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Irene Dorfner
Die Jagd nach dem Serum
Leo Schwartz ... und die Schatten der Vergangenheit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
VORWORT
ANMERKUNG:
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Liebe Leser!
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Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:
Über die Autorin Irene Dorfner:
Impressum neobooks
Impressum
Copyright © 2016 Irene Dorfner
2. Auflage 2017 © Irene Dorfner
3. überarbeiteteAuflage 2021 –
© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting
www.irene-dorfner.com
All rights reserved
Cover-Design: Vanja Zaric, D-84503 Altötting
Lektorat: FTD-Script Altötting
Earl und Marlies Heidmann, Spalt
VORWORT
„Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“
Mahatma Gandhi (1869-1948),
indischer Revolutionär
Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des 19. Falles mit Leo Schwartz & Co.!!
Liebe Grüße aus Altötting
Irene Dorfner
ANMERKUNG:
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
…und jetzt geht es auch schon los:
1.
Ende April 1945
„Peenemünde wird in Kürze angegriffen,“ las der junge Gefreite von der eben erhaltenen Nachricht ab.
Die Männer reagierten gelassen. In den letzten Wochen wurden vermehrt Angriffe gemeldet, die dann aber meist ausblieben.
„Danke,“ sagte einer der Männer und der Gefreite verschwand. Alle hatten die Angst in seinen Augen gesehen. Wie alt er wohl war? Ganz sicher noch keine zwanzig.
„Sollten wir das nicht ernst nehmen?“ Der Obergefreite Sebastian Demmelhuber war irritiert über die lässige Nonchalance, mit der mit dieser für ihn brisanten Nachricht umgegangen wurde.
„Sie sind erst wenige Stunden hier, Demmelhuber. Was glauben Sie, wie viele Fehlalarme wir schon hatten? Die Alliierten machen sich einen Spaß daraus, uns zu erschrecken. Bleiben Sie locker, Demmelhuber. Selbst wenn die Nachricht stimmen sollte, brechen wir nicht in Panik aus. Was glauben Sie, wie oft wir schon bombardiert wurden? Unzählige Male. Seit dem ersten Angriff der Engländer am 17. und 18. August 1943 haben wir die Produktionsstätte unterirdisch verlegt. Sicher sind wir als Heeresversuchsanstalt immer noch Ziel der Angriffe und uns könnte großer Schaden entstehen. Aber die wichtigen Entwicklungen und Produktionen finden alle unterirdisch statt und dort können die Bomben der Alliierten nichts anrichten. Sollten wir tatsächlich angegriffen werden, sind wir schnell in den Luftschutzbunkern, die es hier zu Hauf gibt. In Ihrer Unterkunft liegt ein Lageplan bereit, damit Sie für den Ernstfall gewappnet sind.“ Leutnant Mooser sprach sehr ruhig und bestimmt, obwohl ihm die Ängste der Neulinge auf die Nerven gingen. Aber auch er hatte schließlich irgendwann angefangen und konnte die Gefühle Demmelhubers nachvollziehen.
„Sollten wir nicht wenigstens Dornberger oder von Braun benachrichtigen?“ Demmelhuber gab nicht auf. Hier stand sehr viel auf dem Spiel. Er war vom Oberkommando des Heeres extra nach Peenemünde gesandt worden, um die Arbeiten an der neuen Bombe voranzutreiben. Außerdem hatte er das Serum dabei, das für die Produktion von enormer Wichtigkeit war und welches unter Hochdruck hergestellt wurde. Die Arbeiten an der Produktionsstätte „Weingut I“ bei Mühldorf am Inn kamen gut voran. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dort endlich mit der Produktion der Messerschmitt Me262 begonnen werden konnte. Mit diesem Flugzeug und der neuen Bombe könnte man den Krieg noch gewinnen. Die Alliierten hätten mit dieser neuen Erfindung keine Chance mehr. Demmelhuber war überzeugt davon und hatte sein Leben riskiert, um die Pläne und das Serum nach Peenemünde zu den Verantwortlichen zu bringen. Nichts durfte dieses Vorhaben behindern.
„Nein, wir werden von Braun und Dornberger nicht damit belästigen,“ sagte Mooser bestimmt und widmete sich wieder den auf dem Tisch ausgebreiteten Plänen.
„Wie stellen die da oben sich das vor? Es herrscht Materialknappheit und wir haben mit unseren laufenden Produktionen schon große Schwierigkeiten. Woher sollen wir das Material für diese zusätzliche Aufgabe nehmen?“ Mooser war genervt von den ständigen Forderungen, die sich in den letzten Monaten mehrten. Er war kein Zauberer und konnte unmöglich die Mengen an Material für diese neue Bombe beschaffen. Überall herrschte Chaos und man konnte spüren, dass es zu Ende ging. Einen Sieg des Deutschen Reiches hielt er bis gestern nicht mehr für möglich. Aber mit dieser neuen Bombe gab es noch den Hauch einer Chance, so barbarisch sie sich auch anhörte. Sie mussten handeln, und zwar so schnell wie möglich. Irgendwie musste er es schaffen, das Material dafür zu organisieren. Er musste Wernher von Braun von dem Befehl unterrichten. Wie würde er darauf reagieren? Ganz sicher war er gegen eine Produktionsumstellung, aber der Befehl war eindeutig. Sollte er ihm die Wahrheit sagen? Nein. Von Braun war für diese Bombe sicher nicht zu haben, das wusste Mooser, schließlich kannten die beiden sich schon seit vielen Jahren. Das Deutsche Reich brauchte diese Bombe, und zwar so schnell wie möglich. Sollte man den Gerüchten glauben, dann war der Feind weiter vorgerückt, als allgemein bekannt war. Wieder und wieder studierte Mooser die Pläne. „Zeigen Sie mir den Stoff,“ forderte er Demmelhuber auf.
Der zögerte, denn den Behälter mit der farblosen Flüssigkeit behandelte er wie ein rohes Ei. Aber Mooser bestand darauf und es blieb ihm nichts Anderes übrig, als ihn ihm zu geben. Vorsichtig zog er den Lederbehälter aus der Tasche, woraufhin alle sofort einen Schritt zurücktraten. Langsam wickelte Demmelhuber den Glasbehälter aus mehreren Stofftüchern und gab ihn Mooser.
„Das ist alles? Das bisschen soll ausreichen?“
„Natürlich nicht. In meinem Wagen befinden sich noch weitere Ampullen mit weit größerem Inhalt. Dieses Teil hier,“ und dabei zeigte er auf den Plan, “ist kein Bauteil. Dieses wird durch einen eigens dafür vorgesehenen Glasbehälter ersetzt, dessen Plan Ihnen vorliegt.“
Mooser studierte erneut den Plan. Tatsächlich! Hier inmitten der Sprengladung soll ein kleiner Glasbehälter mit wenigen Tropfen platziert werden. Allein die Menge, die er in Händen hielt, reichte für viele Bomben aus.
Demmelhuber begann zu schwitzen, denn wenn Mooser den Glasbehälter fallen ließ, wären sie alle infiziert und damit dem Tode geweiht. Bei jeder unbedachten Handbewegung Moosers stöhnte nicht nur Demmelhuber, sondern auch alle anderen auf.
„Man sollte die Kiste aus meinem Wagen so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.“
„Ich kümmere mich darum,“ sagte Mooser und hielt den Glasbehälter ins Licht.
„Man sollte sich damit beeilen. Wie wir eben vernommen haben, droht ein Angriff der Alliierten. Ich bitte Sie inständig,…“ flehte Demmelhuber.
„Ich sagte doch, dass ich mich darum kümmern werde!“, sagte Mooser unfreundlich. Er war Widerworte nicht gewohnt und mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte. Vor allem nicht von einem Untergebenen.
Demmelhuber hielt sich zurück. Er war die ganze Nacht gefahren und hatte sich durch nichts aufhalten lassen. Dieses Serum war unter strengster Geheimhaltung im KZ Sachsenhausen produziert worden und konnte dort nur an einzelnen Probanden getestet werden. Die waren sofort tot gewesen. Für weitere Tests war keine Zeit mehr. Alle Hoffnungen lagen auf dieser Bombe, die schnellstmöglich gebaut werden musste.
Mooser betrachtete den Glasbehälter lange von allen Seiten. Am liebsten hätte er es vor einer kompletten Produktionsumstellung ausgiebig getestet, aber dafür hatte er keine Genehmigung. Der Befehl war unmissverständlich.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Wernher von Braun trat ein. Ehrfürchtig verbeugte sich Demmelhuber, er war ein großer Bewunderer des Mannes. Für ihn war er ein Genie, ein Idol. Bis jetzt kannte er ihn nur von Fotografien und aus Bildern der Wochenschau, aber jetzt stand er leibhaftig vor ihm. Vergessen waren die Ängste vor einem Angriff der Alliierten. Allerdings hatte er auch den Glasbehälter vergessen, von dem von Braun nichts wissen durfte. Mooser reagierte umgehend und steckte ihn in seine Jackentasche. Wohlwissend, dass das bei einem Leck seinen sofortigen Tod und den Tod vieler in Peenemünde bedeutete.
Wernher von Braun sprach nicht viel. Mooser übergab ihm mit einer tiefen Verbeugung den Befehl, den von Braun wütend las. Dann sah er sich die Pläne an. Würde er das Bauteil entdecken, das eigentlich keinen Sinn machte? Der Plan war relativ klein gehalten, wodurch dieses Bauteil in der Menge unterging. An von Brauns Wangenknochen konnte man sehen, dass er mit dieser Bombe nicht einverstanden war.
„Wir könnten in wenigen Tagen mit der Produktion der Bomben anfangen,“ sagte Mooser. „Ihnen ist klar, dass wir dafür das Arbeitslager Dora brauchen?“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage,“ rief von Braun verärgert. „In Dora werden nur A4 gebaut, sonst nichts. Das habe ich mit Speer abgesprochen und er hat mir eine ungestörte Produktion zugesichert. Suchen Sie sich für die Produktion der N1-Bombe eine andere Produktionsstätte.“
Jetzt kam Demmelhuber ins Spiel, der sofort eine Akte aus seiner Tasche zog.
„Das soll ich Ihnen geben,“ sagte er zu Wernher von Braun.
Widerwillig las von Braun die Anweisung des Oberkommandos des Heeres, die persönlich an ihn gerichtet war. Wütend warf er die Akte auf den Tisch.
„Jeden Tag gibt es neue Anweisungen, die sich nicht selten widersprechen. Wissen die da oben überhaupt noch, was sie wollen? Dora muss sich auf die Produktion der A4 konzentrieren. Wenn wir diese unterbrechen, wirft uns das Monate zurück. Das können wir uns nicht leisten. Die Alliierten stehen vor der Tür. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann es mit dem Deutschen Reich zu Ende geht. Nur noch mit der A4 können wir den Gegner empfindlich treffen. Wenn wir mehr Zeit hätten, können wir es schaffen, diese zu perfektionieren und damit den Gegner zu schlagen.“
Alle waren von dem Erfindungsgeist, der Begeisterung und den Entwicklungen von Brauns begeistert und überzeugt. Allerdings waren die Ergebnisse der Angriffe der A4 nicht so, wie ursprünglich erwartet und versprochen.
„Die A4 ist zu ungenau,“ sagte Mooser.
„Das weiß ich auch. Wir arbeiten daran und brauchen mehr Zeit.“
Mit der Aggregat 4, kurz A4, konnte man eine Tonne Sprengstoff ans Ziel bringen. Sie hatte eine enorme Reichweite und eine sehr hohe Geschwindigkeit. Allerdings war die Zielgenauigkeit sehr gering und richtete hauptsächlich in der Zivilbevölkerung großen Schaden an. Aber daran arbeiteten von Braun und seine fähigsten Mitarbeiter. Er brauchte mehr Zeit und mehr Geld. Beides hatte er nicht.
„Die Produktion der N1-Bombe geht vor. Sie haben den Befehl selbst gelesen,“ sagte Mooser, der von dieser neuen Erfindung überzeugt war. Außerdem saß ihm sein Vorgesetzter im Nacken, der keine Widerrede zuließ.
„Es ist überall bekannt, dass die N1-Entwicklung noch nicht ausgereift ist. Das hier ist nur ein Vorentwurf. Wir konnten noch keinen einzigen Test vornehmen. Wir wissen noch nicht einmal, ob und wie die Bombe funktioniert.“
„Trotzdem wird die N1 gebaut. Und zwar in Dora.“
„Und mit was soll die N1 abgeworfen werden? Dafür braucht man ein wendiges Flugzeug, und zwar in großer Stückzahl. Meines Wissens nach sieht es mit der Luftwaffe sehr dürftig aus. Der Mangel an Flugzeugen und an Treibstoff ist doch bekannt.“
„Die Produktion der Me262 läuft auf Hochtouren. An einer neuen Produktionsstätte wird gebaut. In drei bis vier Monaten sind genügend Flugzeuge einsatzfähig,“ sagte Demmelhuber, der von dieser Aussage überzeugt war. Warum auch nicht? Nur mit dieser Maschine funktioniert die Bombe einwandfrei.
„Sind Sie sicher? Sie sprechen von dem neuen Werk im bayerischen Mühldorf? Soweit ich informiert bin, steht das Werk noch nicht einmal. Es wird Monate dauern, bis man dort mit dem Bau der Me262 beginnen kann. Sauckel hat vor Monaten versprochen, täglich bis zu eintausend Maschinen in seiner unterirdischen Anlage zu bauen. Und wie viele hat er bisher geliefert? Nur einen Bruchteil davon. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass die Me262 ein reines Jagdflugzeug und kein Bomber ist. Das habe ich auch zu Speer gesagt, der mir sofort zustimmte. Aber der redet dem Führer nach dem Mund und traut sich nicht, ihm zu widersprechen.“
„Die Baumaßnahmen im Mühldorfer Hart sind bereits weit fortgeschritten. Der Bunker für den Bau der Me262 wird rechtzeitig fertig werden,“ wiederholte Demmelhuber. Er hatte die Pläne im riesigen Waldstück bei Mühldorf selbst gesehen und glaubte an den Erfolg.
„Nein, das wird er nicht! Und wir alle wissen das. Selbst wenn genügend Flugzeuge vorhanden wären, besteht immer noch das Treibstoffproblem. Womit sollen die Flugzeuge betankt werden? Außerdem ist doch hinlänglich bekannt, dass Ersatzteile und vor allem ausgebildete Piloten fehlen. Wer soll diese Maschinen fliegen? Bis genügend Me262 und die dazugehörigen Piloten zur Verfügung stehen, sollten wir uns auf die Produktion der A4 konzentrieren. Alles andere wäre Wahnsinn.“
Mooser schüttelte den Kopf.
„Die Entscheidung steht fest, darüber zu diskutieren ist zwecklos. Die Produktion der A4 wird unterbrochen. Stattdessen wird die N1 produziert. Die Umstellung muss so schnell wie möglich vonstattengehen.“
Wütend ging von Braun ans Telefon. Es folgte eine lautstarke Auseinandersetzung, die er offensichtlich verlor. Er legte wütend auf und wählte eine weitere Nummer.
„Ab nächste Woche Montag wird die N1 in Dora gebaut,“ wies von Braun an. „Ja, ich weiß, dass das Schwachsinn ist, aber die Anweisung kommt von oben. Ich fahre nach Berlin und spreche mit Speer, vielleicht kann ich ihn doch noch umstimmen. Sobald ich einen anderslautenden Befehl bekomme, melde ich mich umgehend. Bis dahin gilt der aktuelle Befehl, die N1 zu bauen. Kümmern Sie sich darum.“
Von Braun stürmte wütend aus dem Zimmer. Alle sahen vom Fenster aus zu, wie er davonfuhr. Von Braun wollte nach Berlin und die Oberste Heeresleitung umstimmen. Ob ihm das gelang? Mooser selbst hatte dem Befehl zunächst widersprochen und biss auf Granit. Alle Hoffnung lag auf der konzentrierten Produktion der Me262 und dieser Bombe, um deren Produktion er sich nun kümmern musste.
Mooser übergab Demmelhuber das Serum. Alle Umstehenden waren erleichtert, als sie zusahen, wie der Glasbehälter behutsam eingewickelt wurde und im Lederetui verschwand.
„Vergessen Sie bitte nicht das Serum im Fahrzeug,“ wiederholte Demmelhuber.
„Sie gehen mir mächtig auf die Nerven! Ich sagte bereits mehrfach, dass ich mich darum kümmere,“ schrie Mooser wütend.
Sebastian Demmelhuber wurde ein kleines Zimmer in der Mannschaftsunterkunft zugeteilt. Die Einrichtung war spartanisch, aber ausreichend. Sein Aufenthalt in Peenemünde war aufregend. Alles war aufregend, seit er von der russischen Front zurückbeordert wurde. Das war sein großes Glück gewesen, denn die Lage dort war katastrophal. Er hatte viele seiner Kameraden sterben sehen und noch niemals vorher hatte er so großen Hunger verspürt. Die Brutalität einiger Kameraden hatte ihn anfangs erschreckt und er hatte mehrere Meldungen gemacht, die alle ins Leere liefen. Je größer seine eigene Verzweiflung und Not war, desto mehr sank auch seine eigene Hemmschwelle, wofür er sich heute schämte. Ob das an dem Pervitin lag, das an alle Kameraden ausgegeben wurde? Möglich. Durch dieses Medikament war das Leben als Soldat leichter. Pervitin wurde Panzerschokolade, Stuka-Tabletten, Hermann-Göring-Pillen oder Fliegermarzipan genannt. Das Mittel diente zur Dämpfung des Angstgefühls, sowie zur Steigerung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit und war bei allen Soldaten, Piloten und Fahrzeugführern beliebt. Es ging das Gerücht um, dass man davon abhängig oder gar krank werden konnte, aber das interessierte kaum jemanden. Mit Pervitin war das Leben als Soldat leichter und nur das zählte.
Aber das lag hinter Sebastian Demmelhuber. Er war jetzt hier in Peenemünde und konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Bei einem Einsatz an der russischen Front hatte er großen Mut bewiesen und acht Kameraden in Sicherheit gebracht, wofür er die Tapferkeitsmedaille verliehen bekam, die er mit Stolz trug. Das hatte großen Eindruck auf seinen Vorgesetzten von Michel gemacht, der ihn lobend erwähnte. Das war seine Fahrkarte für diesen Einsatz gewesen. Wäre er damals nicht so mutig gewesen, wäre er vermutlich längst tot. Nachts verfolgten ihn schreckliche Bilder, weshalb er nicht mehr gerne schlief. Er hoffte inständig, dass er irgendwann mit den Bildern leben konnte. Jetzt war nicht der Moment, sich Gedanken darüber zu machen. Seine Aufgabe in Peenemünde war sehr wichtig. Er hatte die endgültigen Pläne überbracht und hatte das Wundermittel dabei, womit die neue Bombe bestückt werden sollte. Nur Mooser und drei seiner engsten Mitarbeiter wussten davon, und dabei sollte es auch bleiben. Die neue N1-Bombe unterlag strengster Geheimhaltung. Das war die große Hoffnung, auf die die deutsche Führung baute. Der Bau des Bunkergeländes mit dem Decknamen „Weingut I“ bei Mühldorf lief auf Hochtouren und war für Demmelhuber persönlich jetzt schon ein Erfolg. Nicht mehr lange, und er konnte wieder bei seiner Familie leben, denn er selbst wurde in Mühldorf geboren und wuchs dort auf. Vor zwei Jahren hatte er geheiratet, seine Tochter wurde letztes Jahr geboren. Er kannte die kleine Erika nur von Bildern, die ihm seine Frau an die Front geschickt hatte. In zwei Wochen konnte er sie endlich sehen, sie fühlen, riechen und endlich ein Vater für sie sein. Wie würde er seiner Frau begegnen, die er kaum kannte? War die Zuneigung noch so groß, dass sie es schaffen würden, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Ganz sicher. Warum nicht?
Durch das plötzliche Aufheulen der Sirenen erschrak er. Ein Luftangriff! Wo war der nächste Luftschutzbunker? Hektisch suchte er in seinem Zimmer nach dem Plan, den Mooser erwähnt hatte. Aber er fand keinen. Er musste raus hier, und zwar so schnell wie möglich. Er nahm seine Tasche mitsamt dem Serum und der dazugehörigen Anleitung; er orientierte sich an den anderen, die in eine Richtung liefen. Die ersten Bomben fielen. Eine Druckwelle riss ihn zu Boden. Er rappelte sich auf und fiel gleich darauf wieder hin. Um ihn herum herrschte Chaos. Der beißende Qualm nahm ihm die Luft. Der Wagen! Hatte Mooser Wort gehalten? War die Kiste mit den Ampullen in Sicherheit gebracht worden? Er vergaß seinen persönlichen Schutz und suchte nach seinem Wagen. Hier hatte er den Wagen abgestellt, ganz sicher. Aber wo war er? Hektisch suchte er das ganze Areal ab, wobei er die Bomben der Tiefflieger nicht mehr wahrnahm. Auf dem Boden lag ein Stück Holz, das eindeutig von seiner Kiste stammte. Verdammt! Mooser hatte sein Wort nicht gehalten. Dann entdeckte er das Wrack seines Wagens, von dem nicht mehr viel übrig war. Sofort hielt er sich ein Tuch vors Gesicht, er durfte die Luft nicht einatmen, das würde seinen Tod bedeuten.
Seine Gedanken galten nur dem Schutz des Serums, das sich zusammen mit einer Liste der Inhaltsstoffe in seiner Tasche befand. Als der Jude Schönfeld im KZ Sachsenhausen das Serum endlich fertiggestellt hatte, jagte er das Labor in die Luft, wobei auch Schönfeld ums Leben kam. Nur dieses Muster, die Liste der Inhaltsstoffe und die Ampullen konnten gerettet werden. Und jetzt gab es nur noch die klägliche Menge in seiner Tasche. Wie viele Bomben konnten mit dem Rest bestückt werden? Es war klar, dass das viel zu wenig sein würde. Gab es die Möglichkeit, anhand der Liste der Inhaltsstoffe die genaue Zusammensetzung herzuleiten? Ganz sicher konnte man das. Demmelhuber umklammerte die Tasche. Um ihn herum brannte es und der Qualm nahm ihm die Sicht. Wo waren die anderen? Er war auf sich allein gestellt und beschloss, einfach loszulaufen. Wohin er lief, wusste er nicht. Er wollte nur weg. Er nahm wahr, dass die Flugzeuge in Scharen über Peenemünde flogen, der Lärm war ohrenbetäubend. Die Detonationen wurden nicht weniger. Demmelhuber rannte um sein Leben, wobei er mehrmals nur knapp dem Tode entkam. Leichen und Leichenteile säumten seinen Weg, Verwundete riefen um Hilfe. Er konnte nicht helfen, er musste sich und den brisanten Inhalt in seiner Tasche aus der Gefahrenzone bringen. Die Augen der Verwundeten sahen ihn flehend an, aber er musste sie ignorieren. Auch diese Bilder würden ihn in den Nächten nicht mehr in Ruhe lassen. Er rannte unvermittelt weiter, seine Aufgabe war zu wichtig. Nach zwei Stunden hatte er es geschafft, er war aus der Gefahrenzone. War er das wirklich? Wie viel hatte er von dem Serum abbekommen? Welche Auswirkungen hatte es? Das war Demmelhuber im Moment gleichgültig. Jetzt galt es, den Inhalt seiner Tasche so schnell wie möglich nach Mühldorf zu bringen. Dort würde man sicher wissen, was zu tun war.
Sebastian Demmelhuber war längst im Fokus der Alliierten. Vor allem die Engländer machten Jagd auf ihn. Als klar war, dass er sich in Peenemünde aufhielt, mussten sie ihn unbedingt stoppen. Auch deshalb wurden die Luftangriffe verstärkt. Als die Angriffswelle vorbei war, brauchten britische Agenten zwei Tage um festzustellen, dass Demmelhuber nicht unter den Opfern war. Er war ihnen entwischt.
Drei Tage später war Demmelhuber endlich in Mühldorf angekommen. Die Reise von Peenemünde bis hierher war ein Abenteuer gewesen. Nur mit viel Mühe konnte er einen Wagen beschaffen, wobei der Sprit sehr viel schwieriger zur organisieren war. Viele Brücken und Straßen waren unpassierbar gewesen, wodurch er große Umwege in Kauf nehmen musste. Trotzdem hatte er es geschafft. Die Fahrt durch Mühldorf erfüllte ihn mit einem wohligen Gefühl. Hier vorn war er zur Schule gegangen, dort wohnten seine Großeltern. Es hatte sich in den zwei Jahren, seit er fort war, nicht viel verändert. Dort hinten, nur vier Straßen weiter, lebten seine Frau und seine kleine Tochter. Wie gerne wäre er zuerst nach Hause gefahren, aber das durfte er nicht. Er musste das Serum und die Papiere dem Kommandanten im Mühldorfer Hart übergeben, der dann die weiteren Schritte veranlassen würde.
Sein Husten wurde stärker, er hatte Probleme beim Atmen. Er bremste an der Hauptstraße und ließ eine Kolonne Wehrmachtsfahrzeuge passieren. Er betrachtete sein Gesicht im schmutzigen Rückspiegel. Was war das für ein entsetzlicher Ausschlag?
Als er im Mühldorfer Hart eintraf, blickte er sich erschrocken um. Das war alles, was bisher gebaut wurde? Die Anlage befand sich noch mitten im Bau und nichts deutete darauf hin, dass hier in Kürze Flugzeuge gebaut werden konnten. Nur sieben der zwölf geplanten Außengewölbe waren bisher fertig. Noch bevor Demmelhuber mit einem Verantwortlichen sprechen konnte, fuhren mehrere Lkw vor. Es folgte eine hektische Betriebsamkeit, die er nicht verstand.
„Was ist hier los?“, fragte er einen Gefreiten.
„Die Amerikaner sind nicht mehr weit weg. Hier wird alles evakuiert.“
„Und was ist mit der Produktionsstätte? Was ist mit der Me262?“
„Hast du es immer noch nicht verstanden? Der Krieg ist vorbei! Sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst!“
Demmelhuber konnte es nicht fassen. War wirklich alles zu spät? Gab es für das Deutsche Reich keine Hoffnung mehr? Was würde werden? Ging jetzt alles in Feindeshand über? Nein! Das konnte und durfte nicht sein! Die vielen Opfer konnten nicht umsonst gewesen sein. Er suchte nach einem Verantwortlichen, um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Die Me262 musste gebaut werden, er hatte doch das Serum und die Liste mit den Inhaltsstoffen! Für einen Mann mit chemischen Fachkenntnissen dürfte die Herstellung des Serums eine Kleinigkeit sein.
Niemand wollte mit ihm sprechen, alle wimmelten ihn ab. Er fand ein Telefon und brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich eine Verbindung nach Berlin bekam. Wiederholt verlangte Demmelhuber, einen Verantwortlichen zu sprechen.
„Verstehen Sie nicht?“, schrie der Mann ihn an. „Hier ist niemand mehr, alle sind abgehauen oder haben sich ergeben.“
„Ergeben?“
„Die Russen sind in Berlin, die Amerikaner und Engländer haben bereits große Teile des Deutschen Reiches besetzt. Der Krieg ist vorbei.“
Jetzt hatte Demmelhuber endlich verstanden. Resigniert legte er auf und beobachtete das Chaos um sich herum. Sollte er nicht einfach auf einen der Lkw aufspringen? Nein! Auch für ihn war der Krieg vorbei. Er setzte sich in den Wagen, startete, aber er kam nur wenige Meter weit. Der Tank war leer. Hier in diesem Chaos Sprit zu finden, war zwecklos. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nur eine Stunde trennte ihn von seinen Lieben.
Ihm ging es immer schlechter. Er begann, stark zu schwitzen. Der Ausschlag hatte sich über den Körper ausgebreitet. Sein Körper juckte fürchterlich und die dicken Pusteln begannen zu nässen. Seit er losgelaufen war, musste er sich mehrfach übergeben.
Demmelhuber kam nicht weit. In einem Waldstück des Mühldorfer Harts hielt unweit ein Jeep: Die Amerikaner waren bereits hier! Nein, das waren Engländer! Er musste nicht nur sich selbst, sondern vor allem das Serum und die Liste der Inhaltsstoffe in Sicherheit bringen. Trotz seiner zunehmenden Schwäche rannte er los, aber zwei Uniformierte liefen ihm hinterher; auch der Jeep folgte ihm. Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich rasch. Nicht mehr lange, und sie hatten ihn. Das Serum und die Liste durften nicht in Feindeshand gelangen. In Berlin bekam er den Befehl, beides mit seinem Leben zu verteidigen. Und Befehl war Befehl. Wohin damit? Mit zitternden Händen öffnete er die Mappe und riss die wichtige Seite heraus. Dann nahm er den Glasbehälter aus dem Lederetui und wickelte ihn aus den Tüchern. Er steckte nur die eine Seite und das Serum ein, alles andere warf er in hohem Bogen weit von sich. Es war ihm klar, dass die Verfolger ihn beobachteten, darauf hatte er es abgesehen.
„Das muss er sein,“ rief Captain Monroe zu seinen Männern. Er hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Demmelhuber und dieses wahnsinnige Vorhaben zu stoppen. „Hinterher, Männer!“ Er selbst fuhr den Jeep und ließ Demmelhuber nicht mehr aus den Augen. Er lenkte den Jeep waghalsig durchs Gelände und riskierte einen Unfall. Das war gleichgültig. Sollte Demmelhuber das Serum bei seiner Flucht verlieren, waren sie sowieso alle dem Tod geweiht, das wussten er und seine Kameraden, als sie sich freiwillig meldeten. Monroe beobachtete, wie Demmelhuber die Tasche weit von sich warf. Sie war offen und der Inhalt verteilte sich übers Gelände. „Dort hinten! Holt die Tasche und sammelt den Inhalt ein!“, befahl Monroe.
„Was ist mit dem Deutschen?“, rief der junge Corporal Johnson.
„Erst die Unterlagen! Den Mann kriegen wir später!“
Während die Engländer die Tasche und den Inhalt einsammelten, rannte Demmelhuber weiter. Wohin mit der Liste und dem Serum? Er konnte sie nicht einfach im Wald verstecken, das war zu gefährlich. Die Verfolger würden jeden Zentimeter absuchen und würden beides finden. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Dann sah er ein Marterl mit einer Marienfigur. Wann wurde diese aufgestellt? Und vor allem warum? Er wusste, dass viele dieser Marterl an Stellen aufgestellt wurden, an denen Familienmitglieder verunglückten. Einige wurden auch aus Dankbarkeit oder als Fürbitten aufgestellt. Der Unterschied war wichtig, denn wenn dieses Marterl für einen Verunglückten errichtet wurde, könnte die Figur hohl sein. Das wusste er von dem Marterl, das sich auf dem Grundstück seiner Großeltern befand, das im Jahr 1832 nach einem tödlichen Unfall eines Kindes errichtet wurde. Die Figur an dem Marterl war hohl, wovon er durch Zufall Kenntnis bekam. Man gab damals persönliche Dinge oder Andenken in den Hohlkörper, was aber in den letzten Jahrzehnten nur noch selten gemacht wurde.
Wie alt war diese Figur da vorn? Das war jetzt nicht wichtig. Er riss die Figur vom Sockel und schüttelte sie. Er drehte und drückte an der Figur, sie war jetzt seine einzige Rettung. Die Engländer hatten seine Spur wieder aufgenommen und kamen näher. Dann spürte er, wie der Fußteil der Marienfigur nachgab. Hektisch drehte er solange, bis das Teil ab war. Die Figur war tatsächlich hohl! Er nahm die verschiedenen Andenken aus der Figur und steckte sie in seine Jackentasche. Dann stopfte er die Liste und das Serum in den Hohlkörper, beides fand gerade so Platz darin. Rasch stellte er die Marienfigur zurück an ihren Platz. Hatten die Engländer gesehen, was er gemacht hatte? Darum kümmerte er sich nicht, sondern rannte weiter.