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Holm Schneider

Gewagte

Beziehungen


Zu diesem Buch

Warum heiratet ein junger Mann eine Frau im Rollstuhl? Können Blinde gute Eltern sein? Lassen sich tiefe Gespräche führen, wenn der andere kaum ein Wort hervorbringt? Und gibt es sie wirklich: die Liebe eines bildhübschen Mädchens zu einem, der aussieht wie ein Vampir?

Menschen mit Behinderung müssten sich Hochzeit, Kinder und solche Flausen aus dem Kopf schlagen, meinen viele.

Dieses Buch erzählt von Menschen mit unterschiedlichen Handicaps, die ihren Wunsch nach der eigenen Familie trotzdem verwirklicht haben. Und von Kindern, die ihre Eltern, obwohl sie anders sind, nicht weniger lieben.

Zum Autor

Dr. Holm Schneider (geb. 1969) arbeitet als Professor für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Erlangen und setzt sich seit vielen Jahren für Kinder und Jugendliche mit genetischen Besonderheiten ein.

Er ist ehrenamtlich in einem Sportverein für Menschen mit Down-Syndrom (Laufclub 21) sowie im Bundesvorstand der Aktion Lebensrecht für Alle e. V. tätig und leitet den medizinischen Beirat der Selbsthilfegruppe Ektodermale Dysplasie. 2015 verlieh die Stiftung Lebenshilfe Erlangen ihm den Erlanger Inklusionspreis.

Holm Schneider ist verheiratet und Vater von sechs Kindern. Auf längeren Bahnreisen schreibt er Bücher für Kinder und Erwachsene (siehe auch www.stachelbart-verlag.de).

Im Neufeld Verlag erschienen bisher von Holm Schneider:

 »Was soll aus diesem Kind bloß werden?« 7 Lebensläufe von Menschen mit Down-Syndrom, Schwarzenfeld, 2. Auflage 2014

 Ein Baby im Bauch, illustriert von Peter Guckes, Schwarzenfeld, 2. Auflage 2015


Holm Schneider (hintere Reihe, 2. von rechts) mit

Läuferinnen und Läufern des Laufclubs 21

Impressum

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-774-4

Dieses Buch in gedruckter Form:

ISBN 978-3-86256-070-7, Bestell-Nummer 590 070

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson

Umschlagbild: JamenPercy/Shutterstock.com

Fotos im Innenteil: Privat; Hartmut Streckenbach

Satz: Neufeld Verlag

© 2016 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

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Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Zum Autor

Impressum

Zwei Vorworte

Ina & Christian

Küssen verboten

Jean-Pierre & Sabine

Falsche Haare

Merle & Thomas

Etwas Mut

Bernd & Kerstin

Gene & Reißverschlüsse

Daniela & Bernhard

Kein Unfall

Berthold & Anja

Hände falten

Zu guter Letzt …

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Über den Verlag

Zwei Vorworte

Mein Dank gilt Professor Dr. Holm Schneider für ein außergewöhnliches Buch. Dabei enthält es eigentlich gewöhnliche Geschichten: Sie handeln von Liebe, Heirat und Familiengründung. Aber doch etwas anders, als wir es kennen. Denn es trauen sich Menschen, sich zu trauen, die scheinbar aus verschiedenen Welten stammen. Jeweils einer der Partner hat eine Behinderung, der andere nicht. Und auch diese Paare haben den Wunsch, Kinder zu bekommen.

Das Grundgesetz garantiert den Schutz von Ehe und Familie – das gilt für alle, ob mit oder ohne Behinderung. Auch die von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention verbietet ausdrücklich die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in Fragen, die Ehe, Familie und Elternschaft betreffen. Wie kommt es, dass trotzdem Menschen mit Behinderung der Wunsch nach einer eigenen Familie abgesprochen wird? Meiner Meinung nach, weil Menschen mit und ohne Behinderung in verschiedenen Welten leben. Schon im Kindergarten werden sie getrennt. Menschen mit Behinderung werden immer noch in sogenannten »geschützten« Sondereinrichtungen untergebracht. Aber wer schützt hier eigentlich wen vor wem? Inklusion, also die uneingeschränkte gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen, ist längst noch nicht Alltag. Auch weil wir nicht gemeinsam leben, lernen wir uns nicht kennen und miteinander umzugehen.

Mit den Liebes- und Lebensgeschichten in diesem Buch macht Holm Schneider deutlich, wie Liebe solche künstlichen Grenzen überwindet und als erstes den Menschen sieht, nicht seine Beeinträchtigung. Das Buch zeigt, dass Inklusion und selbstbestimmte Teilhabe keine Fantasiegeschichten sind.

Und außerdem: Ist nicht jede Ehe eine gewagte Beziehung?

Hubert Hüppe, MdB

Ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Ein Evolutionsbiologe, wenn für ihn Gott keine mögliche Wirklichkeit ist, würde dieses Buch vielleicht kopfschüttelnd zur Seite legen, hätte er nur den Klappentext gelesen.

Aber auch ein solcher Evolutionsbiologe weiß, dass sich aus dem Zusammenleben von Organismen, auch von einzelnen Individuen, ob gewollt oder zunächst unbeabsichtigt, etwas Weiterführendes, Höheres, Überraschendes entwickeln kann, wenn jeder der Beteiligten seine »Leistung« für die Gemeinschaft erbringt.

Einem gläubigen Biologen jedoch, der Gott gegenüber offen ist, bewirkt das hier geschilderte Zusammenstehen zweier sich Liebender zusätzliche Sichtweisen jenseits von Arterhaltung, Selektion und »survival of the fittest«. Für einen solchen Biologen bleibt – blickt er auf das Lebewesen Mensch – die Liebe nicht eine saisonale Bindung und Gemütsverfassung, die auch wieder vergehen kann oder völlig rational gesteuert zu sehen ist, sondern sie ist Geschenk und Auftrag zugleich.

Rein rational und ausschließlich biologisch betrachtet, scheint die Liebe solch ungleicher Partner, wie sie Holm Schneider beschreibt, ein ausgesprochenes Paradox. Wie schwer mag es doch den Gehandicapten fallen, an die Liebe und nicht nur an das Mitleid des Partners zu glauben, um einer bis an den Tod gelebten Ehe sicher zu sein? Gewinnen werden am Ende beide, wenn sie sich der Herausforderung stellen, einander in Liebe zu vertrauen.

Was ist das Geschenk, die Gabe, die jeder von beiden, im Ergebnis einer Symbiose nicht unähnlich, erhält? Liebe, Achtung, tiefste, sonst nirgends in dieser Weise geschenkte Wertschätzung, auch Hilfe in Bedrängnis und Handicap der eine. Der andere, nicht eingeschränkte Ehepartner kann sich gerade auf Grund der bezwungenen anfänglichen Hindernisse einer großen Tiefe seiner Liebe sicher sein. Zudem belohnt ihn das tägliche Überwinden der verschiedensten Hürden mit Freude; je höher die Hürden, desto tiefer die Freude.

Mancher Evolutionsbiologe, der im Homo sapiens nur ein geistbegabtes, höheres Säugetier sieht, könnte nach Sinn und Berechtigung fragen, wenn Eltern in Liebe, jedoch unter Inkaufnahme möglichen Leids, Kindern das Leben schenken.

Aber ist unser menschliches Leben überhaupt allein nach unserer Vernunft und mit unseren irdischen Kräften zu bestehen?

Prof. Dr. Reinhard Agerer, München

Evolutionsbiologe


Bitte alle recht freundlich!

INA & CHRISTIAN

Küssen verboten

Ina seufzte. Was hatte sie bloß auf diesem Chorausflug zum Kloster Weltenburg verloren? Sie war Sportlerin – Biathletin, Diskuswerferin, seit kurzem Mitglied der Goalball-Nationalmannschaft. Doch statt zu trainieren stand sie hier in einer alten Kirche herum, die sich trotz der Stimmen von Jenny, Valentin und den anderen fremder anhörte als jede neue Sporthalle.

Ja, Chormitglied war sie auch. Davor hatte sich keiner drücken können, nicht mal Valentin, der fast immer falsch sang. Der Chor war die heilige Kuh der Blindenschule. Es gab kein Vorbeikommen, wenn er einem im Wege stand. Er hatte Vortritt seit eh und je, selbst vor dem Leistungssport.

Lustlos klapperte Ina mit dem Blindenstock an eine schmale Säule, neben der ein Vorhang bis auf Knöchelhöhe herabhing. Ein Beichtstuhl vermutlich.

Von links kam jemand auf sie zu, sie erkannte ihn an seinem schlurfenden Schritt: Christian, ein junger Mann, der an der Blindenschule Zivildienst leistete. Er tippte an ihren Arm und fragte: »Soll ich dir was Merkwürdiges zeigen?«

»Nur zu«, murmelte Ina. Christian ergriff ihre Hand.

»Da sind Felsbrocken in der Wand, fühl mal!« Er führte ihre Finger zu dem kantigen Gestein, das den Beichtstuhl umgab. Mäßig interessiert betastete Ina die zerklüftete Oberfläche, die so gar nicht zu den Marmorsäulen und den Verschnörkelungen ringsum passte.

»Keine Ahnung, warum man die hier eingebaut hat«, bekannte Christian. »Auf dem Bild darüber ist jedenfalls das Schiff von Christoph Kolumbus zu sehen. Damit sollen die Benediktiner in Amerika gelandet sein.«

Ina versuchte sich ein Schiff mit Mönchen an Bord vorzustellen. Doch Christians Gegenwart lenkte sie ab. Er blätterte im Kirchenführer. Eigentlich ein ziemlich netter Bursche, dachte sie. Schade, dass er ihre Hand gleich wieder losgelassen hatte. Aber … Ihre Stimmung hellte sich auf. Der Gedanke, mit dem schüchternen Zivi anzubandeln, gefiel ihr. Flirten war das beste Mittel gegen Langeweile. Das würde den Tag retten!

Es machte ihr Spaß, ihren ganzen Charme spielen zu lassen, was Christian allerdings erst auf der Rückfahrt zu bemerken schien. Sie wusste ja nicht, dass er, seit seine Freundin ihn verlassen hatte, quasi taub und blind für weibliche Annäherungsversuche war. Seine Zurückhaltung erhöhte für sie nur den Reiz des Spiels, das dann auf einmal keines mehr war …

Zwei Wochen lang musste Ina auf eine weitere Gelegenheit warten, die sich endlich im Münchner Hirschgarten bot. Sie waren mit dem Tandem hergekommen und froh, noch an einem der Tische Platz zu finden. Umgeben von Brathähnchenduft, Gelächter und dem Klingen der Maßkrüge genossen sie den lauen Sommerabend, bis Ina unvermittelt den Versuch unternahm, ihre Gefühlslage in Worte zu fassen. Christian wirkte irritiert. »Ich mag dich auch«, erklärte er, aber als Betreuer sei es ihm natürlich nicht erlaubt, mit einer 17-jährigen Schülerin eine Beziehung anzufangen. Außerdem habe er wenig Lust auf eine neue Beziehung, weil er München bald verlassen werde, um in Erlangen ein Informatikstudium zu beginnen.

So schnell gab Ina nicht auf. Hier war ganzer Einsatz gefragt, auch wenn es nicht um Medaillen ging. Sie summte ihm »Küssen verboten«, den aktuellen Hit der Prinzen, ins Ohr.

Christian stellte seinen Bierkrug ab. »Probieren wir’s«, entschied er.

»Nur nicht so schüchtern«, wollte Ina sagen. Doch da spürte sie schon den Druck seiner Lippen und konnte nichts, gar nichts mehr sagen.

Am Sonntagnachmittag rief Christian sie zu Hause an.

»Was ist eigentlich deine Konfession?«, erkundigte er sich.

»Warum willst du das denn wissen?«

»Oma hat danach gefragt … War ihre erste Frage, als ich von dir erzählt habe.«

»Nun, wenn sie das so interessiert: evangelisch, nicht aus der Kirche ausgetreten. Ist das nicht genauso nebensächlich wie meine Schuhgröße?«

»Für mich schon. Aber sie war entsetzt, dass ich keine Ahnung davon hatte. Oma ist noch richtig katholisch.«

»Dass ich blind bin, stört sie nicht?«

»Nein, dazu hat sie nichts gesagt.«

Zu Christians Erleichterung tauchten im Alltag an der Blindenschule keine unerwarteten Fragen auf. Obwohl beide sich darum bemühten, lange geheim blieb ihre Verbindung nicht. Eigentlich war es nur Jenny, Inas Freundin, der sie sich als Paar zu erkennen gaben, doch nach und nach bekamen auch andere etwas davon mit, sogar Erzieher, die anscheinend ein Auge zudrückten. Ina war als aufmüpfig bekannt, hatte sich wegen ihres Trainingspensums Extra-Essenszeiten und die Befreiung von den obligatorischen Brettspielen erstritten und ließ sich kaum in Verlegenheit bringen. Dass sie Christian, dem vier Jahre älteren Zivi, gegen ihren Willen »ausgeliefert« sein könnte, zog niemand ernsthaft in Betracht.

Dann ging Christian zum Studium nach Erlangen. Er besuchte Ina an den Wochenenden, fuhr mit zu Wettkämpfen, die immer mehr Zeit einnahmen, und träumte nachts davon, wie Goalball-Akteure mit dunklen Brillen den Klingelball über das Spielfeld schleuderten, wo er ganz allein – statt Ina und ihren zwei Mitspielerinnen – das neun Meter breite Tor verteidigen musste.

Die Stunden zu zweit verstrichen meistens viel zu schnell, doch Christian war auch froh darüber, dass Ina ansonsten allein zurechtkam. Die ersten Semester forderten ihn sehr. So konnte er sich auf neue Programmiersprachen konzentrieren, während sie im Trainingslager der Goalball-Nationalmannschaft schwitzte.


Ina beim Goalballtraining in Aktion

In den Ferien leisteten sie sich Ausflüge in die Natur und die Münchner Konzertsäle oder trafen sich mit Freunden. Seit sie bei einem gemeinsamen Konzertbesuch die Frage: »Ist das dein Zivi?« mit einem eindeutigen Kuss beantwortet hatten, sprach es sich herum, dass sie ein Paar waren.

Christian hörte, wie zwei Kommilitonen sich darüber lustig machten, aber das regte ihn nicht auf. Er wusste, was er tat und was er an Ina hatte. »Das ist doch gar keine richtige Frau«, meinte ein Freund, woraufhin Christian den mit ihm geplanten Grillabend absagte. Das war ihm einfach zu blöd.

Nein, Ina madig machen konnte ihm niemand mehr, auch wenn der Hormonüberschwang des ersten Jahres irgendwann vorbei war. Denn inzwischen verband sie eine tiefe Zuneigung, gestützt auf viele gemeinsame Erlebnisse, aus denen allmählich eine gemeinsame Vergangenheit wurde.

Bis zum Ende der Schulzeit hatte Christian sich als Skilehrer im Bayerischen Wald etwas Geld verdient, doch für einen solchen Nebenjob waren während des Semesters in Erlangen die Berge zu weit weg. Also übernahm er Studentenjobs, die etwas mit Computern zu tun hatten. Er wurde Netzwerkadministrator in einer Erlanger Klinik, schrieb Programme, die den Ärzten die Arbeit erleichterten, wurde weiterempfohlen und stieß auf immer größere Nachfrage. Er teilte sich die Arbeit mit einem Studienfreund, aber die Menge an Aufträgen war bald kaum noch zu bewältigen; sie hätten eine eigene Firma gründen und davon leben können.

Warum eigentlich nicht?

Dieser Gedanke ließ Christians Studienfreund nicht mehr los. So kam es, dass beide kurz vor Studienabschluss zusammen eine Firma für Computerdienstleistungen anmeldeten.

Ina hatte Christian dazu ermutigt. Sie würde noch anderthalb Jahre lang in München zur Schule gehen und dort das Abitur ablegen. Danach wollte sie zu ihm nach Erlangen ziehen und eine Ausbildung machen. Längerfristigen Plänen stand also nichts im Wege.

Obwohl Christian vorhatte, die Firma zunächst nebenbei zu führen und sein Informatikstudium noch zu vollenden, sah er sich drei Jahre später vor die Entscheidung zwischen Abschlussarbeit und Firma gestellt. Lange zögerte er nicht. Aus dem schüchternen Zivi war ein junger Mann geworden, der wusste, was er konnte, und den Risiken nicht schreckten. So wagte er mit 28 Jahren ohne Studienabschluss den endgültigen Sprung in die Selbstständigkeit.

Ina folgte Christian wie geplant in die fränkische Universitätsstadt und absolvierte eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation. Am Erlanger Schlossplatz richteten sie sich ihre erste gemeinsame Wohnung ein. Disharmonien gab es selten, und wenn, dann hielten sie nicht lange an.

Dass Ina als Mitglied des Goalball-Nationalteams fast jeden Tag trainieren musste, traf bei Christian auf Verständnis. Auch er hatte manchmal noch spätabends in seiner Firma zu tun. Die Ausbildung forderte Ina nicht zu sehr und machte Spaß, anschließend fand sie Arbeit in einem Call Center in Nürnberg.

Nach ein paar Jahren fühlten beide sich in Erlangen daheim. Christian, der nun schon über einige Erfahrung als Firmenchef verfügte, wurde zum Landesvorsitzenden der Wirtschaftsjunioren gewählt. Fortan musste er viel reisen, auch ins Ausland. Ina begleitete ihn gern. Die Wirtschaftsjunioren erwiesen sich als besonders aufgeschlossene Gemeinschaft, Inas Behinderung war nie ein Problem. Manchmal wurde sie direkt einbezogen, zum Beispiel von der Leiterin einer teambildenden Maßnahme, die Ina bat, ihre Ohren als »Lauscher« offen zu halten und der Gruppe hinterher ihre Eindrücke mitzuteilen. Neue gemeinsame Freundschaften entstanden.

Besonders berührend fand es Ina, dass ihr auf einer Weltkonferenz der Wirtschaftsjunioren 2 500 Teilnehmer spontan ein Geburtstagsständchen sangen.

Erst nach elfeinhalb Jahren, als keiner mehr fragte, wann sie denn nun endlich heiraten würden, fiel Christian und Ina diese Frage wieder ein, weil sie seit kurzem ernsthaft an Kinder und Familienleben dachten. Aber beim Standesamt war nur noch ein Termin frei: der 5. November – kurz nach den Paralympics in Athen. Bis zu ihrem Abflug blieben genau 14 Tage Zeit zur Vorbereitung.

Freunde verschickten die Einladungen, während Christian und Ina schon im Flugzeug saßen. Die Verwandtschaft war überrascht. Mit einer Hochzeit hatte niemand mehr gerechnet. Leider vergingen die drei Wochen in Athen ganz anders, als Christian es sich vorgestellt hatte, weil alle Sportler streng getrennt von ihren Partnern untergebracht waren. Er begann sich in der großen Stadt einsam zu fühlen, selbst der Aufstieg zur Akropolis wurde irgendwann langweilig. Wollten jene, die das angeordnet hatten, dafür sorgen, dass seine Vorfreude auf die Hochzeit wuchs? Jedenfalls merkte er, wie sehr er Ina vermisste. Gleich nach dem Rückflug ging er Eheringe kaufen.

Und dann war er da, der Tag, an dem Christian und Ina keinen Gedanken an ihre neuen Steuerklassen verschwendeten – ein sonniger Herbsttag, wie er schöner nicht hätte sein können. Nach der Trauzeremonie in den ehrwürdigen Räumen der Erlanger Stadtbibliothek, wohin das Standesamt vorübergehend ausgelagert war, feierten sie mit 85 Gästen.

Frisch verheiratet arbeitete Ina stundenweise in Christians Firma mit, wo sie die Telefonhotline übernahm. Aber irgendwann wollte sie doch »ihr eigenes Ding machen«, und auch Christian fand, sie sollten nicht zu sehr aufeinanderhocken. Sie bewarb sich am Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Behinderter in Erlangen und wurde dort als Mitarbeiterin, später als Leiterin eines von der Aktion Mensch geförderten Projekts angestellt.

Daneben trieb sie weiterhin Leistungssport, wurde mit dem Goalball-Team 2005 Europameisterin und gewann zwei Jahre darauf die Weltmeisterschaft.

Auch nach der Hochzeit unternahmen sie in ihrer knappen Freizeit viel gemeinsam. Beide hatten Interesse an der Geschichte und Kultur fremder Länder, sodass ihnen auf Urlaubsreisen nach Amsterdam, Venedig und Verona, Kuala Lumpur und Singapur nie der Gesprächsstoff ausging.


Am Canal Grande in Venedig

Natürlich stellte Inas Blindheit besondere Anforderungen an Christian: Er war es, der die Wäsche sortieren und staubsaugen musste. Daran hatte er sich gewöhnt. Sie räumte die Spülmaschine aus und ein und kochte zusammen mit ihm. Kleine handwerkliche Tätigkeiten mochten sie beide.

Daheim war Inas Behinderung für ihn kaum wahrnehmbar, weil sie weitgehend allein zurechtkam. Aber auch auf Reisen vergaß Christian bisweilen, dass seine Frau blind war. Mehrmals musste sie regelrecht einfordern, dass er sie am Arm führte oder in einer neuen Umgebung zur Toilette brachte.

Mit der Zeit wurde der Wunsch nach Kindern immer stärker, auch wenn Ina klar war, dass für sie damit der Rückzug vom Wettkampfsport verbunden sein würde – wohl schon ab dem Moment, in dem sie wusste, dass sie schwanger war.

Konnte eine blinde Frau eine gute Mutter sein? Da Blinde in Deutschland keine Kinder adoptieren dürfen, schien zumindest die Mehrzahl der Politiker daran zu zweifeln.

Konnte jemand wie sie überhaupt gesunde Kinder bekommen? Welche Fragen würden in diesem Zusammenhang noch auftauchen?

Ina war nicht blind zur Welt gekommen, sondern wegen eines angeborenen Glaukoms – einer Abflussstörung des Kammerwassers im Auge, die zu steigendem Druck auf den Sehnerv führt – mit 16 Jahren erblindet. Die Veranlagung dazu sei erblich, hatte sie gehört. Ihr älterer Bruder war ebenfalls betroffen. Musste sie sich um die Augen ihres Babys Sorgen machen? Ina entschloss sich, das nicht zu tun. Nein, sie würde ganz altmodisch »guter Hoffnung sein«.

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