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Irene Dorfner
Das dritte Kostüm
Leo Schwartz ... und die Tote vom Pestfriedhof
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
VORWORT
ANMERKUNG:
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Liebe Leser!
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Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:
Über die Autorin Irene Dorfner:
Impressum neobooks
Impressum
Copyright © 2015 Irene Dorfner
2. Auflage © 2017 Irene Dorfner
Copyright 3. Überarbeitete Auflage 2020
© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting
All rights reserved
Lektorat FTD-Script Altötting,
Earl und Marlies Heidmann, Erkelenz
Cover-Design: Vanja Zaric, D-84503 Altötting
VORWORT
“DAS VORURTEIL IST DAS KIND DER UNWISSENHEIT“
WILLIAM HAZLITT
Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des elften Falles mit Leo Schwartz & Co.!!
Liebe Grüße aus Altötting
Irene Dorfner
ANMERKUNG:
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
Ich danke dem Vorstand der Narrenzunft Ulm für die angenehme Zusammenarbeit und wünsche für die Zukunft immer ein friedliches „Zong raus!“.
…und jetzt geht es auch schon los:
1.
Leo Schwartz fuhr mit einer Stinkwut im Bauch zum Tatort. Eigentlich hatte er längst Feierabend und endlich Urlaub, den er bitter nötig hatte. Er war müde, ausgelaugt und seine Nerven waren ganz schön angekratzt. Besonders der letzte Fall hatte ihn ordentlich geschlaucht. Über Weihnachten und Neujahr bekam er nicht frei, da sein Kollege Hans Hiebler noch uralten Urlaub abzufeiern hatte und mit seinem Urlaubsantrag nun mal schneller war. Aber nun war es so weit! Heute war der 9. Januar und zwei wundervolle, hoffentlich erholsame Wochen lagen vor ihm. Er musste diesen Urlaub ohne seine Viktoria verbringen, die keine Erholung und Ablenkung brauchte und wollte, denn sie war lange krank und in Kur gewesen; sie brannte darauf, so viel wie nur möglich zu arbeiten. Anfangs war er sauer, natürlich wollte er die freie Zeit mit seiner Freundin verbringen, aber so langsam gewöhnte er sich an den Gedanken und freute sich darauf, in den zwei Wochen tun zu können, was er wollte. Er fuhr vom Parkplatz der Polizeiinspektion Mühldorf quer durch die Stadt. An der letzten Ampel musste er warten, was ihm heute aber nichts ausmachte. Im Radio lief ein langweiliger Song, den die Radiostationen seit Wochen rauf und runter spielten und den er eigentlich hasste. Trotzdem pfiff er den Refrain mit; seine Laune war bestens.
Und dann kam dieser Anruf von Fuchs! Was der Leiter der Spurensicherung von ihm wollte, hatte er ihm nicht gesagt, aber er verlangte nach einem Beamten der Mordkommission und er war der einzige, der an sein Handy ging. Die Kollegen waren noch in einer Besprechung und nicht erreichbar. Der Chef bestand seit neuestem darauf, dass alle Handys während der Meetings ausgeschaltet wurden. Was hatte er für eine Wahl? Er musste zu diesem verdammten Tatort! Deshalb fuhr er rechts ran und rief zuerst die Sekretärin des Chefs, Frau Gutbrod an. Er bat sie, den anderen mitzuteilen, dass sie nach der Besprechung umgehend auf den Pestfriedhof in Kastl kommen sollten.
„Werde ich ausrichten Herr Schwartz. Um was geht es genau? Pestfriedhof klingt gruselig und spannend.“ Die gute Frau war ganz in ihrem Element: neugierig und geschwätzig.
„Keine Ahnung, Fuchs hat nur gesagt, dass es dort eine Leiche gibt. Mehr weiß ich noch nicht.“
Danach speiste er sein Navi: Pestfriedhof Kastl – aber das verdammte Navi kannte diesen Pestfriedhof nicht. Er beschloss, nach Kastl zu fahren und sich durchzufragen, irgendwie würde er den Tatort schon finden! Leo konnte sein Glück kaum fassen, als er in Teising einen Streifenwagen bemerkte, der mit Radarkontrollen beschäftigt war. Er parkte seinen Wagen vor einer Bank und ging die wenigen Meter zurück.
„Leo Schwartz mein Name, Kripo Mühldorf. Ich brauche ortskundige Hilfe.“ Er zeigte den misstrauischen Kollegen seinen Ausweis, worauf sie nun freundlicher wurden. „Ich suche den Pestfriedhof in Kastl.“
„Kein Problem.“ Einer der Männer machte sich einen Spaß daraus, ihm so umständlich und so dialektdurchtränkt wie möglich die Anfahrt zu beschreiben, was natürlich zur Belustigung der anderen Kollegen beitrug. Leo war gebürtiger Schwabe, was man sehr deutlich hörte. Er hatte sich in den knapp 1 ½ Jahren im bayrischen Mühldorf am Inn gut eingelebt, obwohl er immer noch mit der Sprache seine Probleme hatte. Mit seinen 50 Jahren und seinem außergewöhnlichen Kleidungsstil aus den 80-er Jahren, der aus Jeans, Cowboystiefeln und meist aus T-Shirts mit dem Aufdruck einer Rockband bestand, fiel er überall auf. Und natürlich mit seiner stattlichen Größe von 1,90 m. Leo blickte in die hämischen Gesichter der Uniformierten und musste dem Treiben endlich ein Ende setzen.
„Halten Sie endlich den Mund und reden Sie vernünftig mit mir. Wie ist Ihr Name?“, herrschte Leo den Mann an, der augenblicklich verstummte. Auch die anderen lachten nun nicht mehr und wandten sich ab.
„Mein Name ist Kobold. Und ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen,“ sagte der Uniformierte geknickt, der heute besonders gute Laune hatte. „Ich habe heute vor, meiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen und bin vielleicht etwas aufgekratzt.“
Leo schämte sich für seine Ungeduld und den rauen Ton, trotzdem ging ihm dieser Typ mächtig auf die Nerven – Heiratsantrag hin oder her. Er konnte es sich nicht einfach so gefallen lassen, dass der Mann vor allen anderen so mit ihm umging, schließlich war er stellvertretender Leiter der Mordkommission Mühldorf am Inn und somit stand er einige Ränge über diesem Kobold. Außerdem brauchte man sich nicht über ihn und seinen Dialekt lustig machen; er war stolzer Schwabe und stand auch dazu.
„Wo ist jetzt dieser Pestfriedhof? Kastl kenne ich, aber nur den Kastler Forst beim Bahnhof, das Gasthaus am Dorfplatz und das Rathaus. Von einem Pestfriedhof habe ich noch nie gehört.“
„Der ist einfach zu finden. Sie nehmen nicht die zweite Ausfahrt nach Kastl, wo sie direkt beim Wirtshaus und am Rathaus landen, sondern nehmen nach Altötting gleich die erste Ausfahrt links. Bereits in der ersten, ziemlich scharfen Kurve steht links ein Schild mit dem Wegweiser Pestfriedhof, noch vor dem Pferdehof. Das können Sie nicht verfehlen.“
Leo bedankte sich und fuhr weiter. Er machte sich nun Gedanken darüber, was ihn auf dem Pestfriedhof erwartete. Fuchs war wie immer kurz angebunden und unfreundlich. Leo konnte ihn nicht leiden, denn der Mann war zu seiner Unfreundlichkeit auch noch pedantisch und kannte keine Freizeit. Immer wieder gab es Ärger wegen seiner Art, hauptsächlich mit seinen Mitarbeitern, die ganz schön unter Fuchs‘ Drill und Ansprüchen zu leiden hatten, aber bezüglich seiner Arbeit gab es nichts auszusetzen. Oft genug gab Fuchs einen entscheidenden Hinweis zur Lösung eines Falles und Leo hielt den Mann beruflich für ein Genie, was er ihm aber nie sagen würde, denn Fuchs war sowieso schon sehr abgehoben und von sich überzeugt, da musste er dessen Ego nicht auch noch bauchmiezeln.
Leo richtete sich genau nach Kobolds Anweisungen und fand tatsächlich den Wegweiser zum Pestfriedhof. Er fuhr nach links in den Feldweg und fluchte laut, denn der Weg war sehr uneben und durch die Schnee- und Regenfälle der letzten Tage besonders aufgeweicht. Leo erkannte die Fahrzeuge der Spurensicherung und atmete erleichtert auf, er war hier richtig! Als Ortsunkundiger in dieser knappen Zeit – er war mächtig stolz auf sich! Die Fahrzeuge der Spurensicherung parkten vogelwild und versperrten Leo die Weiterfahrt, er musste wohl oder übel seinen Wagen hier parken. Da es schon stockdunkel war, ließ er die Scheinwerfer seines Wagens eingeschaltet, um zumindest für die nächsten Meter sehen zu können, wo er hintrat. Bereits beim ersten Schritt versanken seine Cowboystiefel im Matsch und er fluchte erneut. Leo ging einige Meter und brauchte dann keinen weiteren Wegweiser zum Tatort, denn bereits nach wenigen Schritten bemerkte er die Beleuchtung der Spurensicherung etwa einhundert Meter von ihm entfernt und musste sich den Weg bis dorthin quasi ertasten. Bis er am Pestfriedhof eintraf, waren seine Stiefel nur noch Matschbrocken; Leos Laune war auf dem Nullpunkt.
„Sie kommen allein? Wo sind die anderen?“, begrüßte ihn Fuchs, wobei er mit einer ausladenden Geste deutlich machte, dass Leo nur bis zu dem Absperrband treten durfte. Wer sollte um die Uhrzeit außer der Polizei zum Fundort der Leiche wollen? Leo sah auf seine Uhr: 17.30 und es war stockdunkel. Hatte Fuchs dieses Absperrband etwa nur für die Kollegen angebracht? Seit dem letzten Fall mit den Holzperlen war Fuchs noch schlimmer geworden und hatte mit Hilfe des Chefs durchgesetzt, dass bis zur Tatortfreigabe einzig und allein Fuchs und seine Leute das Sagen hatten, was vor allem Fuchs bis aufs Äußerste ausreizte und sichtlich genoss.
„Die anderen sind noch in der Besprechung, sie kommen danach sofort hierher,“ murmelte Leo, der keine Lust hatte, sich vor diesem Fuchs zu rechtfertigen. „Um was handelt es sich?“
„Wenn Sie sich hierher bemühen würden,“ sagte Fuchs und ging auf der anderen Seite der Absperrung neben Leo her. „Eine Leiche in einem seltsamen Kostüm. Sehen Sie selbst. Es handelt sich um eine Frau.“
Leo war erschrocken und konnte kaum glauben, was er vor sich sah: eine Gestalt in einem traditionellen Ulmer Narrenkostüm, die er schon so oft gesehen hatte. Nicht, dass Leo scharf auf Fasching, Karneval oder wie man das auch immer nennt, wäre. Trotzdem kam man in manchen Gegenden nicht drum herum, davon Notiz zu nehmen. Seit seiner damaligen Versetzung zur Ulmer Polizei wurde er jährlich mit dem riesigen Faschingsumzug durch die Ulmer Innenstadt konfrontiert und er hatte beruflich ab und an mit dem einen oder anderen Narren zu tun. Dieses Kostüm vor seinen Füßen kannte er gut, denn es handelte sich dabei um ein traditionelles Kostüm der Ulmer Narrenzunft, welches genau, wusste er nicht. Aber er konnte seine langjährige beste Freundin Christine Künstle später dazu befragen, denn sie war sogar Mitglied in dieser Ulmer Narrenzunft. War sie nicht sogar in der Vorstandschaft? Fuchs wurde ungeduldig und räusperte sich mehrfach, wodurch er Leo aus seinen Gedanken riss.
„Ich bin mit meinen Leuten erst seit knapp einer Stunde hier, die Altöttinger Polizei hat uns gerufen. Zum Glück waren die Kollegen vorsichtig und haben uns nicht den ganzen Fundort zerstört. Mir kamen mehrere Punkte sehr merkwürdig vor und ich spürte, dass hier etwas nicht stimmt, deshalb habe ich die Mordkommission gerufen. Äußerlich konnte ich keine Gewalteinwirkung feststellen. Die Altöttinger Kollegen gingen sofort von einem Selbstmord aus, woran ich meine Zweifel habe. Kein Abschiedsbrief, keine persönlichen Dinge wie Handy, Geldbeutel oder Papiere. Und keine Fußspuren. Was aber vor allem fehlt ist ein Hinweis darauf, mit was sich die Frau umgebracht haben soll. Wir haben alles abgesucht, aber hier ist absolut nichts, alles sauber. Keine Medikamentenverpackungen, Spritzen, Giftampullen, Messer, spitze Gegenstände – einfach nichts! Verstehen Sie jetzt den Grund meines Anrufes?“
„Allerdings.“
„Die Maske war fest fixiert und ich kann Ihnen versichern, dass ich sie vorsichtig abgenommen habe. Zum besseren Verständnis und um zu verdeutlichen, wie die Tote vorgefunden wurde, habe ich die Maske nur lose aufgelegt. Ich hatte eigentlich mit mehr Publikum gerechnet, aber wenn außer Ihnen niemand kommt, dann muss ich wohl mit Ihnen vorlieb nehmen. Also was ist, können wir? Sind Sie bereit und aufnahmefähig?“
Leo nickte nur. Langsam, bedächtig und sehr umständlich nahm Fuchs die Kostümmaske ab und legte das Gesicht einer jungen, sehr hübschen Frau frei. Leo war erschrocken, damit hatte er nicht gerechnet. Er wäre gerne näher an die Leiche getreten, aber Fuchs hielt ihn zurück. Minutenlang untersuchte Fuchs zusammen mit einem Kollegen abermals die Leiche der Frau und schüttelte immer wieder den Kopf. Schließlich stand er auf und blickte um sich, ging dann vorsichtig auf und ab.
„Ich verstehe das einfach nicht. Zum einen konnten wir keine Todesursache hier vor Ort feststellen, ich kann nicht einmal eine Vermutung äußern. Und zum anderen: wie zum Teufel ist die Frau hier hergekommen?“, murmelte er vor sich hin, ließ sich eine größere Taschenlampe geben und suchte akribisch nach Spuren. „Das gibt es nicht, nicht die kleinste Spur, weder auf dem Boden, noch an den Schuhen der Toten. Die Stelle hier sieht aus, als wäre frisch gerecht worden, aber bei dem Licht kann ich mich auch täuschen.“ Fuchs war enttäuscht und verzweifelt, was nicht oft vorkam, so hatte Leo den Kollegen noch nie erlebt, er hatte für einen Moment fast menschliche Züge an sich.
„Todeszeitpunkt?“
„Ich schätze maximal 4 bis 5 Stunden, ungefähr rund um 13.00 Uhr, aber das ist nur eine vorläufige Einschätzung.“ Fuchs blickte auf Leos Stiefel. „Wie ich sehe, hatten Sie selbst Probleme mit dem morastigen Untergrund. Und Sie haben ganz schön tiefe Spuren hinterlassen. Meine Männer und ich selbst waren vorsichtiger und sind ab dem Feldweg bis hierher zum Pestfriedhof hintereinander nur dort gelaufen, wo definitiv keine Spuren vorhanden waren. Auch wenn wir Ihre Trampelspuren nachverfolgen, müssten zumindest dazwischen weitere Fußspuren vorhanden sein, was aber nicht der Fall ist, sehen Sie selbst.“ Fuchs hatte einen vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme und Leo bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Er hatte tatsächlich nicht aufgepasst und war einfach darauf losgelaufen; aber es hätte auch irgendjemand ein Wort sagen können! Fuchs kam mit seiner riesigen Taschenlampe hinter die Absperrung und zusammen leuchteten sie den Weg und vor allem Leos Spuren von der Absperrung bis zum Feldweg aus, was insgesamt geschätzt 20 Meter waren – nicht ein einziger anderer Fußabdruck war außer seinen eigenen zu sehen.
„Wie war das Wetter vor 4 Stunden? Könnte der Weg da besser gewesen sein?“
„Nein, das können Sie vergessen. Durch dieses Schmuddelwetter ist der Boden seit mindestens zwei Wochen schon so stark aufgeweicht. Viel Regen, wenig Schnee und es fehlt in diesem Winter bislang an Kälte. Wir hatten nur Plusgrade.“
„Vorhin kam im Radio, dass jetzt der Winter kommen soll, mit viel Schnee und Kälte.“
„Und was hat das mit dem Fall zu tun?“ Fuchs sah ihn fragend und überheblich an.
„Nichts, ich mein ja nur.“ Leo hatte sich hinreißen lassen, sich mit Fuchs normal zu unterhalten. Er hätte wissen müssen, dass sich Fuchs nur für seine Arbeit interessierte. Für Details, die nicht seine Arbeit betrafen und für normale Konversation war er nicht zugänglich, für ihn war das reine Zeitverschwendung.
Sie gingen wieder zurück zur Leiche, Fuchs hinter die Absperrung und Leo davor.
„Und was vermuten Sie als Todesursache?“
„Spekulationen sind nicht mein Ding, das müssten Sie doch langsam wissen. Ich werde mich an der Obduktion beteiligen, der Fall interessiert mich brennend. Es kommt nicht oft vor, dass ich es mit einer so seltsam kostümierten Leiche zu tun habe, deren Todesursache augenscheinlich nicht erkennbar ist und die offenbar hierher geflogen ist.“
Leo hätte den Kollegen Fuchs über die Kostümierung aufklären können, aber er unterließ es.
„Hatte das Opfer irgendwelche Papiere bei sich?“
„Hören Sie mir eigentlich zu Herr Schwartz? Ich bitte um Konzentration, schließlich habe ich besseres zu tun, als Ihre Fragen doppelt und dreifach zu beantworten. Wie gesagt, hatte die Tote keine persönlichen Dinge bei sich, das hatte ich bereits erwähnt.“
„Wie alt schätzen Sie die Frau? Ich denke, sie ist noch keine 30 Jahre alt.“
„Das denke ich auch, aber das ist schließlich keine Ratestunde, überlassen wir die Feststellung der Feinheiten Leuten, die sich damit auskennen. Der Mann dort drüben in dem fürchterlichen Jogginganzug hat die Leiche gefunden. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich mich gerne wieder an die Arbeit machen.“
Der 38-jährige Friedrich Fuchs war nicht mehr zu halten und gab lautstark Anweisungen an seine Leute.
„Mein Name ist Leo Schwartz, Kripo Mühldorf,“ stellte sich Leo dem Mann vor, der sehr ungeduldig schien, denn er sah fortwährend auf seine Uhr. Ein Kollege hatte ihm eine Decke gegeben, was aufgrund der Temperatur auch dringend notwendig war. Der drahtige Mann im neongelben Joggingoutfit war schon 73 Jahre alt und topfit, das musste Leo zugeben. Er selbst hatte schon lange keinen Sport mehr gemacht und schämte sich fast im Beisein des Mannes, der Leos Ausweis prüfte und ihn von oben bis unten musterte. Leo war dieser Mann sofort unsympathisch.
„Grindlmaier Franz,“ sagte der Mann knapp. „Wie lange soll ich eigentlich noch warten? Ich habe die Leiche kurz nach 16.00 Uhr gefunden, selbstverständlich sofort die Polizei gerufen und längst meine Aussage gemacht. Dieser Trottel dort hinten hat von meinen Joggingschuhen Abdrücke genommen. Hoffentlich bekomme ich die jemals wieder sauber! Ich könnte schon seit Stunden zuhause sein! Können Sie sich vorstellen, dass ich mich durch diese endlose Warterei erkälten kann?“ Grindlmaier war sauer und ungeduldig, außerdem sprach er so laut, dass jeder ihn hören konnte.
„Es tut mir leid, dass Sie warten müssen. Ich bitte um Ihr Verständnis, schließlich haben wir es mit einer Leiche zu tun und Ihre Angaben als erster am Fundort sind nicht unwichtig. Ihre Eindrücke sind noch frisch. Die Abdrücke Ihrer Schuhe brauchen wir zum Vergleich. Und keine Sorge, die Überreste gehen problemlos wieder ab.“ Leo wollte den aufgebrachten Mann beruhigen, denn er könnte ein wichtiger Zeuge sein und sollte sich so ruhig wie möglich an jede Kleinigkeit erinnern können.
„Behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind. Sicher habe ich in gewissem Umfang Verständnis. Ich bin meiner Bürgerpflicht nachgekommen und habe sofort die Polizei gerufen, als ich die Leiche entdeckt habe. Und ich bin auch so lange geblieben, bis die Polizei eintraf und meine Aussage aufgenommen hat, die sehr dürftig ist. Ich habe die Leiche gefunden – mehr aber auch nicht. Ich habe nichts und Niemanden gehört oder gesehen, ich bin für Ihre weiteren Ermittlungen völlig unwichtig. Trotzdem lässt man mich nicht gehen. Ich sitze hier rum und friere. Warum? Ich bin ein unbescholtener Bürger und habe mit dieser Leiche nichts zu tun. Sind Sie jetzt fertig? Kann ich endlich gehen?“
„Sofort. Ich beeile mich, versprochen. Sie haben die Leiche also um kurz nach 16.00 Uhr gefunden. Wie ich sehe, haben Sie Sport gemacht?“
„Das sieht man doch! Ich jogge beinahe jeden Tag durch diesen Wald und nehme immer eine andere Strecke. Ich bin schon oft am Pestfriedhof vorbeigelaufen, das letzte Mal dürfte vor 3 Wochen gewesen sein, aber eine Hexe habe ich noch nie gesehen. Und dann auch noch eine tote Hexe. Ich möchte nochmals betonen, dass ich nichts angefasst habe, falls ihr Kollege mich nicht richtig verstanden hat.“
Auch diesem Grindlmaier gegenüber hielt Leo sein Wissen über das Faschingskostüm zurück. Leo sah sich um und konnte die Fußspuren des Joggers auf dem Feldweg sehr gut erkennen, die aus der anderen Richtung vom Wald her kamen. Außer diesen Spuren waren keine anderen erkennbar und die Spurensicherung hatte auch keine anderen gefunden.
„Sie sind also von dort gekommen?“
Grindlmaier nickte genervt, denn das hatte er einem Polizisten schon längst mitgeteilt.
„Und dann haben Sie die Leiche am Pestkreuz entdeckt?“ Leo lief auf und ab, bückte und streckte sich. „Wie haben Sie das gemacht? Von hier aus kann man das Pestkreuz nicht sehen, vor allem nicht bei den Lichtverhältnissen.“ Leo war skeptisch.
„Erstens war es noch nicht ganz so dunkel, als ich die Leiche entdeckt habe. Und zweitens musste ich pinkeln und wollte austreten. Wie gesagt, kenne ich den Pestfriedhof sehr gut und wenn ich mal muss, dann ist das hier meine bevorzugte Stelle. Man kann auf dem Weg ungehindert austreten, ohne durch Gestrüpp gehen zu müssen und ohne dabei gesehen zu werden.“
„Sie sind also hier in den Weg zum Pestfriedhof rein? Wie weit?“
„Na bis zum Pestkreuz eben. Da ist man weit genug vom Feldweg entfernt.“ Grindlmaier war genervt von dieser für ihn völlig uninteressanten Fragerei. „Wie gesagt, mache ich das immer so, schon seit Jahren.“
„Von Pietät haben Sie noch nie was gehört, oder? Man pinkelt doch nicht auf einen Friedhof! Der Wald ist schließlich groß genug.“ Leo schüttelte verständnislos den Kopf über das Verhalten.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein, so mit mir zu reden? Ich war in leitender Position in einem großen Wirtschaftsunternehmen. Darüber hinaus war ich bis zu meiner Pensionierung ehrenamtlich in einigen öffentlichen Einrichtungen Altöttings tätig. Und glauben Sie mir, ich habe viel für die Gegend hier getan,“ schrie Grindlmaier und kam Leo dabei bedrohlich nahe. „Außerdem wurden die Kastler Pesttoten im 17. Jahrhundert hier bestattet und dürften sich nicht mehr daran stören, wenn ich hier ab und an meine Notdurft verrichte. Hunde dürfen doch auch überall hinpinkeln und hinscheißen, aber daran stört sich niemand.“
„Mir ist es völlig egal, wer oder was Sie sind oder waren,“ sagte Leo ruhig. „Mich interessiert nur, wer heute vor mir steht. Und für mich sind Sie eine pietätlose Drecksau, denn ein intelligenter Mensch mit Anstand pinkelt nicht auf einem Friedhof, ganz egal, wann Menschen dort bestattet wurden. Es gibt einfach Dinge, die macht man als halbwegs vernünftiger Mensch nicht! Sie können jetzt gehen.“
Grindlmaier schnaubte vor Wut und schimpfte, was das Zeug hielt, während Leo einfach weiterging. Ihn interessierte das Geschwätz dieses Mannes nicht. Er hatte dessen Aussage und die Personalien, mehr brauchte er nicht. Leo ging zum Fundort der Leiche zurück, wo Fuchs gerade dabei war, den Abtransport in die Wege zu leiten.
„Kann ich mir die Leiche jetzt anschauen?“
„Wenn Sie unbedingt wollen. Sie haben noch genau 10 Minuten, dann geht die Leiche in die Gerichtsmedizin nach München. Ich habe die dortigen Kollegen bereits informiert, auch die sind sehr an dieser Leiche interessiert. Also, beeilen Sie sich.“
„Zu gütig,“ sagte Leo. Er kniete vor der Leiche und dabei war es ihm egal, dass seine Hosen nun auch ruiniert waren. Das Gesicht der Frau, dieses Faschingskostüm und dann noch diese unwirkliche Umgebung ließen ihn erschauern. Langsam zog er sich die Handschuhe über und kramte in der zum Kostüm gehörenden Umhängetasche, aber diese war leer, wie Fuchs gesagt hatte. Noch einige Minuten besah sich Leo ungläubig die Leiche, während Fuchs in seinem Wagen saß. In Leos Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander. Was wollte die junge Frau hier? Wie kam sie hierher? Wie kam sie ums Leben? Und was ist das hier für ein seltsamer Ort?
„Träumst du?“
Erschreckt zuckte Leo zusammen. Seine Vorgesetzte und Lebensgefährtin Viktoria Untermaier hatte sich unbemerkt neben ihn gestellt.
„Meine Güte, ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen!“, rief Leo erleichtert, als er in das vertraute Gesicht seiner Viktoria blickte. „Ich war völlig in Gedanken. Warum schleichst du dich an mich ran?“
„Habe ich nicht, du hast mich nur nicht bemerkt. Was machst du eigentlich hier? Du solltest doch längst zuhause sein und deine Koffer packen.“
„Die Leiche kam dazwischen. Aber jetzt, wo ihr endlich da seid, habe ich ab sofort offiziell Urlaub.“
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche zuerst?“
„Mir egal.“
„Also, die gute zuerst: Werners Frau hat eine kleine Tochter zur Welt gebracht. Die Kleine kam viel zu früh und Werner ist umgehend ins Krankenhaus gefahren, den hielt nichts mehr. Er machte sich riesige Sorgen um seine kleine Tochter und natürlich um seine Frau und möchte bei ihnen sein. Ich habe ihm frei gegeben, das versteht sich von selbst.“
„Natürlich freue ich mich für Werner. Unter den Umständen kann ich mir lebhaft vorstellen, was die schlechte Nachricht ist: Werner bleibt bei Frau und Kind, wodurch mein Urlaub vorerst gestrichen ist?“
„Du hast es erfasst. Es tut mir echt Leid Leo, du hättest dir deinen Urlaub wirklich verdient. Aber ich habe Werner grünes Licht gegeben und damit über deinen Kopf hinweg entschieden. Ich hoffe, das geht für dich in Ordnung und du hast Verständnis. Krohmer bemüht sich um eine Lösung, aber bis dahin bleibst du im Dienst.“
Leo blickte in die schuldbewussten Augen seiner Viktoria. Die 48-jährige, nur 1,65 m große und sehr hübsche Frau setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und Leo konnte nicht anders: Er war einverstanden. Natürlich freute er sich für seinen Kollegen Werner Grössert, dass er nun endlich Vater geworden ist, was viele nicht für möglich gehalten hatten, denn Werners Frau litt unter einer schweren Hautkrankheit und musste nicht nur viele Medikamente einnehmen, sondern auch immer wieder für längere Zeit in Spezialkliniken. Wie durch ein Wunder wurde die Frau trotz der Medikamente schwanger und alle bangten bis zum Schluss mit ihrem Kollegen Werner Grössert. Alle mochten Werners warmherzige Frau, die es in der Familie Grössert nicht leicht hatte. Sie wurde von den übermächtigen Eltern, die eine angesehene Anwaltskanzlei in Mühldorf betrieben, nicht akzeptiert, da sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Und jetzt waren die beiden Eltern geworden! Leo freute sich riesig!
„Natürlich verstehe ich dich und es versteht sich von selbst, dass ich einverstanden bin.“ Leo hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, dass er sich sehr gerne um den Fall kümmern würde, denn für ihn passte auf den ersten Blick absolut nichts zusammen.
„Wie ich sehe, haben wir es mit einer kostümierten Leiche zu tun?“, fragte Hans Hiebler, der nun auch eingetroffen war und fasziniert auf die Leiche vor sich blickte. „Was zum Teufel ist das denn für ein Hexenkostüm?“ Den 53-jährigen, 1,80 m großen, sportlichen Kollegen umhüllte heute wieder ein angenehmer Herrenduft, der auch hier im Wald langsam um sich griff.
„Das ist kein Hexenkostüm,“ klärte Leo die beiden Kollegen auf. „Bei diesem Kostüm handelt es sich um ein Faschingskostüm der Ulmer Narrenzunft.“
„Wie bitte? Wie kommt das denn hier her? Bist du dir da ganz sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher, ich habe schließlich lange genug in Ulm gelebt und kam nicht umhin, auch beruflich mit Maskierten in diesen und ähnlichen Kostümen zu tun zu haben. Wenn ich mich nicht irre, ist Christine sogar Mitglied in diesem Verein. Jedes Jahr hat sie mich mit ihrer Faschingsbegeisterung genervt, aber ich habe damit überhaupt nichts am Hut. Ich kann nicht auf Kommando lustig sein. Für mich ist Fasching nur ein offizieller kalendarischer Grund, die Sau rauszulassen und sich volllaufen zu lassen. Eine Zeit, in der man jede Hemmung fallen lassen und sich gehen lassen kann. Das ist nichts für mich.“
„Du bist in der Beziehung ganz schön versnobt und voller Vorurteile. Dich hat der Geist des Faschings nur nicht gepackt. Ich finde diese närrische Zeit hervorragend und bedauere sehr, dass sie in unserer Gegend nicht ganz so ausgelassen gefeiert wird,“ sagte Hans Hiebler. „Ich hatte mal eine Freundin aus Köln. Und wenn du dort nicht von diesem Fieber angesteckt wirst, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Man kann sich nicht nur gehen lassen, sondern man darf sich über alles und jeden lustig machen, mal so richtig aus sich rausgehen. Und das Feiern unter Gleichgesinnten ist einfach nur herrlich!“ Hans schwärmte in den höchsten Tönen und nahm sich fest vor, den nahenden Fasching mal wieder so richtig zu feiern, die passenden Leute würde er dafür schon finden.
„Du verarschst mich jetzt, oder? Du findest Fasching wirklich gut? Vielleicht ab 2 Promille, das könnte ich akzeptieren. Und natürlich nur unter Gleichgesinnten.“
„Gemeinsame Interessen funktionieren nur unter Gleichgesinnten. Du gehst doch auch nicht mit einem Strickclub zum Fußball.“
Die beiden verstummten und sahen zusammen mit Viktoria zu, wie die Leiche vorsichtig in den Zinksarg gelegt wurde und dann abtransportiert wurde.
„Die Frau hatte keine Papiere bei sich. Wir müssen also zuerst herausfinden, mit wem wir es zu tun haben.“
„Wenn wir hier nichts mehr tun können, treffen wir uns im Präsidium. Krohmer hat Wind von dieser Leiche hier bekommen; ich tippe auf Frau Gutbrod. Er hat vorhin angerufen und erwartet uns zu einem ersten Bericht. Er möchte Fotos der Leiche sehen,“ verdrehte Viktoria Untermaier die Augen, die am liebsten nach Hause gefahren wäre, denn der Tag war lange und sie fror in ihren dünnen Gummistiefeln und der leichten Jacke. Vor allem hatten sie heute bereits eine Ewigkeit mit dem Chef zusammengesessen – und jetzt schon wieder! Viktoria und Hans wechselten an ihren Fahrzeugen die Schuhe, Leo hatte wie immer keine anderen Schuhe dabei und wischte mit Taschentüchern notdürftig und völlig aussichtslos seine verdreckten Cowboystiefel ab.