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Hellen Scheefer
Aufenthalt bei Mutter
Das Stockholmsyndrom
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Bei Mutter. Eine Idee.
Bei Mutter. Ankommen.
Elli. eins.
Beth. eins.
Beth. zwei.
Beth. drei.
Elli. zwei.
Beth. vier.
Elli. drei.
Elli. vier.
Beth. fünf.
Beth. sechs.
Beth. sieben.
Elli. fünf.
Beth. acht.
Bei Mutter. Der Fernsehabend.
Elli. sechs.
Lisa. eins.
Elli. sieben.
Elli. acht.
Elli. neun.
Lisa. zwei.
Lisa. drei.
Beth. neun.
Beth. zehn.
Lisa. vier.
Lisa. fünf.
Beth. elf.
Bei Mutter . Weiter Fernsehen.
Beth. zwölf.
Elli. zehn.
Elli. elf.
Lisa. sechs.
Bei Mutter. Samstag Morgen.
Lisa. Sieben.
Lisa. acht.
Lisa. neun.
Lisa. zehn.
Lisa. elf.
Lisa. zwölf.
Lisa. dreizehn.
Bei Mutter. Samstag Vormittag.
Lisa. vierzehn.
Bei Mutter. Samstag Mittag.
Lisa. fünfzehn.
Bei Mutter. Mittagspause. eins.
Bei Mutter. Mittagspause. zwei.
Bei Mutter. Samstag Nachmittag.
Bei Mutter. Mutter zur Rede stellen.
Bei Mutter. Samstag Abend.
Bei Mutter. Sonntag Vormittag. Geschehen und Abreise.
Epilog.
Impressum neobooks
Prolog
Aufenthalt bei Mutter.
Das Stockholmsyndrom.
Hellen Scheefer
Für meine Kinder
und Kindeskinder
Hellen Scheefer
Stille. Absolute Reglosigkeit. Das Surren der Fliege, weit hinten in der Ecke, dringt an mein Ohr und berührt nicht mein Denken. Mein Hirn ist ganz erfüllt von einem Gedanken. Schwer, sehnsüchtig. Endlich kann ich ihn ziehen lassen. Der Atem gleitet mir nun tief in den Bauch.
Ich bin ein Berg. Meine Gedanken, mein Fühlen - sie sind wie Wolken. Wolken am Gipfel, an meinem Kopf.
Endlich: „Kaijo!“
Auf diesen heiseren Ruf folgt eine leise Bewegung. Dann, einen Moment später: ein machtvoller Schlag. Die Kraft des Schlegels explodiert auf dem Fell der Trommel und verwandelt sich in ein Dröhnen, das den ganzen Raum ausfüllt. Das Schwingen dringt in meine Ohren und quillt auf unsichtbaren Bahnen in die Tiefe meines Leibes, bis mein ganzer Körper vibriert wie die Luft um mich herum.
Ich liebe diesen Moment. Wenn nach stundenlangem, reglosem Sitzen das Morgendämmern sich in helles Licht gewandelt hat, der Schlag der Trommel meinen Körper erwachen macht und von nun an das Tun des Tages uns einnehmen darf.
Die Ordinierten legen ihr Kesa auf den Kopf und dann singen wir gemeinsam:
„Dai sai geda puku, mu so fukuden e, hi bu nyorai kyo. Kodo sho shu jo.“ Sitzen, auf einem Kissen. Schweigen. Ruhe des Körpers. Meditieren im Strömen des Atems. Den Geist zur Ruhe bringen. Aufhören zu denken. Denken, rationalisieren, analysieren, entdecken. Die Krone menschlichen Daseins. Wortfetzen, Bilder, Traumgeschichten, Singen, Schmerz, unstillbares Weinen, Ängste. Immer wieder Gespräche, aus der Angst geboren, mit nicht Anwesenden, Angst und Ängste und wieder Angst.
Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich inzwischen auf dem Safu gesessen hatte. Ich habe schon seit Jahren keine Angst mehr vor Veränderungen. Die Neugier schafft Neues. Neues ist vor allem spannend, aufregend, schön. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich hatte sitzen müssen, bis in mir dieses Wissen aufgestiegen war: diese Angst in mir, die ist, weil ich Angst vor mir selber habe. Angst vor diesen Kräften in mir, die mich tun machen, was mich zerstört. In bester Absicht, „um der Liebe Willen’, wie man so schön sagt. Und doch: zerstört, mich verrückt macht.
Beim Schlagen der Trommel, als ich das Vibrieren meinen Körper durchströmen fühle, begreife ich, dass ich guten Grund habe zu dieser Angst vor mir selbst.
Bei Mutter. Eine Idee.
Ausgerechnet als ich vor ein paar Tagen bei meiner Dienstfahrt im Auto das Radio anschaltete, wurde eine Rezension eines Buches gesendet. Eine Frau erzählte anonym vom sexuellen Missbrauch durch ihren leiblichen Vater. Textstellen werden zitiert. Es wird mit kurz zusammenfassenden Worten gezeichnet, wie die Autorin ihre sexuellen Lüste in dieser Beziehung schildert. Schwer von ihrem Vater verletzt und vergewaltigt, beschreibt sie ihre Orgasmen. Mich ekelte vor der Frau beim Zuhören. Stockholmsyndrom. Ich hatte kaum an den Begriff gedacht, als der Rezensent den Begriff einführte, seine Bedeutung erklärte. Das Opfer beginnt in der größten Not und ohnmächtig seinem Peiniger ausgeliefert, diesen zu lieben. Das ist die einzige Strategie, um die Situation zu überstehen, um zu überleben.
Ich weiß, dass auch ich die Fahigkeit des Stockholmsyndroms in mir trage. Die Liebe, die ich meinem Vater entgegenbrachte, war einerseits Dankbarkeit, weil er mich vor dem tagtäglichen Terror meiner Mutter schützte, und ihr Terror war härter als das hysterische Herumgeschrei meines Vaters, und andererseits ging diese Liebe auf das Konto des Syndroms. Es war nicht sicher auszumachen, welche Gefühle sich da wie sortierten. Ich hatte mich nach Jahren der Selbstanalyse mit dieser Unklarheit in mir abgefunden. Nun warf mich die Radiosendung aus der Bahn. Den letzten Arbeitstag der Woche lenkte ich mich noch ab mit intensivem Arbeiten. Aber es half nichts. Kaum hatte ich Ruhe, fiel ich in eine Lähmung. Ich vermochte nicht aufzustehen. Mein ganzes Wesen war im Schmerz gefangen. Stockholmsyndrom. Eine Ahnung befiel mich, wie hart alles gewesen sein musste, als Vater begann, mich sexuell zu missbrauchen. Die ungerechtfertigten Beschuldigungen. Das Sitzen müssen im Keller. Angstvolles Warten, bis er endlich kam und mich nach seiner Triebbefriedigung wieder mit hoch in die Wohnung nahm. Ans Licht, zu meinem Spiel. Seit dem Hören der Radiosendung lag ich nun schon zwei Tage gelähmt im Bett. Mit meinem Leiden an meinem Zustand wuchs die Wut auf meine Mutter. Vater konnte mich nur so für sich gewinnen, weil sie mich so allumfassend verachtet hatte. Irgend einen Halt brauchte ich und so wehrte ich mich nicht mehr gegen Vater. Wurde zu seiner Lieblingstochter. In meiner wachsenden Wut auf meine Mutter wuchs ein Gedanke: „Du lügst“. Mein Schmerz gab mir die Kraft mich zu erinnern, was geschah, als Mutter von dem sexuellen Manipulieren an meiner Nichte als Baby erfuhr. „Das wird nicht gemacht!“, hatte sie in höchster Not geschrien. In Bezug auf meine Person jedoch hatte sie keinerlei Mitgefühl entwickelt. Aber wenigstens bei ihrer Enkelin hatte sie versucht, Vater Einhalt zu gebieten.
„Du lügst, Mutter“. Diese drei Worte, nunmehr aufgestiegen in meinen Kopf, brachen meine Lähmung und ich vermochte aus dem Bett aufstehen. Ich beschloss, sie zu konfrontieren bei meinem nächsten Aufenthalt bei ihr, wenn die Reihe unter meinen Geschwistern wieder an mir war, sie zu pflegen. Und hier wollte ich sie zur Rede stellen: „Du lügst, Mutter“.
In den darauf folgenden Tagen dachte ich viel über das bevorstehende Gespräch nach. Was, wenn mir die Einzelheiten aus ihrem Mund wiederum einen flashback auslösten? Was, wenn sie ein Geständnis ablegt und danach aus dem Fenster springt? Was, wenn sie sich bei den Geschwistern beschwert?
Ich war also dieses Wochenende mit dem festen Vorsatz angereist, Mutter noch einmal zur Rede zu stellen.
Kaum bei ihr angekommen, nahm ich ihre große Schwäche wahr. Ich schämte mich, dass ich eine so alte Frau in Bedrängnis bringen wollte. Brauchte ich das Gespräch wirklich? Konnte ich mir und meinen Erinnerungen selbst nicht glauben? Ich rief mir bewusst Situationen im Geschehen um den Missbrauch ins Gedächtnis. Als ich ungefähr 18 Jahre alt war, prüfte Mutter mich mit gezielten Fragen, ob ich auch alles gut vergessen hatte. Ja. Damals hatte ich den sexuellen Missbrauch vergessen.
Doch. Ich wollte das Gespräch. Es war wichtig. Diese Familie würde irgendwann beginnen, den Missbrauch aufzuarbeiten. Es war wichtig, ihre Position zu kennen, auch jetzt, da sie so alt und schwach war. Ich beschloss, mit ihr auf behutsame Weise zu reden.
Bei Mutter. Ankommen.
Als sie mich in der Tür stehen sieht, freut Mutter sich. Jetzt ist sie nicht mehr alleine. Es stinkt nach Kot. Ich setze die Reisetasche ab, gut neben den Stuhl, damit Mutter nicht über die Schlaufen stolpert und öffne, noch mit der Jacke bekleidet, das Küchenfenster. Die Luft in der Wohnung ist trocken und überheizt. Dann ziehe ich Schuhe und Jacke aus. Mutter klagt, dass sie ganz durcheinander sei. Sie geht in das Wohnzimmer zum laufenden Fernseher mit den entschuldigenden Worten, sie müsse sich mal hinsetzen. Ihr sei ganz schwindelig. Auf dem kleinen Tisch an der Couch stehen Reste vom Abendbrot. Butter, eine Scheibe angetrocknete Wurst, etwas Käse, eine Kanne mit einem Rest Tee. Ich setze mich zu ihr, starre auf den laufenden Fernseher. Eine Unterhaltungssendung. Die Zuschauer lachen. Ich kann nicht lachen. Meine Mutter erzählt etwas über den Moderator. Klatsch aus dem Fernsehmagazin. Ich höre nicht wirklich zu. Ich starre gebannt auf die bewegten Bilder. Bei mir zu Hause habe ich keinen Fernseher. Manchmal schaue ich die Tagesschau per Internet. Oder ich streame einen Film. Das ist zwar illegal, aber bequem. Jetzt hat ein Satz des Moderators eine Erinnerung meiner Mutter berührt. Sie erzählt mir ausführlich von ihrem Vater. Der war Schneidermeister. Ein Herrenschneider. Selbst einem Buckeligen vermochte er einen Anzug so zu nähen, dass man den Buckel nicht mehr sah. Es sei zu dieser Zeit nicht selbstverständlich gewesen, dass ein Mann seine Familie von seinem Verdienst ernähren konnte. Aber ihr Vater konnte das. Und darauf war er sehr stolz. Er hatte von morgens bis zum Abend viel zu arbeiten. Und die Mutter musste den ganzen Haushalt besorgen und das Schwein und die Hühner und Enten. Meine Mutter zählte nicht die drei Kinder auf, sich selbst und ihre Geschwister, die im Haushalt lebten. Beizeiten am Tag rief der Vater ins Haus, wann Mutters Mutter endlich in die Schneiderstube komme. Sie werde dringend gebraucht. Die Mutter meiner Mutter war Kunststopferin. Die ideale Partnerin eines Schneiders. Wenn beim Bügeln des Anzugs ein Stück Glut aus dem Eisen heraus und auf den Stoff gefallen war, dann war es an ihr, das in den Stoff gebrannte Loch so kunstfertig zu stopfen, dass man es nicht mehr sah. Wie sie das bewerkstelligte ? Sie löste an einer unauffälligen Stelle ein Stück Faser aus dem Gewebe und stopfte es in der genauen Abfolge, wie der Weber einst das Tuch gewebt hatte, um das Loch herum wieder ein. Für diese Arbeit brauchte also der Schneidermeister seine Frau dringend. Außerdem hatte sie das Futter in die Anzugteile einzunähen, mit der Hand selbstverständlich. Das einzige Hobby, was mein Großvater sich leistete, war einmal wöchentlich der Gesangsverein. Dort ging er abends hin. Er soll eine sehr schöne Stimme gehabt haben. Von ihm hatte ich also meine Begabung geerbt. Aber als der Krieg kam, hörte das Singen auf.
Elli. eins.
Endlich wird die Tür geöffnet. Elli stürzt heraus, rempelt dabei ein Kind an. Elli weiß nicht, wie das Mädchen heißt, sie kennt hier noch niemanden. Es ist ihr aber auch ziemlich gleichgültig, ob sie dem Mädchen wehgetan hat. Elli will raus. Jetzt hat sie schon die schneebedeckte Wiese erreicht. Vor ihr steigt eine Böschung an. Oben, schon fast auf der Höhe, hat sie ihren Bruder entdeckt. Sie möchte zu ihm. Die anderen Kinder aus ihrer Gruppe holen sie ein, aber Elli interessiert sich nicht für sie, Elli möchte nur zu ihrem Bruder. Zu Hause spielt sie auch immer mit ihm. Und die Kinder in ihrer Gruppe sind ihr alle so fremd.
Ellis Bruder ist zwei Jahre älter als sie. Er kennt sich gut aus im Kindergarten. Sie jedenfalls findet alles ziemlich schrecklich hier. Heute ist ihr erster Tag. Die Eltern hatten auch noch gesagt, dass sie es leichter haben wird, weil ja ihr Bruder mit dabei sei. Aber als heute der Tag begann, ging ihr Bruder in einen ganz anderen Raum als sie. Als sie sich darüber beschwerte, erklärte ihr die Erzieherin die Ordnung im Kindergarten. „Dein Bruder muss doch in eine andere Gruppe gehen, er ist immerhin zwei Jahre älter als du. Und jede Gruppe hat ihren eigenen Raum.“ Elli ist enttäuscht.
Nun aber hat sie ihn endlich entdeckt. Sie ruft ihn. Sie kann noch nicht so schnell laufen wie die großen Jungs. Nächstes Jahr kommen die schon in die Schule. Endlich hört sie der Bruder. Er zögert einen Augenblick, schaut unwillig zu Elli, dann läuft er davon. Nein, er hat keine Lust, mit seiner kleinen Schwester zu spielen. Zu Hause müssen sie schon immer zusammen spielen. Er möchte mit seinen Jungs spielen. Aber sein Zögern dauert einen Moment zu lang. Elli hat ihn erreicht, genauer gesagt, sie hat den Zipfel seiner Jacke erwischt, und nun packt sie um so fester zu. Aber ihr Wollen ist größer als ihre Geschicklichkeit. Sie rutscht auf dem Schnee aus. Im Fallen fängt sie sich mit ihren Händen auf, und schon ist der Bruder freigegeben. Der nutzt den Augenblick und läuft seinen Freunden nach.
Nein. In den Kindergarten gehen ist wirklich schrecklich. So hat Elli sich das überhaupt nicht vorgestellt. Die Leute haben wirklich schöne Spielsachen in den Regalen liegen. Sachen, die sich Ellis Eltern nicht leisten können. Da gibt es zum Beispiel eine Puppe, die kann Laute machen, wenn man sie dreht. Sie hat auch richtige Klapperaugen. Das haben die Leute in den Fabriken erst vor kurzem erfunden. Aber wenn man in den Gruppenraum herein kommt, darf man nicht gleich spielen. „Erst gibt es Frühstück.“ hatte die Erzieherin gesagt. Und danach sollten sie alle gemeinsam malen. Die Erzieherin brachte jedem Kind ein Stück schwarzes Papier und einen weißen Buntstift dazu. So etwas hatte Elli noch nie gesehen. Bei ihr zu Hause waren die Farben von Papier und Stift umgekehrt. Merkwürdig. Man konnte aber richtig auf dem Papier malen. Die Kinder sollten Schnee malen. Weil doch draußen Winter ist. Und dann ging die Erzieherin zu den Kindern an die Tische und hielt in der Hand eine Vase, darin waren Schneeglöckchen. Die Kinder sollten versuchen, auch ein Schneeglöckchen zu zeichnen. Schneeglöckchen mag Elli. Und die kennt sie ganz genau. Kürzlich war sie mit ihrem Vater in den Garten gegangen. Tief verschneit lagen die Beete. „Kannst du dir vorstellen, dass unter dieser Schneedecke Blumen wachsen?“ hatte er Elli gefragt. Elli tat entrüstet. Unter diesem kalten Schnee, der ihr immer so schnell die Hände frieren machte, dass die schmerzten? Nein, das konnte sie sich nicht denken. Der Vater hatte einen Spaten genommen und tief in die Schneedecke eingestochen. Vorsichtig hatte er eine Scholle heraus gehoben, mit den Fingern noch leicht über den Boden gefegt, und siehe: da standen sie. Lugten auf zarten Stängeln aus dem kalten Schnee heraus mit ihren zarten weißen Köpfchen, dass man beinahe ihr Schellen zu hören meinte. Schneeglöckchen! Ja, Schneeglöckchen konnte Elli gut malen.
Das Malen war also nicht wirklich blöd. Gemein war nur, dass man nicht spielen durfte. Aber danach, bis zum Mittagessen, war endlich die Spielecke freigegeben. Jetzt wollte Elli sich auch die Puppe näher besehen. Aber eh sie sich versah, war das Spielzeug, was sie so interessant gefunden hatte, verteilt. Die anderen Kinder kannten schon die Regel: ‚Wer zuerst kommt, malt zuerst.’ Sie waren Hals über Kopf auf das Regal zugestürzt und hatten sich kurz entschlossen ein Spielzeug gegriffen. Zwei Kinder stritten noch, aber auch hier galt die Regel: „Wer hatte die Kiste zuerst in der Hand?“ der Erste war halt der Glückliche.
Nach dem Mittag mussten sie Mittagsschlaf halten. Die Tische und Stühle wurden beiseite geräumt und Holzpritschen in den Raum gestellt. Dann sollten alle Kinder sich still hinlegen und die Augen schließen. Das war vielleicht merkwürdig! Elli war noch ganz aufgeregt von den vielen Erlebnissen und nun sollte sie die Augen schließen. Hinten, in der Puppenecke knackte es ganz verdächtig. Huch, kaum hatte Elli die Augen geöffnet, schon hatte es die Erzieherin bemerkt. Das war inzwischen eine andere Frau. Die ‚Spätschicht’, hatten die Großen erklärt. Die ‚Spätschicht’ war viel strenger als die Frau am Morgen. Schrecklich. Elli hatte Angst vor ihr. Aber irgendwann fand Elli das stille Liegen ganz lustig. Man konnte sich Geschichten ausdenken, und wurde durch nichts dabei gestört.
Inzwischen war die Mittagszeit beendet, sie hatten Vesper gegessen und durften nun ins Freie spielen gehen. Bis die Eltern die Kinder wieder nach Hause abholen. Elli rutscht auf dem Schnee den Hang hinunter. Sie weint enttäuscht, der Bruder war davon gelaufen. Sie geht den anderen Kindern aus dem Weg, setzt sich in die Nähe der Erzieherinnen. Sie hat die Nase voll. Kindergarten ist einfach zu blöd.
Beth. eins.
Das Tor war verschlossen. Sie standen beide davor und ärgerten sich über die Leute vom Studentenclub. Sonst um diese Uhrzeit konnte man ungehindert ein- und ausgehen. Aber heute gab es keine Chance. Der Club war hoffnungslos überfüllt. Die Session hatte begonnen. Beth wand den Blick und sah auf den Jungen neben sich. Der war kein ‚Junge’ mehr, in der Art, wie sie sich noch als Mädchen empfand. Er war ganz offensichtlich älter als sie. Vielleicht schon am Ende des Studiums? Sie hatte erst in diesem Herbst damit begonnen. Er war ein richtiger Mann. Er wusste was von der Welt. So jedenfalls erschien er Beth. Sie hatte sich ihm zugewandt und ihre Blicke trafen sich zugleich. Auch er hatte sich ihr zugedreht. Sie sah ihm tief in die Augen. Das tat sie bei allen Männern so. Warum, wusste sie nicht. Er hielt ihrem Blick stand. Kein Lächeln, aber auch kein Flackern oder Ausweichen. Ein Brennen war da, das zwischen ihnen hin und her sprang. Sehnsucht?
Das Tor blieb verschlossen. Scheinbar gelassen gingen sie Jeder seiner Wege. Sein brennender Blick war ihr bis ins Herz gedrungen. Später, als sie zu einander gefunden hatten, gestand er ihr, wie tief ihn diese Begegnung berührt hatte. Von diesem Moment an hatte er sie gesucht. Er hatte sie leicht gefunden. Sie wohnten ihm gleichen Haus, belegten dieselbe Fachrichtung. Er war nur zwei Jahre weiter als sie. Seit ihrer Begegnung am Tor hatte er ihre Wege beobachtet. Doch er sprach sie niemals an. Er war kein Jäger, aber auch nicht wählerisch. Er nahm schnell ein Mädchen mit in sein Bett. Doch es blieb beim One-Night-Stand. Er achtete diese Mädchen nicht, weil sie sich ihm so leicht hingegeben hatten. Er kannte Beth nicht. Doch zu seinen Freunden sagte er: „Die Kleene da drüben, seht ihr die? Der könnte ich treu sein.“ Sie liefen sich nicht wieder über den Weg. Das Wohnheim war ein Hochhaus und hier wohnten Hunderte von Studenten. So ging das wohl ein halbes Jahr. Die Sommerpause nahte. Beth war ungeduldig geworden. Sie spürte oft seine Blicke, sah ihn am Fenster nach ihr schauen, aber nie ergab sich die Gelegenheit, einander zu sprechen. Dann, endlich, eines Abends zur Disko, entdeckte sie ihn inmitten seiner Kumpels. Wieder trafen sich ihre Blicke, sie beobachteten einander, umkreisten sich wie Katzen. Doch eigentlich war Beth diejenige, die kreiste, ihn umkreiste, die Gruppe junger Männer ansteuerte, währenddessen er sicher im Kreis der Gruppe verharrte, sie aber nie aus den Augen verlor. Nichts. Beth hatte einen weiten Bogen um die Männer geschlagen, aber Er hatte sich nicht herausbewegt, nicht von der Stelle gerührt. Beth zog sich verwirrt zurück. Hatte sie sich geirrt? Hatte sie der ganzen Sache zuviel Bedeutung beigemessen? Wollte er doch nichts von ihr? Beth wandte sich ihren Kommilitonen zu. Versuchte, die Sache zu vergessen. Beth tanzte eine Weile, in ihre Gedanken versunken. Nein. Einen Versuch musste sie noch starten. Sie wollte wissen, woran sie ist. War er ihr zugetan oder war er es nicht? Sie ging zum Diskjockey, bat um einen Musikwunsch, hielt für einen Moment lang den Finger an die Tonbandspule, sodass die Musik jaulte, lachte laut auf, warf den Kopf in den Nacken und steuerte geradewegs auf die Gruppe junger Männer zu. Sie ging ganz dicht an ihm vorbei, sodass er sie hätte greifen können. Sie ging, nichts geschah, sie wand sich ab. Da! Im letzten Moment spürte sie, wie jemand sie packte und an sich heran zog. Er war es! Karl. „Jetzt hab ich dich aber gefangen. Beinahe wärst du mir wieder entwischt!“ Er lachte.