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IRENE ZOCH
Ma chère Frieda
Das Porträt einer unverzagten Frau
Mit Illustrationen von Jörg Zoch
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Wegweiser
Am Kreuzweg fragte er die Sphinx:
Geh ich nach rechts, geh ich nach links?
Sie lächelte: „Du wählst die Bahn,
die dir bestimmt ward in dem Plan.
Links braust der Sturm. Rechts heult der Wind:
Du findest heim ins Labyrinth.“
Mascha Kaléko
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Abbildungen und Fotos
Dank
Verwendete Literatur
Endnoten
Vorwort
In einem kleinen ledernen Koffer und einem japanischen Lackkästchen fand ich vor ein paar Jahren Fotos, Briefe, Schul- und Arbeitszeugnisse sowie schriftliche Notizen von der Großmutter meines Mannes, Frieda M., und von deren Tochter Charlotte. Als ich mich mit diesen „Fundstücken“ näher beschäftigte, fiel mir auch wieder einiges ein, was mir Frieda selbst, aber auch deren Enkel und andere Familienangehörige im Laufe der Jahre über sie erzählt hatten. Alles zusammen ergab in meinem Kopf die spannende Lebensgeschichte einer klugen und mutigen Frau, die mich nicht mehr loslassen wollte. Da begann ich, sie nachzuzeichnen. Überall dort, wo ich beim Schreiben nicht auf überlieferte Aussagen zurückgreifen konnte, war ich bemüht, Situationen den damaligen Lebensumständen entsprechend nachzugestalten.
Durch die Lektüre anschaulicher Schilderungen von Charles Dickens, Egon Erwin Kisch, Thomas Wolfe, Klaus Mann und anderer Autoren konnte ich mich gut in die Überfahrt nach Amerika und in das Leben der Stadt New York um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hineinversetzen.
Frieda
I
August 1907. Vor drei Tagen ist Frieda in Cuxhaven an Bord des Passagierdampfers „President Lincoln“ gegangen. Viele Wochen zuvor hatte sie sich Schiffsfahrpläne für die Reise nach New York besorgt und preisgünstige Angebote in ihr kleines, in Leder gebundenes und mit goldenen Lettern versehenes Taschennotizbuch fein säuberlich eingetragen. Ursprünglich wollte sie sich für einen Platz auf der Holland-Amerika-Linie entscheiden, aber schließlich buchte sie bei der HAPAG einen Platz 2. Klasse für 230 Mark. Sie hätte auch für 160 Mark auf dem Zwischendeck reisen können, wobei sie 70 Mark von ihrem sauer verdienten Geld als Erzieherin eingespart hätte. Aber sie entschied sich gegen das Zwischendeck. Der Grund dafür war weniger dessen spartanische Einrichtung, als vielmehr die Aussicht, zwei Wochen lang mit anderen Passagieren in einem riesigen Schlafsaal, wo Bett an Bett stand, verbringen zu müssen und am Ende der Reise auf Ellis Island in dem weithin bekannten Backsteingebäude mit seinen mächtigen Türmen stundenlang Papiere und Gesundheit überprüfen zu lassen. Der Abschied von ihrer Familie und ihren Freunden war ihr schon schwer genug gefallen.
Bevor die vierundzwanzigjährige Frieda die lange Reise über den Atlantik antrat, besuchte sie für einen Tag Hamburg, das durch seinen Hafen mit den Landungsbrücken, die Kontor- und Bürgerhäuser, die Brücken und Kanäle, edle Geschäfte und Restaurants einen unauslöschlichen Eindruck auf sie machte. Über den kurzen Aufenthalt in dieser Stadt schreibt Frieda in ihr Notizbuch1: „Fast erschrak ich vor dem Glanz und der Fülle der Lichter, den dunkelblauen Gasflammen, die mir entgegen leuchteten. Der Anblick hatte etwas Märchenhaftes. Jungfernstieg. Wer einmal dort war, weiß, was das zu bedeuten hat. Hier wogt das Leben mit ganzer Kraft und riesiger Geschäftstätigkeit. Hier ist der Markt des Lebens mit seinen Licht- und Schattenseiten.
Wenn sich die Letzteren auch erst in den abgelegenen Gassen bemerkbar machen.“ Nachdem Frieda am späten Abend mit uneingeschränktem Vergnügen die Uferpromenade der Binnenalster entlangspaziert war, fand sie eine kleine Pension, wo sie die Nacht bis zu ihrer Abreise verbringen konnte. Sie ging auf ihr Zimmer, öffnete das Fenster und ließ die Sonnenstrahlen herein. Ein sanfter Wind bewegte die Blätter der Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Fröhliche Stimmen drangen von draußen herein. Frieda aber war das Herz schwer, sie hatte Heimweh. Am frühen Morgen des nächsten Tages, es war der 24. 8. 1907, fuhr Frieda mit einem Sonderzug der HAPAG ohne Zwischenaufenthalt von Hamburg nach Cuxhaven und ging dort an Bord des Passagier- und Postdampfers „President Lincoln“, der pünktlich 12.00 Uhr ablegte und seinen Weg über Boulogne-sur-Mer und Southampton nach Amerika nahm. Sie suchte ihre Kabine auf und begegnete dort einer aufgeschlossenen jungen Frau. Wie sich in einem ersten kurzen Gespräch herausstellte, war diese mit ihrer Herrschaft, bei der sie als Kindermädchen arbeitete, unterwegs nach Übersee. Frieda legte ihr Gepäck ab und ließ die junge Frau wissen, dass sie erst einmal aufs Promenadendeck gehen wolle, um frische Luft zu schnappen. Wie verzaubert stand die kleine zarte Frau mit ihren großen braunen Augen und mit ihrem dunkelbraunen Haar an der Reling und schaute aufs Meer. Es war schön in seinem Blau und ruhig. Die Sonne brillierte am Himmel. Die Luft war atemberaubend rein, anders als die in ihrer Heimatstadt Leipzig. Frieda sah hinreißend aus in ihrer weißen Bluse mit an den Achseln gepufften Ärmeln und einem Stehkragen, den eine silberne Brosche schmückte, und in einem eng an den Hüften anliegenden und am Saum schwingenden Rock. Das Haar trug sie nach oben gekämmt und zu einem Dutt zusammengefasst. Frieda genoss die Weite des Meeres, die Leere, den Augenblick der Sorglosigkeit. Alles Traurige in ihr wurde von der gelassenen Stimmung überlagert. Bis dann doch die Erinnerungen an den Abschied von ihrem Zuhause und all die Überlegungen, was ihr das neue Leben wohl bringen würde, die Oberhand gewannen. Hoffnung, Trauer, Ungewissheit, Freude – ein Wirrwarr in ihrem Kopf.
Die „Lincoln“ hatte abgelegt und zog eine vom Kielwasser geformte weiße, glitzernde Spur hinter sich her. Während Frieda ihren Gedanken nachhing, gesellten sich zwei jüngere Männer in dunkelgrauen Anzügen und weißen Hemden mit geöffnetem Kragen zu ihr. „Entschuldigen Sie bitte, wir würden Sie gern mal etwas fragen.“
„Bitte, tun sie das!“, forderte Frieda sie auf.
„Kommen Sie nicht aus Leipzig? Wir glauben, Sie häufiger in der Dreilindenstraße in Lindenau gesehen zu haben.“ Frieda schaute etwas überrascht und sagte dann zögernd: „Das kann stimmen. Ich habe dort bei meinen Eltern gewohnt.“
„Und wir bei unseren Eltern am Lindenauer Markt“, fügten die beiden Herren hinzu.
„Und warum sind Sie an Bord der Lincoln?“, interessierte sich Frieda. Der jüngere Bruder berichtete, dass es für sie beide in Leipzig keine Arbeit mehr gäbe. Der Fabrikherr, bei dem sie in Lohn und Brot waren und recht gut verdient hätten, wäre seine Ware nicht mehr los geworden. Deshalb hätte er sie entlassen müssen, und durchhungern wollten sie sich auch nicht. So sei die Idee geboren worden, das Glück in Amerika zu suchen.
„Wir sind gut ausgebildete Schlosser. Die da drüben werden uns bestimmt brauchen.“ Frieda versuchte, den beiden Mut zu machen. Dann meinte sie: „Auch ich hoffe auf eine Stelle. Ein ehemaliger Arbeitskollege meines Vaters, der vor ein paar Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn nach New York ausgewandert ist, hat mir in einem Brief geschrieben, dass ich als ausgebildete Kindergärtnerin gute Aussichten hätte, eine Stelle zu finden. Er erwartet mich am Übersee-Kai des New Yorker Hafens. Wie es dann weitergeht, das wird sich finden.“ Dann wurden die drei still. Sie schauten auf die riesigen Wogen des Meeres, und ihre Gedanken verloren sich schließlich in der Weite der See. Nach geraumer Zeit stand die junge Frau aus Friedas Kabine neben ihnen. Eine große und hübsche Frau. Sie trug eine taillierte dunkelgrüne Bluse mit Biesen und einen knöchellangen braunen Rock. Auch sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Knoten gesteckt. „Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen gesellen?“, fragte sie etwas schüchtern.
„Aber gern“, antworteten die anderen im Chor.
„Ich bin Margarete und komme aus Dresden.“
„Auch eine Auswanderin?“, wollten die anderen wissen.
„In Dresden habe ich als Kindermädchen gearbeitet, und jetzt bin ich mit meiner Herrschaft, einem Arztehepaar, nach New York unterwegs. Die Herrschaften reisen erster Klasse, und ich zweiter Klasse, genauso wie Frieda“, erklärte sie. Kaum hatten sich dann auch die anderen Margarete kurz vorgestellt, kam ein mächtiger Sturm auf. Das Meer schlug hohe Wellen, die sich an den Flanken der „Lincoln“ brachen. „Kommt in den Rauchsalon“, rief Frieda, „dort können wir uns weiter unterhalten.“ Die vier flüchteten in den als Rauchsalon bezeichneten Aufenthaltsraum, wo schon andere Passagiere saßen und Bridge, Poker, Domino, Dame oder Schach spielten, etwas in ihr Notizbuch eintrugen und dabei Gin, Whisky oder Cocktails tranken. Die vier jungen Leute nahmen in einer Sitzecke Platz, die durch eine Holzbrüstung abgeteilt und mit lederbezogenen Bänken und einem Tisch ausgestattet war, und begannen erneut, über ihre Zukunft zu sprechen und sich vorzustellen, was sie auf der anderen Seite des großen Wassers erwarten würde. Dabei schwangen Freude und Neugier mit, aber gleichzeitig auch eine gewisse Furcht vor der Neuen Welt. Können wir dort unser Leben meistern? Können wir in New York heimisch werden? „Ich kenne mich in New York überhaupt nicht aus und spreche doch kein Englisch“, äußerte Frieda mit Bedenken. „Denkst du etwa, uns geht es anders?“ meinten die beiden Brüder. „Aber wir sind doch jung und können noch schnell lernen. Und ein bisschen Abenteuer muss sein. Wichtig ist, dass wir Arbeit finden.“
Nach etwa zwei Stunden beschlossen Frieda und Margarete, ihre Kabine aufzusuchen. Mit den jungen Männern vereinbarten sie, sich mit ihnen am Abend im Gesellschaftszimmer zu treffen. Dort sollten ein Konzert und anschließend ein Ball stattfinden. Als Frieda und Margarete in ihre Kabine kamen, legten sie sich erst einmal auf ihrer Betten, um sich etwas auszuruhen. Es dauerte aber gar nicht lange, da begannen sie zu erzählen. Vor allem Frieda, die allein reiste und für ihr neues Leben viel zu bedenken hatte, lief der Mund über. Auf diese Weise erfuhr Margarete viel über sie. Und auch dann, wenn sie sich mit den anderen, den beiden „Jungs“ und Margarete, im Speisesaal an einen der blütenweiß gedeckten Tische setzte oder sich mit ihnen im Aufenthaltsraum oder auf dem Promenadendeck traf, erzählte sie über ihr bisheriges Leben. Und erzählen konnte Frieda hervorragend.
KLEID UM 1900
II
Bei Friedas Geburt im April 1884 lebten ihre Eltern Ida und Karl Michaelis und ihr zweijähriger Bruder Paul in einem Mehrfamilienhaus in der Leipziger Braustraße. Friedas Vater stammte aus der Familie eines Gärtners in der Magdeburger Börde. Er wurde aber nicht, wie man annehmen könnte, in diesem fruchtbaren Landstrich geboren, sondern in Sielec, in der preußischen Provinz Posen. Das lag daran, dass früher der Erstgeborene einer Familie das Unternehmen des Vaters erbte. Friedas Großvater Wilhelm aber war der Zweitgeborene. Deshalb ging er leer aus und musste sich, als er im arbeitsfähigen Alter war, anderswo als in der elterlichen Gärtnerei Arbeit suchen. Da erfuhr Friedas Großvater durch Zufall von einer freien Stelle als Schlossgärtner in der Provinz Posen, und so kam er auf das Gut der Herrschaft von Sielec. Dort lernte er auch seine spätere Frau Johanna kennen. Aus dieser Ehe stammen Friedas Vater Karl, seine Brüder Albert und Oskar und seine Schwester Helene. Das Schicksal wollte es, dass Johanna, Karls Mutter, eines Tages auf tragische Weise ums Leben kam. Sie bereitete gerade zusammen mit ihm das Mittagessen vor, als mit einem Mal in ihrer unmittelbaren Nähe der Spirituskocher explodierte. Karls Mutter erlitt dabei so schwere Verbrennungen, dass sie an deren Folgen starb. Niemand konnte ihr mehr helfen. Auch der kleine Karl, Friedas späterer Vater, trug schwere Brandwunden davon, die ihn monatelang das Bett hüten ließen. Die Narben auf seiner Brust und seinem Rücken blieben ihm bis ins hohe Alter. Karls Vater Wilhelm musste sich nach dem Tode seiner Frau Johanna mit den Kindern allein durchschlagen. Mit großer Freude beobachtete er, dass sich sein Sohn Karl sehr für die Blumen, Sträucher und Bäume im Schlosspark interessierte und vor allem für die Vögel, die dort ihre Nester bauten, brüteten und ihre Jungen aufzogen. Und so schwebte ihm vor, dass ihn Karl später einmal in der Schlossgärtnerei beim Beschneiden der Hecken, der Pflege der Pflanzen, beim Rasenmähen, dem Einbringen der Ernte und bei Handwerksarbeiten wie dem Ersetzen von alten Zäunen, dem Reparieren von Schlössern und anderen Dingen unterstützen könnte. Aber die Träume der Eltern sind das eine. Die Kinder machen letztendlich doch, was sie für richtig halten. So glaubte Friedas Vater Karl, für den Beruf des Gärtners völlig ungeeignet zu sein und beschloss, sich als Kunstschlosser ausbilden zu lassen. Schon nach den ersten Monaten seiner Lehre war er überzeugt, dass er sich richtig entschieden hatte. Ihm gefiel an diesem Beruf vor allem, dass man die handwerkliche Arbeit mit der künstlerischen gut verbinden kann. Etwas selbst zu entwerfen und dann in der Werkstatt das Stück zu fertigen, das fand er wunderbar. Nach der Gesellenprüfung verließ Karl seinen Geburtsort Sielec und ging auf Wanderschaft, die ihn eines Tages auch nach Leipzig führte.
Karls Schwester hatte es noch unvergleichlich weiter von Sielec weggeführt. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn verließ sie die preußische Provinz und wanderte nach Amerika aus. Auch Karls Bruder Albert zog es mit seiner Frau in die Neue Welt. Alles fleißige Leute, die dem sauren Leben in ihrer Heimat entfliehen wollten und sich in Amerika ein besseres Leben versprachen. Mit ihnen wanderten, wie bekannt, auch Menschen aus, die politisch verfolgt wurden, insbesondere von 1878 bis 1890. Das war die Zeit des Sozialistengesetzes. Das Gesetz, vom Reichstag verabschiedet und von Kaiser Wilhelm I. unterzeichnet, verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen. Unter den Auswanderern gab es aber auch Leute, die aus anderen Gründen „über den Teich“ wollten. Sie galten als nicht ganz unbescholten. Oft entledigten sich Familien ihrer „schwarzen Schafe“, indem sie ihnen eine Passage nach Amerika ermöglichten. So soll unter denen auch ein Neffe von Friedas Großvater Wilhelm gewesen sein, der Sohn von Danzigs Bürgermeister. Er habe nichts getaugt und hätte der Familie Schande gebracht, wusste Frieda von ihrer Familie.
Karl also ging auf Wanderschaft und kam, wie bereits erwähnt, dabei auch nach Leipzig. Er suchte sich im Osten der Stadt ein möbliertes Zimmer und in einer Fahrradfabrik eine Stelle als Schlosser. Im August 1879 heiratete Karl Ida Eckert und bekam mit ihr drei Kinder. Zuerst wurde Sohn Paul geboren, dann kamen die Töchter Frieda und Anna auf die Welt. Nun war Karl der einzige Verdiener von fünf Personen. Da reichte das Geld hinten und vorn nicht. Ida begann für eine Spitzenfabrik Heimarbeiten zu übernehmen, um die Familienkasse aufzubessern. Aber der Lohn war so gering, dass damit auch nur wenige Löcher gestopft werden konnten. Ganz unerträglich wurde die Situation, wenn Vater Karl mit der Arbeit aussetzen musste, weil der Fabrikherr nicht mehr wusste, wohin mit der produzierten Ware. Dann herrschte Ebbe im Geldbeutel der Familie Michaelis, und das brachte schließlich den Vater auf die Idee, sein Wissen aus der Fahrradfabrik zu nutzen und Velozipeds in eigener Regie zu bauen. Dafür benötigte er allerdings eine Drehbank. Karl beriet mit seiner Frau, sich das Geld dafür bei ihren Verwandten zu borgen. Daraufhin schrieb Ida an ihre Eltern und an eine Tante in Lichtenstein im Erzgebirge:
„Ihr Lieben, unsere Familie kommt aus den Sorgen nicht heraus. Wieder bin ich von einem toten Kind, einem Jungen, entbunden worden. Auch ich war in Gefahr. Und nach der Entbindung konnte ich mich nicht schonen. Das ist schlimm, denn wir müssen noch die Hebamme und den Arzt bezahlen. Und das Logis kostet 6 Taler. Also wenig Verdienst und hohe Kosten. Hinzu kam, dass Paul die Masern hatte und Frieda Scharlach. Karl arbeitet in einer Fahrradfabrik. Jetzt muss er 14 Tage aussetzen, weil der Fabrikherr ein volles Lager hat und die Ware nicht loskriegt. Karl will nun selbst Velozipeds bauen, damit Geld reinkommt. Dazu benötigt er eine Drehbank, die sehr teuer ist. Sie kostet 100 Taler. Könnt ihr uns etwas Geld borgen? Wir zahlen es zurück. Wir denken, dass Karl bald wieder arbeiten kann. Außerdem sieht er sich nach einer anderen Stelle um. Und in 2 Wochen werden wir 1 Stube an zwei Schlafburschen vermieten. Ich habe mir Arbeit aus der Spitzenfabrik geholt und schneide Kleiderspitze. Es grüßen euch Karl, Ida und die Kinder.“
Von ihren Sorgen ließen Ida und Karl die Kinder so wenig wie möglich spüren. Tag für Tag bemühten sie sich, ihnen Geborgenheit zu geben. Vater Karl baute für Paul ein Puppentheater und kaufte einen Steinbaukasten. Beides, so meinte er, lehre nachzudenken und bilde den Geist des Jungen. Für Töchterchen Frieda bastelte er einen Puppenwagen und eine Puppenküche mit Herd. Und dann hielten er und seine Frau noch besondere Schätze in einem kleinen Schrank mit Glastüren bereit: Bücher, darunter Grimms Märchen, Andersens Märchen, ein großes Lexikon. Als Mitglied des Leipziger Arbeiterbildungsvereins durften bei Karl auch Werke beispielsweise von Heine und Goethe nicht fehlen. Karl und Ida schickten ihre Kinder mit diesen Büchern auf Entdeckungs- und Bildungsreisen. Zuerst lasen sie ihnen aus diesen vor, bis diese später selbst darin schmökern konnten. In der Wohnstube stand ein Terrarium mit Feuersalamandern im schwarzen Frack mit gelben Zeichen. Den Kindern bereitete es großen Spaß, sie zu beobachten und selbst gesammelte Regenwürmer und Nacktschnecken an sie zu verfüttern. Im Hof des Hauses, in dem die Michaelis wohnten und das von viel Grün umgeben war, hatte Karl eine Vogelhecke angelegt und darin Nistkästen angebracht. Gemeinsam mit seinen Kindern beobachtete er, wie dort Sperling und Blaumeise ihre Nester bauten und später ihre Jungen versorgten. In einer Voliere züchtete Karl Vögel, vor allem Stieglitze, die er für ein Zubrot verkaufte. Später zog er auch „Harzer Roller“ (Gesangskanarienvögel) auf, um damit das Studium seiner Söhne zu finanzieren.
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