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Tödlicher Glitzer

Kriminalroman

Helga Henschel

Impressum:

Copyright© Helga Henschel, November 2021

Schenkendorfstraße 47, 28211 Bremen, www.helga-henschel.de

Das vorliegende Buch ist eine grundlegende Überarbeitung des Buches „umschattet“, veröffentlicht 2016.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise - nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Covergestaltung und Foto: Helga Henschel

Lektorat: A. Leuning

Montag 6. April

Elvira lag tot im kargen Sterbezimmer des Krankenhauses Mitte in Bremen. Der Ehemann und die weinende Mutter hatten ihr bis zum letzten Atemzug beigestanden. Beide saßen nun mit hängenden Schultern am Bett und schauten auf Elvira. Das ehemals hübsche Gesicht war eingefallen und die Knochen standen hervor. Die fahlen Gesichtszüge des Gatten wirkten versteinert und abwesend. Die Mutter schniefte ständig in ihr Taschentuch. Mehr konnten sie für die verstorbene Elvira Langelott nicht tun. Georg stellte die bereitgelegten Kerzen auf und die Mutter, Aloisia Märis, exzessive Raucherin, zündete sie mit ihrem Feuerzeug an. Mutter und Ehemann falteten die Hände und murmelten irgendetwas Undefinierbares. Nein, gläubig waren alle beide nicht. Die in der Kindheit gelernten Gebete hatten sich längst aus ihrer Erinnerung verflüchtigt. Also nuschelte jeder ein paar Worte, von denen sie glaubten, es ähnelte einem Gebet. Für sie gab es nichts mehr zu tun, kein Helfen, und kein Kümmern. Es war vorbei. Elvira war tot.

Starr saßen beide auf den harten Stühlen am Sterbebett, dass mit weißen Laken steril und sauber wirkte. Beide fühlten intensiv das Ende, den Friedhof, das Grab. Elvira zählte nur fünfunddreißig Jahre. Eindeutig zu früh, um zu sterben.

Die Luft im Sterbezimmer roch verbraucht und dennoch nach Desinfektionsmitteln. Ehemann Georg und Mutter spürten trotz der Trauer eine gewisse Erleichterung, obwohl keiner von beiden es freiwillig zugegeben hätte. Die Jahre mit Elviras Krankheit hatte an ihren Nerven gezerrt. Dieses ständige Dasein, das sich Kümmern und die häufigen Krankenhausbesuche hatten Georg zermürbt. Aloisia Märis hatte es weniger ausgemacht. Doch Georg hatte immens darunter gelitten.

Georg war mit fünfundvierzig Jahren in der Blüte seines Lebens und endlich auf dem beruflichen Gipfel angekommen. Seine kleine Immobilien-Verwaltungs-Firma florierte, er verbuchte Erfolge und damit ein stattliches Bankkonto. Seine eigenen Mietshäuser warfen Profite ab. Eine kränkelnde und ständig unpässliche Frau passte nicht so recht in sein luxuriöses Leben. Er wollte endlich weniger arbeiten und die Zeit mit Elvira genießen. Er liebte seine Frau und hätte alles für sie getan. Doch ihr gemeinsames Leben hatte er sich ganz anders vorgestellt. Er hatte geplant, mit seiner attraktiven Ehefrau auf Reisen zu gehen, zum Golfen und in Konzerte. Urlaube planen oder gar in Urlaub fahren gehörten seit Jahren ins Reich der Träume.

Elvira hatte lange gekränkelt. Sie litt unter ständigen Kopf- und Gliederschmerzen und wiederkehrenden Durchfällen. Ihr hilfloser Ehemann wusste keinen Rat und fühlte sich hoffnungslos überfordert. Auch der Hausarzt schaute ahnungslos drein, wenn er mal wieder am Sonntagabend gerufen wurde. Er flüchtete sich in undefinierbare Vermutungen und schrieb liebend gern die Einweisung ins Krankenhaus. Elviras Beschwerden besserten sich nicht. Ganz im Gegenteil, die Symptome traten öfter auf und wurden stärker. Georg hatte es satt und ergriff die Initiative. Statt in die Klinik im Nachbarort brachte er Elvira im nahen Bremen ins große Krankenhaus. Es musste ja eine Diagnose und einen plausiblen Grund für Elviras Beschwerden geben. Sie konnte nicht einfach zu Hause auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen bleiben und dahinsiechen. Das stete Dahinsiechen wünschte Georg Pielhop seiner Frau nun wirklich nicht. Mittlerweile hatte ein intensiver Geruch von Krankheit und Medikamenten sein komplettes Haus durchströmt. Es gab keinen Winkel, weder auf dem Dachboden noch im Keller, wo es nicht nach Krankheit roch. Diesem widerwärtigen Geruch konnte er nur in seinem Büro entfliehen. Im Wohnhaus waberte es überall. Sogar in den Kleiderschränken nahm er diesen Gestank wahr und seine frisch gewaschene Wäsche muffte. Er ekelte sich davor. Er musste arbeiten und seine Firma führen. Elvira empfand er inzwischen als lästig.

Um Elvira kümmern brauchte Georg sich nicht. Das übernahm seine Schwiegermutter Aloisia Märis mit Eifer. Sie pflegte ihr einziges Kind rührend und war zur Stelle. Georg hielt seine Schwiegermutter zwar für tüdelig und schlimmer noch, sie qualmte sein Arbeitszimmer mit ihren Zigaretten voll. Da er selten dort saß und seit Elviras Erkrankung noch weniger, störte ihn das weniger. Aloisia zügelte zwar in Gegenwart Elviras ihr Laster und ging deshalb zum Rauchen ausgerechnet in sein Arbeitszimmer. Er hatte es einmal gewagt, sie darauf anzusprechen und ihr vorgeschlagen, auf der Terrasse zu rauchen. Doch davon wollte sie nichts wissen. Sie würde sich glatt den Tod holen, meinte sie, und damit war das Thema für seine Schwiegermutter erledigt. Seither hatte er sein Arbeitszimmer gemieden und riss nur ab und zu die Fenster auf.

Georg rekelte sich und entspannte seine schmerzenden Schultern. Vom langen Sitzen war er ganz steif geworden.

„Ich fahre nach Hause und kümmere mich um ein Beerdigungsunternehmen“, sagte er.

„Ja, tu' das, der an der Friedhofstraße in Schwachhausen hat damals die Beerdigung für Hermann gemacht. Die sind gut“, empfahl Aloisia gleich einen Bestatter.

Sie wusste bestens Bescheid und drängte jedem ihre meist unwillkommenen Ratschläge auf. Georg ärgerte sich.

Er nahm sich vor, den verwandtschaftlichen Kontakt zu seiner Schwiegermutter auf ein Minimum zu reduzieren, wenn alles vorbei wäre. Er wollte sich nicht mehr ständig in sein Leben hineinreden lassen.

Georg stand auf, nahm seine achtlos zusammengeknüllte Jacke von der Stuhllehne und ging aus dem Sterbezimmer. Draußen auf dem Gang der Station schöpfte er Luft. Besser war die nicht, denn auch hier roch es genauso nach Krankenhaus wie drinnen. Er musste hier schleunigst weg. Gerade im Umdrehen begriffen sprach ihn ein Arzt mit dunklem Haar im offenen Kittel an.

„Sie sind Herr Pielhop?“, fragte er.

„Ja, der bin ich. Ich wollte nach Hause fahren und die Beerdigung in die Wege leiten.“

„Mein Name ist Schmidt. Ich habe Ihre Frau betreut. Mein Beileid.“

Der Arzt machte eine kleine Mitleidspause, bevor er weitersprach.

„Ich muss Sie informieren, dass der Leichnam Ihrer Frau in die Rechtsmedizin überstellt wird.“

„Warum das denn?“, wunderte sich Georg.

„Wir haben keine plausible Diagnose für den Tod Ihrer Frau. Das muss unbedingt untersucht werden.“

Georg war ungehalten, er wollte einen endgültigen Abschluss und die letzten Angelegenheiten regeln.

„Dann können wir noch keinen Termin für die Beerdigung machen?“, fragte er.

„Nein, das würde ich offenlassen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange die Untersuchungen dauern. Es tut mir leid, Herr Pielhop. Ich kann es nicht ändern“, bedauerte der Arzt.

„Ja, aber wenn Sie es sagen. Meine Schwiegermutter wird davon gar nicht begeistert sein.“

„Ich muss jetzt weiter“, zog sich der Arzt gekonnt aus dem Gespräch zurück.

„Auf Wiedersehen, Herr Pielhop.“

Vertieft in seinen Gedanken antwortete Georg abwesend: „Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihre Mühen.“

Georg wollte dem Arzt noch die Hand reichen, doch der hatte sich schon abgewandt und lief in schnellen Schritten zum nächsten Krankenzimmer.

Händeschütteln ist wahrscheinlich in einem Krankenhaus weniger gut, dachte Georg.

Dunkel erinnerte er sich an die Hygiene-Hinweise zur Vorbeugung von ansteckenden Krankheiten und den Problemen der Kliniken mit resistenten Keimen.

Nachdenklich machte er sich auf den Weg zu den Fahrstühlen. Seiner trauernden Schwiegermutter wollte er vorerst nicht mehr begegnen. Das würde nur zu langen aussichtslosen Diskussionen führen. Beim Fahrstuhl musste er warten. Besonders am Vormittag standen die leisen Lifte nie still. Viele Patienten wurden zu Untersuchungen gefahren und das manchmal im Krankenbett. Da kamen die Pfleger und Pflegerinnen nur mit gekonntem Rangieren um die Kurven.

Er lief rasch ins Treppenhaus und flüchtete geradezu die Treppenstufen hinunter. Eine Etage tiefer stellte er sich wieder vor die Fahrstuhltür und wartete erneut, denn er befand sich erst im dritten Stockwerk. Ganz ins Erdgeschoss zu laufen, das ersparte er sich besser.

Rechtsmedizin. Was wollen die Ärzte dort herausfinden, überlegte er. Muss ich nicht gefragt werden?

Aber er fand es richtig, dass sie der Krankheit von Elvira auf den Grund gingen. Etwas seltsam war das Ganze schon, grübelte Georg auf dem Weg zur Wohnstraße, in der er einen Parkplatz ergattert hatte. Er stand vor einem Rätsel. Trotz des ständigen Nachdenkens über die mögliche Krankheit, gelangte er nie zu einem befriedigenden Resultat. Er gab dem Arzt recht, Elvira musste gründlich untersucht werden. Er wollte wissen, wie die amtliche Todesursache lautete und was wirklich dahintersteckte. Keiner sollte denken, er trüge Schuld am Tode seiner Frau. Nein, das lag nicht in seinem Sinn. Er wollte wissen, warum sie sterben musste, sinnierte er. Warum er ab jetzt den unschmeichelhaften Titel „Witwer“ trug?

Bin ich nicht zu jung, um Witwer zu sein, fragte er sich.

Georg war bei seinem SUV angelangt und schloss auf. Routiniert kurvte er aus der Parklücke und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Rasch gelangte er auf die Straße stadtauswärts. Er hatte außerhalb der hektischen Großstadt Bremen in der Kleinstadt Worpswede sein geräumiges Haus gebaut. Dahin trieb es ihn nun. An seine ungeliebte Schwiegermutter verschwendete er keinen Gedanken. Sie war selber mit ihrem kleinen Auto zum Krankenhaus gefahren. Sie sollte in Zukunft nicht mehr bei ihm ihre leeren und langweiligen Tage verbringen. Sie konnte in ihrem Haus bleiben und ihrer Tochter Elvira dort gedenken und ausgiebig trauern.

Zu Hause angelangt zog er die Jalousien hoch und öffnete sperrangelweit sämtliche Fenster. Frischer Wind und Durchzug sollten endlich Krankheit und Tod aus seinem Heim vertreiben. Seine warme Jacke behielt Georg derweil an.

Vom Telefontisch holte er sich die „Gelben Seiten“. Seinen Computer hochzufahren, dazu hatte er momentan keine Lust. Also blätterte er bis zum Buchstaben „B“ wie Bestattungen und suchte sich in den Anzeigen die professionellste aus. Den seriösen Bestattungsunternehmer, den seine Schwiegermutter ihm empfohlen hatte, nahm er nicht.

Immer diese Ratschläge, ärgerte er sich. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.

Im Telefonbuch fand er schnell einen geeigneten Bestatter und rief an.

„Guten Tag, Bestattungen Meyer. Was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag, Pielhop. Meine Frau ist soeben verstorben. Ich brauche einen Termin bei Ihnen.“

„Mein aufrichtiges Beileid. Möchten Sie in unser Büro kommen oder kann ich Ihnen einen Besuch abstatten?“

„Ich wohne in der Nähe. Ich kann bei Ihnen vorbeikommen. Ist mir sogar lieber“, und er dachte mit Grauen an seine Schwiegermutter, die sich vielleicht uneingeladen in seinem Haus einquartierte.

„Wann passt es Ihnen?“

„Vielleicht schon morgen?“, antwortete Georg.

Die notwendigen, aber überaus lästigen Formalitäten wollte er so rasch wie möglich hinter sich bringen.

„Dann schlage ich morgen Vormittag um 11.00 Uhr vor. Können Sie das einrichten?“

„Kein Problem. Ich bin bei Ihnen. Äh, ein Problem noch. Im Krankenhaus sagte der Arzt, dass meine Frau noch untersucht wird und sie nicht wissen, wann sie freigegeben wird.“

„Ja, aber die Vorbesprechung können wir schon machen“, sagte Herr Meyer.

„Okay.“

„Bringen Sie bitte die notwendigen Dokumente mit. Wir brauchen Ihren Personalausweis und den Ihrer Frau. Und dann noch die Geburtsurkunde, Heiratsurkunde und den Totenschein, wenn Sie haben.“

„Totenschein habe ich noch nicht. Und die anderen Formulare muss ich suchen. Wo sind die Unterlagen nur hingeraten?“, fragte Georg ratlos.

„Meistens liegen die Urkunden im Familienbuch. Schauen Sie dort mal nach.“

„Ich muss suchen. Vielen Dank Herr Meyer. Bis Morgen“, verabschiedete sich Georg von dem sehr rücksichtsvollen Bestatter.

„Auf Wiedersehen, Herr Pielhop. Ich erwarte Sie.“

Georg schloss die Fenster, ihm war fröstelig zumute. Aber das ausgiebige Lüften fegte den Mief hinaus, der über Wochen und Monate im Haus geradezu geklebt hatte. Nun ging es ihm besser und er konnte zum ersten Mal seit Elviras Tod befreit Luft schöpfen und zu sich selbst finden.

In der Küche bereitete er sich eine Kanne mit schwarzem Tee zu. Den brauchte er, um wieder klarer zu sehen und besser nachdenken zu können. Hunger meldete sich ebenfalls. Kein Wunder, vierzehn Uhr, und er hatte so früh gefrühstückt und war ins Krankenhaus gehetzt. Er öffnete den Kühlschrank und schaute, welche Zutaten es dort für eine schnelle Mahlzeit gab. Er holte einfach zwei Scheiben Schwarzbrot aus der Brotdose, bestrich sie mit dick Butter und belegte eine mit Salamischeiben und die andere mit Käse. Dazu gönnte er sich ein Glas frische Milch, die er in der Mikrowelle erhitzte. Das würde seinen knurrenden Magen vorerst füllen. In der Küche fand er sich gut zurecht, denn während Elviras Krankheit musste er öfter Mahlzeiten zubereiten. Er stellte sein frugales Menü auf das Tablett, ging damit vorsichtig ins Wohnzimmer und platzierte es auf dem Tisch. Von seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer holte er sich einen Stift und einen Schreibblock. Er wollte eine To-do-Liste anlegen.

Georg setzte sich auf die Wohnzimmercouch, auf der Elvira noch vor Kurzem bemitleidenswert krank gelegen hatte.

Nein das nicht, sagte er und raffte das Bettzeug und die Wolldecke zusammen. Damit eilte er in Elviras Zimmer und warf alles auf ihr Bett.

Weg damit.

Trotzdem erzeugte das Sofa Unruhe in ihm und er setzte sich flugs in den Sessel. Auf dem Sofa konnte er nicht klar denken. Ständig standen ihm wieder die grauenhaften Bilder des schlichten Sterbezimmers und ihr langes Dahinvegetieren vor Augen. Im bequemen Sessel fühlte er sich wohler.

Während er eine Scheibe Brot zerteilte und aß, schrieb er Stichpunkte auf den bereitgelegten Block. Eine solche hilfreiche Stütze brauchte er sonst nicht, denn er verfügte über ein recht gutes Gedächtnis. Doch in seinem jetzigen Zustand benötigte er Sicherheit. Es gab so viele Dinge zu erledigen und an so viele Kleinigkeiten musste bei einem Todesfall gedacht werden. Seine immer Rat wissende Schwiegermutter verfügte mit ihren drei verstorbenen Ehemännern über reichhaltige Erfahrung. Aloisia würde eine Bestattung mit Leichtigkeit und ohne Mühe organisieren und gefasst hinter sich bringen. Die Beerdigung seiner Frau übernahm er, da sollte sie sich in keiner Weise einmischen.

Sie soll sich überhaupt zukünftig weniger in mein Leben drängen, bestimmte Georg.

Nachdem er das Schwarzbrot gegessen und die Milch ausgetrunken hatte, ging es ihm wesentlich besser. Der schwarze Tee weckte seine Konzentration, machte ihn munter. Der Zettel war schon fast vollgeschrieben.

Ich sollte in den nächsten Tagen frei nehmen. Kann ich das denn? Brauche ich Ablenkung oder fällt mir hier die Decke auf den Kopf, fragte er sich.

Er beschloss, in den nächsten Tagen zu Hause zu bleiben, holte das Telefon von der Ladestation und rief im Büro seiner Firma an:

„Immobilien Pielhop, Hempel am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“, meldete sich seine Büroangestellte Frau Hempel.

„Hallo Frau Hempel, hier ist Pielhop. Meine Frau ist heute Morgen leider verstorben. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus“, informierte er Frau Hempel.

„Oh, das tut mir furchtbar leid. Ich trauere mit Ihnen.“

Das glaubte Georg ihr sogar, denn Frau Hempel hatte regen Anteil an der Krankheit seiner Frau genommen. Sie hatte jeden Morgen nachgefragt, sobald er das Büro betreten hatte. Sie war eben eine fürsorgliche Frau. Als große Hilfe im Büro nahm sie ihm viele alltägliche Arbeiten ab. Er konnte immer auf sie zählen.

„Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.“

Diese nichtssagenden Sätze und Phrasen klangen abgedroschen und hohl. Er fühlte sich unwohl dabei. Doch dafür musste er sich in den nächsten Wochen höflich bedanken. Das kam ihm irgendwie unecht vor. Aus diesem Dilemma fand er aber kein Schlupfloch. Wollte er seinen mittrauernden Freunden und Bekannten nicht vor den Kopf stoßen, musste er einfach mitmachen. Seine Umwelt verlangte es von ihm.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte Frau Hempel in seine Überlegungen hinein.

„Das können Sie. Sagen Sie bitte die Termine für morgen ab. Am besten für die ganze nächste Woche. Ich bleibe zu Hause und kümmere mich um die Beerdigung. Damit habe ich genug zu tun. Ich könnte sowieso nicht mit Kunden sprechen“, bat er Frau Hempel.

„Aber natürlich. Ich mache Ihnen die nächste Woche frei“, erwiderte sie. „Ich bin hier im Büro, wenn etwas sein sollte.“

„Danke, Frau Hempel. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören, Herr Pielhop.“

Den ersten Punkt konnte er von seiner umfassenden Liste streichen. Und nun kam das Familienbuch an die Reihe. Wo hatte Elvira das hingelegt? Er dachte angestrengt nach. Wo liegen unsere wichtigen Unterlagen? Hatte sie dafür einen bestimmten Platz? Lag es vielleicht im Wohnzimmerschrank? In ihrem Schreibtisch? In der Kiste mit Dingen, die nicht verloren gehen durften, aber im Haus keinen richtigen Platz fanden? Elvira hatte immer „Schurrimurri“ dazu gesagt, wie er sich schmunzelnd erinnerte.

Doch bevor Georg die Suche startete, stand er auf, holte sich ein kleines Glas und die Sherry Flasche aus der Bar. Alkohol als Problemlöser am Nachmittag war gegen seine sonstigen Gewohnheiten, aber er brauchte etwas Starkes. Er schenkte das Glas bis an den Rand voll, sodass es fast überschwappte und nahm einen großen Schluck. Der trockene Sherry rann in seiner Kehle hinunter und verursachte im Magen ein angenehmes Gefühl. Er spürte der wohltuenden Wärme des Sherrys nach und lehnte sich zurück.

Das Telefon klingelte. Sollte er das Gespräch annehmen? Eigentlich wollte er mit keinem Menschen reden. Er ließ es klingeln und der Anrufbeantworter sprang zuverlässig an. Seine Schwiegermutter war in der Leitung und sie machte ihm arge Vorwürfe, dass er sie einfach so in der Klinik hatte sitzen lassen.

„Ich will dir doch helfen, Georg.“

Piep. Das Band war zu Ende. Sie konnte ihm keine weiteren Vorhaltungen mehr machen. Wie liebte er diesen harmlosen Piep. Ein simpler Ton auf dem Anrufbeantworter hielt ihm Unangenehmes vom Leib. Georg war froh, dass er nicht abgehoben hatte und seine Schwiegermutter nur vom Band hören musste. Er wusste genau, dass sie sich wohl kaum in ihren Wagen setzen und zu ihm fahren würde. Elvira war nicht mehr hier. Der Weg war ihr von Anfang an zu weit gewesen. Mehr als einmal hatte sie sich darüber beklagt, dass er sein Haus soweit außerhalb, geradezu auf dem Dorf in der Einöde, gebaut hatte. Das war völlig übertrieben. Er hatte sich ein Haus am Rande von Worpswede gebaut. Ihm dagegen gefiel es hier, Bushaltestelle vor der Tür, sein Büro in der Nähe und Geschäfte lagen nahe. Und eine direkte Straße führte nach Bremen. Und wenn es seiner Schwiegermutter zu mühsam war, umso besser. Dann blieb sie ihm vom Hals.

Wo war er stehen geblieben? Das Familienbuch musste er für den Bestatter suchen. Georg sah an den infrage kommenden Stellen nach. Wie er feststellte, war die Suche für sein neues Leben ohne Elvira gut. Denn er entdeckte so manche wichtige Unterlage, die er vermutlich irgendwann dringend brauchen würde. Endlich fand er das Familienbuch. Ohne dieses Buch war ein Mensch nicht existent. Auch nach dem Tod eines Erdenbürgers waren die Urkunden noch erforderlich. Befremdlich. Georg entdeckte das Buch in einer Schublade im Wohnzimmerschrank. Elvira war ordentlich und korrekt gewesen, dass musste er ihr posthum lassen. Ob das bei ihm ebenso der Fall wäre? Eher nicht, denn er musste sich immer zusammenreißen, um seine Sachen ordentlich abzuheften. Im Büro übernahm das seine gewissenhafte Frau Hempel, aber hier in seinem Haus musste er nun dafür Sorge tragen.

Nun fehlte nur noch der Personalausweis und der war bestimmt in ihrer Handtasche. Vielleicht in der Geldbörse? Aber wo war ihre Handtasche? Wegen ihrer Krankheit verlor Elvira zuletzt das Interesse an ihrem Äußeren. Dabei liebte sie Handtaschen in allen Formen und Farben. Früher wäre sie nie ohne passende Tasche vor die Haustür gegangen. Krankheit veränderte eben die Eigenheiten eines Menschen. Georg ging in ihr hübsch eingerichtetes Zimmer und schaute sich sorgsam um. Dort lag eine Handtasche. Das Wintermodell wie sie ihr liebstes Stück von einer Berliner Designerin immer genannt hatte, in Braun passend zu ihrem Wintermantel. Er schüttelte den Inhalt der Tasche kurzerhand auf das schon lange nicht mehr benutzte Bett und langte nach der Geldbörse. Er hatte Glück, der Ausweis steckte in einem Fach. Nun waren alle wichtigen Unterlagen für den Bestattungsunternehmer zusammen.

Elviras Zimmer wird zukünftig unbewohnt sein. Der Gedanke schoss ihm schlagartig durch den Kopf. Sollte er ihr Zimmer ausräumen, alles weg, Möbel und Kleidung? Nicht sofort. Dafür fehlte ihm aktuell die nötige Energie. Später. Er spürte Sehnsucht nach seiner Frau. Sollte er das Haus verkaufen oder vermieten? Es war schon zu groß für sie beide gewesen. Und nun sollte er alleine darin wohnen? Entscheide ich später und schlurfte mit den Unterlagen in den Händen aus dem Zimmer und schloss die Tür.

Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer kam er an seinem Schlafzimmer vorbei und spürte plötzlich eine unsägliche Müdigkeit aufkommen.

Was soll es, ich kann machen, was ich will, dachte er. Ich kann schlafen, wann und wie lange ich möchte.

Georg schleppte sich in seinen Schlafraum und ließ sich auf sein ungemachtes Bett fallen. Das Bettenmachen am Morgen entfiel schon lange und er empfand es als reine Zeitverschwendung. Er wurschtelte die Bettdecke unter sich heraus und deckte sich damit zu. Schlafen, entspannen, kein Grübeln, kein Nachdenken - die Krankheit Elviras hatte ein Ende gefunden.

In der Nacht wachte er abrupt auf und spürte in seiner Kehle Trockenheit. Er musste fürchterlich geschnarcht haben, richtig ausgedörrt. Verwundert rieb er sich die Augen, Dunkelheit umgab ihn. Er pellte sich aus der Bettdecke und knipste die Lampe auf dem Nachtschrank an. Wie lange hatte er geschlafen? Er schaute auf den Wecker. Der Zeiger ging auf Mitternacht zu. Erstaunt stand er auf und blickte an sich hinunter. Er trug noch die müffelnden Sachen vom Tag. Elvira war tot, kam die Erinnerung. Er sackte zusammen und blieb apathisch sitzen.

Ich muss loslassen, mein Leben verändert sich gerade abrupt. Nichts ist mehr so wie gestern, dachte er.

Bei aller Trauer über seinen Verlust fühlte er dennoch ein Hungergefühl in der Magengegend. Er zog seine bequemen Hausschuhe unter dem Bett hervor und machte sich auf den Weg zur Küche. Hoffnungsvoll öffnete er den Kühlschrank. Enttäuscht schloss er wieder die Tür. Mehr als kümmerliche Reste hatte der nicht zu bieten. Also bereitete er sich wieder seine zwei Scheiben Schwarzbrot mit Wurst und Käse zu. Appetit verspürte er auf Bier und holte sich eine Flasche Pils aus dem Vorratsraum. Im Stehen öffnete er den Verschluss und setzte die Flasche an die Lippen. In einem Zug trank er die Hälfte aus und setzte sich zufrieden an den Tisch. Im Wohnzimmer zu essen, erschien ihm zu umständlich. Er würde sowieso gleich wieder in seinem warmen Bett verschwinden. Ob er weiterschlafen konnte? Oder sollte er den Fernseher einschalten? Keine Lust. Er mümmelte sein Brot und trank das würzige Bier aus. Dabei sah er sich in der Küche um und blickte auf herumstehendes benutztes Geschirr, der Mülleimer quoll über und aus der unteren Schublade schaute Altpapier. Für Ordnung gesorgt hatte sonst immer Elvira oder seine Schwiegermutter. Nun musste er sich um solche Haushaltsdinge kümmern.

„Aber nicht sofort“, sagte er. „Erst schlafe ich.“

Satt wankte er ans Bett, zog seine Kleidung aus und schlüpfte in den Schlafanzug. Er schlief tief und fest, bis der Wecker um sieben Uhr am Morgen klingelte.

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9783754175934
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