Professor.
Laut sagte sie: »Herr Kollege, seit einer halben Stunde läuft unser Mozart-Versuch. Und alle Ihre Drohnen nehmen daran teil. Wir hatten Ihnen dazu ein Memo geschrieben.«
»Tatsächlich?« Fessenheim betrachtete immer noch das Chaos ringsum.
»Ich habe Ihnen ein Memo geschrieben, genauer gesagt«, stellte Göran Lundberg klar und erntete dafür einen finsteren Blick seiner Chefin.
»Das ist wohl im Spamfilter gelandet«, murmelte der Professor. »Was für eine Sauerei, das alles hier. Meine Drohnen, sagen Sie? Die, die meinen Dreck auffangen, wenn ich ›Dreck‹ rufe, und ihn wegschaffen? Die Drohnen, die alles auffangen, was ich hinter mich werfe?«
Sein Blick fiel auf die aus der Kantine entwendeten, beschriebenen Pappen.
»Die Drohnen, die meine Gedanken ins Sekretariat bringen, wo sie abgetippt werden sollen? Die sind bei Ihnen?«
»Ja«, antwortete Frau Dorfmüller einfach.
Artigas Fessenheim tippte auf sein iPod, worauf die zischelnde Technomusik, die aus seinen Kopfhörern quoll, verstummte. »Warum, um alles in der Welt?«, erkundigte er sich.
»Sie sind nun Teil unseres Mozart-Projekts«, ergänzte Göran Lundberg. »Bis heute Abend.«
Wenn dergleichen möglich wäre, hätte er den Namen Mozart in Großbuchstaben ausgesprochen, so stolz, wie er offensichtlich darauf war.
»Mozart?!« Das Gesicht von Artigas Fessenheim war nun ein einziges Fragezeichen. Ségolène Dorfmüller musste daran denken, dass dieser Mann seit Jahren ein Geheimnis daraus machte, dass er eigentlich den schnöden Namen Ulli Schumann trug und gelernter Elektriker war. Mit Mozart konnte er offenbar nicht viel anfangen.
»Ich zeige es Ihnen, Herr Kollege«, sagte sie liebeswürdig und wies zur Tür. In der ragte Lundberg auf, blond und nutzlos, und wich hastig zur Seite aus, als seine Chefin und der weltberühmte Professor auf ihn zukamen.
Draußen angekommen, in der großen, lichtdurchfluteten Halle, von der aus alle Treppenhäuser des Gebäudes abzweigten, wies die Dorfmüller mit großer Geste auf den gewaltigen Luftraum, der sich nicht wie gewohnt leer zwischen den weit entfernten Wänden spannte, sondern angefüllt war von vielen Tausenden kleiner Flugobjekte. Alle waren handspannengroß und verfügten über vier kleine, leise surrende Propeller, mit denen sie sich in der Luft hielten. Hier und da erkannte Fessenheim eine seiner Dreckdrohnen am schmutzigen Gehäuse. Manchmal hatte er unbeabsichtigt eines seiner kleinen Helferlein direkt erwischt.
»Das sind alle Drohnen, die das Institut derzeit besitzt«, erklärte Göran Lundberg stolz, als hätte er sie persönlich eingesammelt.
»Ich frage mich, warum sie nicht wie üblich meinen Dreck auffangen und meine Notizen transportieren«, knurrte der Professor. »Dafür waren sie sehr praktisch. Ich habe mich daran gewöhnt. Man wirft irgendwas über die Schulter, und zack!, ist es ordentlich weggeräumt. Man schnipst eine Pappe in die Luft, und abends habe ich eine Mail mit dem sauber getippten Text im Postfach.«
»Die Drohnen arbeiten heute ausnahmsweise einmal nicht für Sie, Herr Professor, weil sie uns für heute Nachmittag für dieses Mozart-Ding zur Verfügung stehen«, sagte Lundberg und ließ zusammen mit seinem Akzent auch etwas Überdruss hören. »Ehrlich gesagt, sind die kleinen intelligenten Biester mit den Aufgaben bei Ihnen auch ein wenig, wie soll ich sagen … unterfordert.«
Artigas Fessenheim warf dem schwedischen Austauschassistenten einen skeptischen Blick zu. »Ist das so?«
»Ja.« Der hochaufragende Assistent nickte eifrig. »Sie, Herr Professor, nutzen lediglich die einfachen Spracherkennungsroutinen der Drohnen und die antrainierten Reaktionen, nicht aber die Interaktion der Drohnen untereinander.«
»Die Schwarmintelligenz«, warf Ségolène Dorfmüller ein.
Artigas Fessenheim schnaubte verächtlich.
»Bei Menschen endet Schwarmintelligenz in der Regel beim kleinsten gemeinsamen Nenner«, sagte er, »und der ist meistens identisch mit der größtmöglichen Dummheit.«
Lundberg und Dorfmüller tauschten einen langen Blick aus, und beide sahen verstohlen nach der Uhrzeit, Dorfmüller auf einer teuer aussehenden mechanischen Uhr, der Schwede auf dem Display seines Touchpads. Die Demonstration sollte gleich beginnen.
»Jede Drohne weiß, wo genau sich ihre Nachbarn befinden“, erklärte der Schwede, »links und rechts und vorn und hinter und über und unter ihr; und die Nachbarn wissen wiederum von ihren eigenen Nachbarn genau, wo sich diese befinden. Sodass jede einzelne Drohne ziemlich dumm ist, der gesamte Schwarm jedoch zu erstaunlichen Leistungen fähig.«
»Wie wir gerade sehen«, ergänzte Ségolène Dorfmüller. »Momentan haben alle Drohnen die Aufgabe, den exakten Abstand zu ihren Nachbarn einzuhalten. Und siehe da: Sie stehen in der Luft wie unsichtbar festgenagelt. Obwohl alle Tore offen sind und es zieht wie Hechtsuppe.«
Tatsächlich strich ein böiger Wind durch die zentrale Halle, und tatsächlich schienen alle Maschinchen wie an unsichtbaren Seilen festgeknotet in der bewegten Luft zu stehen. Hin und wieder, wenn ein besonders heftiger Windstoß durch die Halle fegte, konnte man am wellenförmig durch den Schwarm streichenden Aufsummen der Motoren hören, wie sich die Drohnen anstrengten.
Professor Fessenheim stutzte. »Hm, das machen die selber? Es steht kein superschneller Riesenrechner im Keller, der all die Biester in Echtzeit steuert?«
Lundberg lachte und warf einen verstohlenen Blick auf das Touchpad, das er in den Händen hielt. »Das war früher. War zu aufwendig. Heute haben wir nur einen relativ kleinen zentralen Server, und der steuert nichts. Der aktualisiert nur die Software der Drohnen. Wir können ihnen neue Aufgaben überspielen, sozusagen. Wie jetzt gerade.«
Der Schwede tippte auf das Display.
Bewegung kam in die Wolke schwebender Maschinen. Wellen gingen durch den Schwarm, die Drohnen näherten sich einander an und schwangen wieder voneinander weg, und das alles im Rhythmus der Windstöße, die von draußen kamen.
»Nun haben wir eine kleine Zeitverzögerung ins Programm der Drohnen geschrieben«, sagte Lundberg.
Fessenheim starrte fasziniert nach oben; es war, als schaue man dem Wind zu, wie er durch ein Feld voller reifer Weizenähren streift und sie in wellenförmige Bewegung versetzt. Der Wolf geht durchs Korn, nur eben dreidimensional. Man konnte die Strömungen der Luft deutlich erkennen, und die Verwirbelungen rund um die Rolltreppen und den Kiosk, aus dem der Professor seine Pappteller zu entwenden pflegte. Das Ding schien an einer etwas ungünstigen Stelle platziert zu sein, denn die Drohnenwolke vollführte um ihn herum aberwitzige Tänze.
»Nun gut, das ist beeindruckend«, sagte der Professor langsam. »Und es scheint sogar Nutzanwendungen zu geben. Unser Kiosk da unten beispielsweise wird bei einem richtigen Orkan vermutlich weggeblasen, wie man sieht.«
»Oder man macht rechtzeitig die Tore zu«, entgegnete die Dorfmüller.
»Wunderbar, wunderbar«, sagte Artigas Fessenheim, von diesem Anblick auf seltsame Weise aufgemuntert. »Wie ich sehe, habe ich meine Dreckdrohnen unterschätzt. Ich werde in Zukunft netter zu ihnen sein … aber was hat das alles nun mit Mozart zu tun?«
Er sprach den Namen definitiv nicht in Großbuchstaben aus, was Ségolène Dorfmüllers Miene leicht verfinsterte.
»Es geht dabei um Strukturen. Musikalische Strukturen«, sagte sie ein wenig frostig, während die wogende Meute der Drohnen langsam zur Ruhe kam, weil die Tore nach draußen geschlossen wurden und der Wind im Innern des Gebäudes erstarb. »Sehen Sie, seit Jahrhunderten sind die Menschen von Mozarts Musik fasziniert – und das, obwohl der Großteil seiner Werke nur als nettes Hintergrundgeräusch für allerlei höfische Feste gedacht war.«
»Fahrstuhlmusik«, sagte Fessenheim.
»Wenn Sie so wollen, ja. Aber wenn es nur das wäre, gäbe es nicht diesen Kult um Amadé. Da muss mehr sein.« Sie warf dem Professor einen prüfenden Blick zu. Dieser Technofreak und Produzent von erfolgreicher, wenn auch klumpatschförmiger »Kunst« wurde ihr allmählich ein bisschen unheimlich.
»Und unser heutiges Experiment möchte in dieses Rätsel ein wenig Licht bringen.« Lundberg hatte sein Touchpad wieder herausgezogen und wischte flink über das Display. Offenbar war erneut frische Software für die Drohnen angesagt.
»Alle Drohnen können gesprochene Worte erkennen«, erklärte die Dorfmüller, »sonst würden sie ja nicht angeflitzt kommen, wenn Sie ›Dreck!‹ oder ›Archivieren!‹ rufen. Aber heute Nachmittag achten die kleinen klugen Biester auf andere Dinge. Sie achten auf Tonhöhen, Rhythmen, Tonlängen, Vibrato, sogar auf Klangfarben und Intonation.«
»Und was soll das?« Artigas Fessenheim wirkte nicht überzeugt.
Ségolène Dorfmüller schaute auf die Uhr. »Moment«, flüsterte sie.
Lundberg tippte auf dem Display seines Touchpads den »Fertig«-Button an, und die Drohnen speicherten ein neues Programm.
Sie erstarrten in der Luft und schienen auf etwas Neues, Aufregendes zu warten.
Dann flutete Musik den riesigen Raum. Musik, die das vieltausendfache Summen der Drohnen bei Weitem übertönte. Die kleinen Flugmaschinen übersetzten nun die Musik in Auf- und Abbewegungen, seitliche Schlenker und irisierende Vibration. Der Wolf ging wieder durchs Korn, aber diesmal auf eine ganz andere Weise. Die ganze Halle war plötzlich voller schwingender Musik. Die Drohnen sprudelten fröhlich umeinander, als wollten sie rhythmisch explodierenden Champagner darstellen.
Artigas Fessenheim spürte, wie ihm der Unterkiefer hinabsank, aber er kam nicht dazu, den Mund wieder zuzuklappen. Dieser Tanz der Drohnen war hypnotisch, und die Muster, die die tanzenden Maschinchen in die Luft zeichneten, schienen einem größeren System zu folgen, einer übergeordneten Gesetzlichkeit. Sie formten Figuren, die ihm seit seinem Mathe-Unterricht an der Abendschule, die er – damals noch Ulli Schumann – nie beendet hatte, nicht mehr unter die Augen gekommen waren. Es handelt sich um Muster ganz anderer Art, die er aus seinem Astronomie-Kursus an der Volkshochschule wiedererkannte. Und dann waren da welche, von denen er irgendwann einmal geträumt hatte.
Mozarts Musik flutete den Luftraum, und die Drohnen wandelten sie in Muster um, die Fessenheim nur allzu gern in einem seiner Objekte verwendet hätte. Tief in seinem Inneren spürte er jedoch, dass er das womöglich nie schaffen würde.
»Das ist Mathematik«, sagte er verblüfft und wies hier- und dorthin in den kleinen, surrenden Himmel dieser Halle. »Das ist die reine Mathematik Mozarts!«
Dann versagte ihm die Stimme.
Göran Lundberg warf einen triumphierenden Blick hinüber zu Ségolène Dorfmüller, und sie lächelte mild, während sie den Tanz der Drohnen in der Luft beobachtete. Morgen, dachte sie, wird er ihnen wieder Dreck zuwerfen. Aber für heute lassen wir ihn noch ein bisschen staunen. Vielleicht sind seine nächsten Objektkunst-Kunstwerke nicht mehr gar so abscheulich, wer weiß.