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Inga Berg

Wo Anders

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Esther

Drei Kieselsteine

Das Kummertier

Wenn Rotze schwimmt

Schatten der Wahrheit

Großer, dummer, dicker Maikevogel

Tristan und Esther

Wenn Freundschaft stirbt

Carla oder wie fühlt sich der Tod an

Esther kommt zurück

Fräulein Anneliese Rosalind

Die Wirklichkeit des Vaters

Die Flucht

Spaghetti im Bett

Auch nur ein Traum

Wenn sich Steine auflösen

Impressum neobooks

Esther

Erste Auflage 2012

© Inga Berg, 2012

inga-berg@t-online.de

Wo Anders“

ISBN 978-300-037709-9

Wo Anders

Lautlos tanzte der Wind durch die Äste des alten Baumes, der direkt vor meinem Fenster stand, und malte damit ein bewegtes Bild aus Licht und Schatten auf die Wand meines Kinderzimmers. Das dramatische Schauspiel fand ein jähes Ende, als sich eine Wolke vor den hellen Mond schob und den Raum in völlige Dunkelheit tauchte.

Angestrengt lauschte ich in die Stille, suchte nach Stimmen, Geräuschen oder wenigstens nach einem Rauschen, einem Flüstern, nach einem auf leisen Sohlen schleichenden Schritt. Meine Ohren schienen wie hochsensible Antennen ausgefahren und auf das kleinste Geräusch reagierend. Doch da war nichts.

Langsam setzte ich mich auf, immer noch mit weit geöffneten Sinnen. Vorsichtig schob ich meine nackten Füße unter der Decke hervor, um sie geräuschlos auf den kalten Dielenboden zu setzen. Bedächtig verlagerte ich mein Gewicht von der Bettkante auf meine Beine, als ich plötzlich zusammenzuckte. Noch konzentrierter nahm ich die Stille in mir auf, sog sie tief in mein Bewusstsein. Eingehüllt in Schweigen lag mein Zimmer vor mir. Nur die Schatten der Nacht tanzten erneut an den Wänden. Langsam löste ich mich aus meiner stummen Starre und sah mich um. Meinem Bett gegenüber stand ein großer Eichenschrank. Auch über seine Ornamente und Schnitzereien sprangen die Geschöpfe der Phantasie und brachten ihn damit zum Leben, setzten seine ganz eigenen Wesen in Szene.

Beinahe hätte ich mit all diesen Elfen, Gnomen, Fabelwesen und Märchengestalten mitgetanzt, mich davontragen lassen in ihre ihnen eigene Welt. Wäre selbst einer von ihnen geworden. Doch ich war nicht einer von diesen traumgleichen Fantasiegestalten, ich war Maike von Hochfelden, gerade neun Jahre alt und viel zu groß für mein Alter. Mutter versuchte mich zuweilen damit zu trösten, dass ich bei so einem stattlichen Mann, der mein Vater nun einmal sei, eben nicht klein und zierlich sein könnte. Aber ich war doch kein Mann und wollte auch keiner sein. Hätte ich doch ihre zierliche Gestalt geerbt, aber auch die war längst nicht mehr so schlank wie auf dem Hochzeitsfoto. Und da gab es noch etwas, worauf ich liebend gerne bei der Verteilung der Erbanlagen verzichtet hätte.

Meinen Jähzorn, sagte meine Mutter, hätte ich ebenfalls von seiner Seite der Familie mitbekommen. Ich hasste ihn dafür. Diese unbeherrschbare Wut, die von tief innen aufstieg, sich im ganzen Körper ausbreitete und einem jeden Gedanken vergiftete, einem die Luft zum Atmen nahm und sich früher oder später in einem blinden Anfall von unbändiger, türkisgrüner Gewalt Luft verschaffte. Nein, ich war nicht zart und vergänglich!

Inzwischen hatte ich mich, vorbei an achtlos hingeworfenen Kleidern, Schuhen und Spielsachen, zum Fenster geschlichen. Der alte Baum zwang sein Nachtschattenvolk zurück in seine Äste. Und sie gehorchten. Je heller der Himmel wurde, je mehr sich das schweigende Dunkelblau durch beinahe schon silbergleißendes Licht verdrängen ließ, umso schwächer wurden meine Besucher, bis sie sich ganz in die von schwarz auf immer grüner werdenden Zweige zurückzogen.

Ein leichter Schauer lief mir den Rücken herunter. Diese Nacht konnte einfach noch nicht zu Ende sein. Ich schloss meine Augen, ballte meine Hände zu Fäusten, so fest, dass meine Nägel schmerzhafte Spuren in meinen Handflächen verursachten und wünschte mich zurück in das Dunkel.

Doch die Zeit ließ sich nicht aufhalten. Mein Wecker surrte leise, um dann in einem ohrenbetäubenden immer wiederkehrenden Piepton die friedliche Stille zu zerreißen. Intensivmedizin und Herzstillstand schoss es mir durch den Kopf. Blitzartig war ich zurück an meinem Nachttisch und tötete dieses kreischende Ding. Ich zog den Stecker, brachte ihn zum Schweigen. Doch es war zu spät. Nebenan, im elterlichen Schlafzimmer, hörte man das erste Gähnen des Morgens, das erste Knatschen der Bodendielen, wenn sie unter menschlichem Gewicht leicht nachgaben und die Steife der Nacht wegraunten. Die Holzbohlen sprachen miteinander, drehten und dehnten sich, machten sich bereit. Ich war wieder unter meiner Bettdecke verschwunden, kniff die Augen zusammen und harrte der Dinge, die nun unweigerlich ihren Lauf nahmen. Mutters Schritte hallten durch mein Bewusstsein. Ihr süßes Parfum legte sich um meine Sinne. Zielstrebig ging sie zum anderen Ende des Raumes, zog die Gardinen zurück und öffnete die Fenster. Ein leiser Lufthauch streichelte mein Gesicht. Das Leben mit all seiner Beharrlichkeit und Aufdringlichkeit wogte in mein Zimmer. Die Luft war erfüllt von Vogelstimmen, die man Zug um Zug geradezu einzuatmen schien. Und mit jedem Atemzug kam ich dem Tag näher als dem Traum.

„Maike, aufstehen!“ hörte ich meine Mutter zum wiederholten Male sagen. Immer gleich freundlich. Wie die nette Stimme aus dem Lautsprecher des Supermarktes um die Ecke, die jeden Tag ein neues Sonderangebot offerierte.

Und da war es schon wieder „Maike komm, du musst aufstehen, sonst verpassen wir den Bus“. Den Bus? Plötzlich war ich hellwach. Der Bus! Heute war der Tag meiner Abschiebung. Doch noch bevor ich mir einen Schlachtplan ausdenken konnte, irgendeine furchteregende, ansteckende Krankheit oder eine Strategie, die den Zeitplan meiner Mutter durcheinander bringen würde, kam sie auch schon in mein Zimmer. Zustimmend lächelte sie mich an und öffnete meinen Kleiderschrank. Vorsichtig blinzelte ich in die aufgehende Sonne die mein Zimmer orangerot durchflutete. Mutters Schatten schob sich vor mein Gesicht. Schnell hatte sie mein kirschrotes Lieblings-T-Shirt und eine alte, zerschlissene Jeans mit bunten Flicken auf den Knien und roter Bordüre am Ende der Hosenbeine herausgeholt. Letztere war neu und diente der optischen Verlängerung der Hochwasserhose. Kopfschüttelnd betrachtete sie mich. „Du wächst einfach zu schnell“ sagte sie mehr zu sich selbst und wandte sich wieder meinem Kleiderschrank zu. Wohlgefüllt mit den schönsten und teuersten Kinderkleidern, zog sie doch geschickt das älteste Sweatshirt aus der geordneten Fülle und streckte es mir entgegen.

„Nein“ schrie es in mir auf „nicht dieser olle Pullover und außerdem, es ist Sommer!“

Aber, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, hielt sie mir dieses Ding mit Nachdruck und einer Unerbittlichkeit in ihrem Blick entgegen, der jedem Widerspruch den Boden nahm. Ich zog ihn an. Türkisgrün blitzte es in mir auf. Ich wollte diese Hose nicht, nicht diesen hässlichen, hellblauen Pullover und schon gar nicht ins Sommerzeltlager. Ich spürte, wie es mir die Kehle zuzog, wie Tränen meinen Blick verschleierten und ich kämpfte - kämpfte um einen klaren Verstand, um Ideen, diesen Weg nicht gehen zu müssen. Ich wusste, dass meine Mutter in meiner Abschiebung nur die Anweisung meines Vaters befolgte, aber genauso gut wusste ich, dass ich meiner Mutter nicht kampflos nachgeben würde. Ohne Eile nahm ich meiner Mutter den dargebotenen Pullover aus der Hand und legte ihn neben mich aufs Bett. Meine Gedanken rasten. Dann nahm ich auch die Hose entgegen, die gleich darauf freundlich bestimmt angereicht wurde. Ich platzte beinahe vor Wut. Der grobe Stoff glitt durch meine Hände. Der Knopf am Bund saß bedenklich locker. Mit einem Ruck in einem unbeobachteten Moment und er war ab. Meinen Jubel wohlweißlich verbergend und mit einem unschuldigen Blick, gab ich meiner Mutter die marode Hose wieder zurück. Skeptisch musterte sie zuerst den Hosenbund und dann mich. Den Knopf hatte ich immer noch in der Hand. Langsam und unauffällig ließ ich meine geschlossene Faust unter der Bettdecke verschwinden. „Was hast du da in deiner Hand?!“ schnitt die Stimme meiner Mutter scharf in meine Engelsmiene.

„Nichts!“ beteuerte ich und ließ den Knopf los.

Ohne zu zögern griff sie nach meiner Daunendecke und warf diese zurück. Und da lag er, rund, verräterisch, roter Hosenknopf auf weißem Bettlacken. Wortlos ging meine Mutter zurück zum Schrank, holte eine zweite, genauso zerschlissene und geflickte Hose heraus, legte sie neben meinen Pullover und ging, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen aus dem Raum. Voller Wut nahm ich den Knopf und schoss ihn einmal quer durch mein Zimmer, an die gegenüberliegende Wand. Dann, noch immer in türkisgrün flackernder Ohnmacht, schlüpfte ich in meine mir vorgelegten Kleider. Doch in ihrem vermeidlichen Triumph hatte meine Mutter etwas Entscheidendes übersehen. Weder Schuhe noch Strümpfe zierten meine Füße als ich mein Zimmer verließ, schließlich hatte meine Mutter sie mir nicht hingelegt. Und jetzt lagen sie gut versteckt unter meinem Bett zwischen meinen Buntstiften und meinem Steifflöwen, hinter meiner mit Lehm verschmieren Latzhose und zwei Kartons mit allerlei Schulheften und selbst kreierten Kunstwerken, dessen Wert außer mir, keiner wirklich zu schätzen wusste. Bis ich die wieder finden würde, ich war ja so verträumt und unkonzentriert, würde es mindestens eine Ewigkeit dauern, wenn nicht sogar zwei!

Siegessicher schritt ich die alte, knarrende Holztreppe, die mit schwerem, dunkelroten Teppich ausgelegt war, hinunter in den Wohnbereich der Jugendstilvilla. Als meine nackten Füße den kalten, schwarz-weiß gefliesten Boden am Ende der Treppe berührten, lief mir ein leichtes Frösteln durch den Körper. Es war für Mitte Juli doch noch ziemlich frisch und unser Haus lag, von Bäumen umgeben, auch im Sommer immer im Schatten. Wie jeden Morgen schenkte ich dem kalten Steinboden nur kurze Beachtung und ging, das Wohnzimmer mit seiner hohen stuckverzierten Decke und seinen breiten, weißen Flügeltüren rechts neben mir lassend, in die Küche. Die Küche selbst war nicht ganz so groß, wie man es in diesem Haus erwartet hätte, verfügte jedoch über genug Platz einem massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes Platz zu bieten. Mein allmorgendliches Marmeladenbrot und das tägliche Glas Milch waren bereits aufgetragen. Heute musste ich zum Glück nicht diesen braunen, schleimigen Saft trinken, der mir angeblich zu mehr Konzentration und damit zu besseren Noten verhelfen sollte, es waren ja Ferien und meine Denkleistung war nicht gefragt. Nur mein Gehorsam wurde heute vorausgesetzt. Den gab es aber nicht um sonst! Mit dem traurigsten und bedauernswertesten Blick, den ich mimen konnte, setzte ich mich an den Frühstückstisch. Wenn es die Situation verlangte, würde ich auch weinen. Doch zunächst würde ich mich auf schweigend leiden beschränken, so wie sie, wenn ich nicht tat, was sie wollte. Ich würde nie mehr auch nur ein Wort mit ihr wechseln, wenn sie es tatsächlich schaffte, mich in diesen unseligen Bus zu setzen.

Gerade als ich zu schauspielerischer Hochform auflief, betrat mein Vater die Küche. Seine Persönlichkeit füllte das gesamte Hier und Jetzt. Nichts neben ihm hatte Bedeutung oder war auch nur einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit wert. Sofort lag eine fast greifbare Spannung im Raum. Meine Mutter, die bis eben gedankenverloren ein kleines Vesper für mich gerichtet hatte und mit dem Rücken zur Tür stand, drehte sich um und sah ihn an.

Mit einem geringschätzigen Ausdruck in seinem braungebrannten, fast jugendlichen Gesicht musterte er sie. Sein imposantes Auftreten duldete keinen Widerspruch. Einen Moment lang sah sie ihm direkt in die Augen, kämpfte ihr Stolz in ihr gegen die Demütigung, doch sie war ihm um 25 Jahre Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein unterlegen. Beschämt senkte sie den Blick.

„Der Bus fährt erst um halb zehn“ sagte sie leise, ohne aufzuschauen.

Es war so ungewöhnlich, meinen Vater hier in der Küche zu sehen, dass ich mich zwingen musste, ihn nicht anzustarren. Langsam kauend konzentrierte ich mich auf den süßen, fruchtigen Geschmack, der sich in meinem Mund ausbreitete, mich erfüllte, meinen Vater aus meinen Gedanken löschte. Wärme und dumpfe, watteweiche Dunkelheit stiegen in mir auf. Fast konnte ich wieder die Elfen tanzen sehen, als mich ein unsanfter Stoß aus meinem Zuckerrausch riss. Vorsichtig sah ich mich um. Er war weg und der Raum hatte seine gewohnte Vertrautheit wieder. Blass und nervös sah meine Mutter mich an.

„Träume nicht“, drängte sie verzweifelt „Komm lieber in die Puschen!“

Erst jetzt entdeckte sie meine bloßen Füße, die munter unter dem Tisch hin und her schaukelten. Entsetzt zog sie mich vom Stuhl und schob mich Richtung Foyer. Genau dahin, wo mein Vater vor wenigen Minuten entlang gegangen war. Unvermittelt standen wir uns gegenüber. Ich spürte seinen Blick auf mir. Spürte, wie der schwarz-weiß geflieste Boden seine zuverlässige Stabilität und Kälte verlor, direkt unter meinen nackten Füßen zu brennen begann.

„Auf, auf!“ vernahm ich die betont fröhliche Stimme meiner Mutter. Sie stand direkt hinter mir und schob mich an. Meine Rettung.

Ohne aufzuschauen huschte ich geschickt an ihm vorbei. Ich spürte, wie er mir abwartend und drohend hinterher sah, wie er mich in Gedanken verfolgte. Er wartete, das wusste ich. Er stand in der Eingangshalle und wartete. Sogar durch die Wand meines Zimmers spürte ich seine Aufmerksamkeit, seine Gegenwart. Vergessen war alle Rebellion. So schnell ich konnte, hatte ich meine Schuhe unter dem Bett hervorgeholt, Strümpfe aus der Schublade meiner Kommode am Fußende meines Bettes gekramt und angezogen. Dann hielt ich inne. Mein Herz raste, schlug mir bis zum Hals. Meine Knie wurden weich. Gleich würde er kommen, mich anschreien, mir seine Ablehnung ins Gesicht schleudern und ich würde mich auflösen, wie ein Windhauch durchs Zimmer schweben, um dann genau wie alle anderen Luftgestalten in den Zweigen des großen Baumes verloren zu gehen.

Statt meines Vaters kam meine Mutter. Sie drängte mich, schob mich, zupfte mich und zog mich, bis wir endlich zur vereinbarten Sammelstelle für ungewollte Kinder kamen.

Ein fröhliches Gewirr aus dutzenden Kinderstimmen umgab mich. Erstickte mich. Über den gesamten Platz verteilt standen kleine Grüppchen mit plaudernden Müttern inmitten ungeachtet abgelegter Taschen und Rucksäcke. Ein ganzes Volk quiekender Kinder in alten Hosen und unempfindlicher Oberbekleidung gaben dem Chaos Raum. Alle Spuren des Wohlstandes und der Herkunft wurden geschickt getarnt. Nur hier und da lugte an Hosen mit geflickten Knien und T-Shirts mit verblichenen Mustern ein Markenschild hervor.

Und bei genauerem Hinsehen gab es auch hier deutlich gezogene Grenzen. So standen Oshkosh- und Pre Natal-Mütter bei Gucci-Handtaschen- und Mercedesschlüssel-Trägerinnen und beäugten kritisch die Woolworth - Kinder, die sich ungeachtet dieser doch durchaus wichtigen Merkmale mit ihren Kindern vermischten.

An der Hand meiner Mutter, die die Meine fest umfasste, wurde ich durch die kreischende, brodelnde Schar gezogen, direkt auf eine Gruppe Mütter zu, etwas abseits des gemeinen Volkes. Ihren Luxuskarossenschlüssel brauchte meine Mutter, die Frau des erfolgreichen Scheidungsanwaltes Dr. Victor von Hochfelden, zur Identifikation nicht zu zücken. Man kannte sich. Und noch bevor ich es richtig begriff, waren Information und Kind kurzerhand ausgetauscht. Keine Szene, kein stumme Diskussion. Ein flüchtiger Kuss auf die Stirn, ein fahriges Streichen durch die schweren, dunklen Locken und schon hing ich an der Hand einer anderen Frau.

Noch spürte ich den Druck ihrer Finger, roch das schwere Parfüm, empfand den flüchtigen Kuss auf meiner Stirn. Doch sie war weg, war in der Menge verschwunden und hatte mich zurückgelassen. Verzweiflung stieg in mir auf, trieb mir Tränen in die Augen. Ich hatte ihr gar nicht sagen können, wie lieb ich sie eigentlich habe, dass ich Angst hatte um sie, um mich und überhaupt. Was würde geschehen, wenn ich nicht bei ihr war. Sie würde mich brauchen und ich war unter all diesen Kindern, die keine Ahnung hatten von mir, meiner Mutter, meiner Welt - der Welt.

Der Griff, der mich gefangen hielt, lockerte sich, wurde nachlässig - vergaß. Meine Chance!

Schnell wand ich mich aus der Bemächtigung der für mich fremden Frau. Doch diese, als geübte Mutter durchaus auf solche Attacken vorbereitet, festigte erneut ihren Griff und sah abschätzig zu mir herunter. Wut stieg in mir auf - türkisgrüne Wut. Sie betäubte mich, ergriff mich, zog mich in ein giftgrünes Gefühlschaos. Niemals würde ich zulassen, dass mich irgendjemand festhielt, niemals. Ich mobilisierte all meinen Mut und meine Kraft. Meine Oberschenkel zuckten, mein Fuß hob sich. Blitzartig und für meine Peinigerin völlig überraschend trat ich ihr an das in kostbaren Stoff gekleidete Schienbein. Damit hatte die zweifache Mutter wohlerzogener Jungs nicht gerechnet. Unvermittelt ließ sie mich los und griff mit beiden Händen an die Stelle, wo ich sie mit voller Wucht getroffen hatte. Meiner plötzlichen Freiheit gehorchend, setzte ich mich in Bewegung. Schnell, immer schneller rannte ich, geschickt um die Kinder und Muttis zirkelnd, in Richtung nach Hause. Ich musste sie retten, musste bei ihr sein, wenn er erneut zuschlug.

Noch einmal drehte ich mich um, ohne auch nur geringfügig das Tempo zu drosseln, in dem ich über den Platz rannte. Die genauestens festgelegten Gruppen mit ihrer scheinbaren Vornehmheit und Arroganz lösten sich auf in gemeinschaftlichen Tumult. Hier taumelte ein Kind, das ich in meiner wilden Flucht angestoßen hatte, dort rief eine Mutter, die mich gesichtet haben wollte. Hände griffen nach mir, ich wand mich und entkam. Manch Eine stellte sich mir siegessicher in den Weg - und doch - ich flog. Erst ihnen allen davon, dann auf die Nase.

Ich hatte einen dieser „ach wie putzigen“ Kinderrucksäcke mit netten kleinen Marienkäfern darauf übersehen und mich der Länge nach auf dem harten Asphalt ausgestreckt. Noch einmal spürte ich den starken Willen zu entkommen, der alles in mir beherrschte, doch es war zu spät. Ehe ich es mich versah, waren meine Verfolger um mich versammelt. Hart wurde ich am Oberarm gefasst und in die Höhe gezogen. Ein kurzer, musternder Blick. Kein Blut! Keine Schrammen! Alles gut! Unsanft brachte man mich zurück in die Gefangenschaft.

„So ein unerzogenes, undankbares Geschöpf“ wisperte und tuschelte es hinter mir und wie sehr man doch meine arme Mutter bedauern müsse. Wieder stiegen Angst und Verzweiflung in mir auf. Er würde sie töten!

Tränen schossen mir in die Augen, ich schrie. Doch Keiner sah meine Tränen, Keiner hört mein Schreien, keiner spürte meine Angst. Es war in mir - unsichtbar und besser so. Einen zweiten Fluchtversuch gab es nicht. Der Kreis um mich wurde enger gezogen und für ein Kind, sei es noch so einfallsreich und wehrhaft, nicht zu durchbrechen.

Als der Bus auf den Platz auffuhr, war alles wieder in seiner gewohnten Einvernehmlichkeit und scheinbaren Ordnung. Grob wurde ich in das Gefährt geschoben, der an beiden Ausgängen von übereifrigen Muttis bewacht wurde, die einen erneuten Ausbruchversuch meinerseits fürchteten. Keine Chance für kleine Mädchen. Missmutig setzte ich mich, dicht gedrängt an eines der Fenster. Trotzig, wurde später gesagt -trotzig hätte ich mich in die Ecke verzogen. In kürzester Zeit war der Fahrgastraum gefüllt mit all denjenigen und dem, was noch kurz zuvor den gesamten Kirchplatz eingenommen hatte. Der Rest konzentrierte sich rund um das Gefährt, reckte und streckte sich hinauf zu den Fenstern. Eltern drängten sich noch einmal hinein, Kinder noch einmal hinaus. Es wurde umarmt, geküsst, verabschiedet, als gäbe es kein nächstes Mal. Ich beugte mich unter den Fensterrand. Verbarg mein erhitztes Gesicht hinter meinen Locken. Das Gefühl der Liebkosung auf meiner Stirn war einem schmerzhaften Pochen meines rechten Oberarmes gewichen, an dem ich kurz zuvor zurück in den Gehorsam gezogen worden war. Mein Kopf dröhnte, meine Gedanken rasten. Ein heftiges Zittern durchfuhr den Bus, meinen Körper, ein Rucken nach vorne und die Welt da draußen löste sich auf, blieb einfach dort, wo sie war, zurück. Ich versank noch tiefer hinter der eiskalten Glasscheibe des Busses, die meine Stirn angenehm kühlte. Langsam, ganz langsam wich das Giftgrün meiner Seele dem sanften, stillen Dunkel meiner Phantasie. Die so quälend fröhlichen Stimmen, das so aufdringliche Gelächter, Getuschel und Geschwatze schien mit jedem Meter, den der Bus sich durch den Wald hinauf auf den Königstuhl arbeitete, leiser zu werden. Blieb zurück, dort wo alles ist. Meine aufgewühlte Seele kam zur Ruhe, zu tiefschwarzer Ruhe. Vorsichtig hob ich den Blick. Ich hatte mich aufgelöst. Glitt mit dem Schatten meines Reisegefährtes über steile Böschungen, durch graues Laub, das wild aufgestöbert durch die Luft tanzte und gleißendes Sonnenlicht, das ab und zu seinen Weg durch das dichte Sommerblätterdach auf den kühlen Waldboden fand. Ein unsanfter Stoß in die Rippen brachte mich zurück. Wie ein Schlag ins Gesicht trafen mich die Stimmen. Einen Moment lang gab mein Körper dem plötzlichen Geschwindigkeitsabfall des schweren Wagens in einer der 180 Grad - Wendung nach, um dann kurz darauf wieder in den Sitz gedrückt zu werden. Immer steiler und kurvenreicher wurde die Straße hinauf zum Bierhelderhof, unserem Ziel. Empört wandte ich mich in die Richtung, aus der der Angriff kam und sah in zwei lustig funkelnde, blaue Augen, die mich neugierig anschauten. Rotblonde Haare umrahmten das sommersprossige Gesicht. Und die kleine, leicht sonnengerötete Stupsnase zeigte direkt gen Himmel, in diesem Fall gen Bushimmel.

Fröhlich wippte sie auf dem Platz neben mir auf und ab und musterte mich dabei neugierig.

Als offensichtlich unwichtig erkannt, drehte ich mich wieder ab, um erneut in meine Tagträume zu flüchten. Doch auch diesmal ließ sie mir keine Chance, zog mich am Ärmel und sah mich unverwandt an. Wieder sah ich in dieses freundliche, lustige Gesicht und konnte mir ein Lächeln nur schwer verkneifen. Irgendwie hatte sie wohl das Zucken um meine Mundwinkel bemerkt und grinste mich nun mit einem Lächeln an, das mich mit der Welt und meinem Schicksal versöhnte.

Gut, ich war gefangen in diesem Bus mit all seinen gut gelaunten, fröhlichen Kindern. Jedes in seiner Abteilung, genau festgelegt nach sozialer Herkunft. Und ja, ich wurde abgeschoben in ein Sommerferienauffanglager für ungewollte Kinder, aber da gab es jemanden, der mich so herrlich anlachte, als gäbe es nichts Schöneres auf dieser Welt, als neben mir in diesem Zeltlagertransport zu sitzen. Plötzlich wurde alles ganz leicht, ganz klar und einfach.

Der Bus fuhr aus dem Wald heraus auf einen kleinen Parkplatz, wo bereits drei weitere Busse hielten. Aus dessen Türen strömten unablässig Kinder. Hüpfend, lachend, plappernd zog sich ein Strom von buntem, lebendigem Dasein am Waldrand entlang zu einem etwas erhöht liegenden Haus am Ende eines Maisfeldes. Auch unser Bus schob unter Stöhnen die Glastüren auseinander und entließ uns in den Strom von Sommer, Sonne, heißem Asphalt und kühlem Wald. Esther, meine neue kleine Begleiterin, und ich verschmolzen mit dem bunten Treiben und flossen mit all den anderen in die Gefangenschaft des Freizeitgeländes. Sicher eingezäunt, dass auch ja keines verloren geht. Wir mussten wohl so ziemlich die Letzten der zu erwartenden Kinder gewesen sein, denn wie von Geisterhand schlossen sich die großen eisernen Flügeltüren hinter uns und machten ein Entkommen endgültig zu Nichte.

Panik durchfuhr mich erneut. „Er wird sie töten“ schoss es mir durch den Kopf.

Instinktiv suchte ich nach einer Fluchmöglichkeit, einer Lücke im Zaun, einer flachen Stelle in der Mauer, die es durchaus zu überwinden ging. Mein Blick durchforstete die große Wiese mit den riesigen, weißen Zelten, die dort extra für die Dauer der Ferien aufgeschlagen worden waren. Wanderte entlang des Zaunes zu dem Spielplatz auf der anderen Seite, auf dem eine ausgediente Dampflok, kindgerecht ungefährlich gemacht, stand. All das wirkte wie ein Traum. So unwirklich wie ich, hier mitten in dieser Schar kreischender, von Ferienlaune erfüllter Kinder. Als hätte Esther meine Gedanken und Gefühle gespürt, schob sie ihre Hand in die Meine.

Ich schloss meine Augen, spürte die Wärme und das Leben, das aus ihrer Hand in die meine zu fließen schien und mich völlig erfüllte. Die Welt um mich herum tauchte auf in farbenfrohem, warmem Licht. Zuerst konnte ich mich gegen ein Lächeln nicht mehr wehren, dann wurde aus dem Lächeln ein Grinsen und zu guter Letzt kam das, was sich da unkontrolliert in mir regte sturmflutartig nach außen. Schaffte sich Platz und Raum in Zeit und Gegenwart. Überflutete mich, riss mich mit, entließ mich in eine andere Realität. Ich wurde eins mit all der mich umgebenden Freude, der Sommersonnenlaune, dem Ferienzeltlagergefühl. Endlich gab mein Sein dem kindlichen Impuls nach, wurde meine Seele frei. Nach einer schier nicht enden wollenden Ansprache des Obererlebnispädagogen wurden wir namentlich aufgerufen und in die Zelte verteilt. Jede dieser Behausungen als Schutz gegen Regen und anderer Unannehmlichkeiten, war bestückt mit fünfzehn Feldbetten. Eines davon war für mich gedacht. Mein neues Privatdomizil für die nächsten sechs Wochen. Esthers Residenz lag neben der Meinen, gleich neben dem Zelteingang und gegenüber unserem Zeltwebel, denn jedem Zelt stand ein Untererlebnispädagoge vor. Die anderen dreizehn Insassen hatten schnell ihre Wohnsitze bezogen und mit einzigartigen, ganz individuellen Accessoires ausgestattet. Sie thronten zwischen neuen lilablassblaukarierten, mit Goldbeschlägen verzierten Rucksäcken und eleganten Picknicksets, zum stilvollen Aufnehmen der Mahlzeiten. Zwei der Mädchen, eine der Beiden war Katharina, die Tochter unseres Nachbarn und zwei Jahre älter als ich, hatten sogar Decken mitgebracht, obwohl jedes der Chaiselongues mit einer Militäratmosphäre verbreitenden, mausgrauen Decke ausgestattet war. Passend zu der grauweißen Leinenbespannung der Feldbetten auf hellgrauem Planenboden unter weißem PVC-Dach.

Neid und Wut brach in mir auf, meine wiederentdeckte Kindheit zu unterdrücken. Warum hatte ich keine cremeweiße, flauschige Wolldecke dabei. Wo waren mein mit Blumendekor verzierter Teller und mein silberfarbenes Besteck? Sogar Servietten hatte sie in ihrem „Ich nehme mein Mittagessen stilecht ein“ – Care-Packet. Ohne den Blick von ihr zu wenden, angelte ich nach meinem „Ich gehöre dazu“ - Rucksack. Doch ich griff ins Leere. Wiederholt schwenkten meine Hände Richtung Zeltplanenboden, doch da war nichts.

Als sie zu mir herüberblickte nahm ich demonstrativ meine kratzige, schmutziggraue Zeltlagereigentumwohlfühlausstattung in den Arm. Gespielt abgestoßen wandte sie sich ab.

Das war ja so gemein! Sie sollte es nicht besser haben als ich. Ihr Vater war nur ein seltsamer, schrulliger Mann, niemand wusste so genau, was er den ganzen Tag machte und manchmal war er wochenlang nicht zu sehen. Und das Haus, in dem sie lebten, war auch nur gemietet, betonte meine Mutter immer. Mein Vater dagegen war Dr. Victor von Hochfelden. Ein bedeutender Rechtsanwalt in Sachen Scheidungs- und Familienrecht mit zweifachem Scheidungsselbstversuch. Wobei Letzteres von meiner Mutter nur ungern zur Sprache gebracht wurde. Auf jeden Fall war mein Vater viel bedeutender und somit hatte ich das Recht auf weißen Plüschträumen gebettet zu werden und nicht die schöne Katharina. Aber wo war, verdammt noch mal, mein Rucksack. Fluchen durfte ich nicht, genau deswegen tat ich es.

Wieder und wieder griff ich ins Nichts. Unter das Bett war er nicht gerutscht, auf dem Bett lag er nicht, auch die Decke hatte ihn nicht verborgen. Langsam beschlich mich ein ungutes Gefühl, das immer mehr zur Gewissheit wurde; ich hatte ihn im Tumult des auf dem Kirchplatz stattgefundenen Homerun einfach vergessen. Diese blöden übereifrigen Muttis hatten zwar mich siegestrunken in den Bus verfrachtet, aber mein „ich hab dich lieb Gedanke“ meiner Mutter war zurückgeblieben. War mir einfach verloren gegangen. Vielleicht hatte sie mir auch eine kuschelweiche Schmusedecke eingepackt und meinen orangefarbenen Lieblingspicknickbecher. Noch einmal sah ich fieberhaft überall nach. Drehte das Unterste zu oberst und das Oberste zu unterst. Schließlich hing ich mit den Beinen in der Luft, Kopf unter von der Kante meines Feldlagers, das zu kippen drohte. Doch mein Stück eigenes zu Hause war und blieb verschwunden. Resigniert setzte ich mich wieder auf.

Tränen kämpften sich in mir hoch. Schnell schloss ich meine Augen, um der Schwäche nach außen keinen Raum zu geben, doch zu spät, heiß lief mir eine Träne die Wange herunter und hinterließ eine brennende Spur der Scham auf meinem Gesicht. Noch bevor ich sie mit meinem Ärmel erwischte, tropfte sie auf meinen Schoß. Höhnisches Gelächter drang in mein Bewusstsein, dröhnte durch meinen Kopf. Ich sah auf und wusste genau, dass ich auch diesmal nicht wirklich Jemanden sehen würde, der mich auslachte, und doch war es da, dieses Lachen, dieses nicht hörbare erniedrigende Lachen. Es war kein neues Gefühl, mir wohl vertraut und folgte mir wie ein Schatten. War immer da, wo ich schwach wurde, wo meine Gefühle nach außen traten und sei es nur in Form einer kleinen Träne.

Esther, die mich die ganze Zeit beobachtet hatte, setzte sich neben mich auf die Bettkante und hielt mir ein blütenweißes Leinentaschentuch vor die Nase. Sie lachte mich nicht aus oder sah verschämt weg, sie kam nicht, um mir irgendetwas Aufmunterndes zu sagen wie, stell dich nicht so an, ist doch nur eine Tasche. Sie saß da, sah mich an mit ihrem sanften Sommersonnenhimmelblau und hielt mir einen Hauch von Trost entgegen, zart mit feinen Blümchen bestickt. Nachdem ich das Taschentuch genommen und meine zweite, verräterische Träne aufgefangen hatte, stand sie auf, ging zu ihrem Platz, holte ihren Rucksack und begann, zu meinen Füssen sitzend, auszupacken. Neugierig setzte mich zu ihr auf den Boden.

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330 стр. 1 иллюстрация
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9783742769596
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