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III
Lola war allein.
Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so rasch zurück, als flöhe sie.
Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.
»Ami!« rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig erschreckt, und der Hund musste hinaus – wo er winselte.
Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen. Lola glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die Handarbeit, neben der es gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf – es war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge – und wiederholte, auf den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es nicht; dann merkte sie wohl, dass sie es nachsprechen solle, aber sie schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl. Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der davorstand; darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind und zu beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft, zärtlich, zum Zerbrechen fein, und seine großen Augen glitzerten, als seien sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich selbst – und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon längst vorsagte: »Reh«, und weinte, leise und ohne Trotz.
Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts, aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt ward, und dachte, weh und wund: »Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Warum hat Pai mich nicht mitgenommen?« Nach Tisch ward sie in den Garten gebracht, aber sie schüttelte den Kopf und ging dem Fräulein nach, bis sie wieder im Zimmer und bei dem Reh war; denn das war hier ihr einziger Freund. »Reh, Reh«, flüsterte sie ihm zu. Das Fräulein küsste sie leise auf die Locken und ließ sie mit ihrem Kameraden allein. Als Lola später zu Bett gelegt werden sollte, hatte sie sich schon in Schlaf geweint.
Beim Erwachen in heller Sonne fiel ihr als erstes das Reh ein, dann der Spitz Ami. Sie bedachte vieles Erlebte und auch, ob sie dies Zimmer schon kenne. Neugierig sah sie sich darin um. Noch ein anderes Bett stand da, aber es war schon verlassen. Sie ließ sich aus dem ihren gleiten und trippelte umher. Da trat das Fräulein herein, hob Lola auf ihren Arm, zeigte sich auf die Brust und sagte mehrmals:
»Erneste.«
Lola hatte in ihrem rotgeschlafenen Gesichtchen große, aufmerksame braune Augen, die, auf den Mund des Fräuleins gerichtet, ganz leise seitwärts hin und her rückten; ihre blonden Locken hingen wirr geringelt, die leichten Linien ihrer Lippen fügten sich fein ineinander, und am Saume ihres Hemdchens streichelten sich ihre rosigen kleinen Füße. Sie äußerte nichts; aber als sie fand, das Fräulein habe genug »Erneste« gesagt, nickte sie bedächtig, zum Zeichen, dass sie verstanden habe.
Sie bekam ihren Kakao, grub im Garten, ward, wie die Glocke geläutet hatte, von den Mädchen in einem Ringelreihen geschwenkt und dann wieder von Fräulein Erneste in das Zimmer des Rehes geholt. Der Spitz Ami knurrte nur, und er wedelte dabei. Lola sollte auch heute »Affe« und »Ast« nachsprechen. Sie tat es zerstreut, sah dabei immer das Reh an; sie hatte keinen Sinn für die Dinge, auf die Erneste sie jetzt noch hinzulenken wünschte; und nur zufällig bemerkte sie, dass es sich um die zweite Seite des bunten Buches handelte und dass dort jedes Bild mit einer Marzipanscheibe bedeckt war. Nahm man sie weg, kamen darunter zum Vorschein: ein Baum, ein Bäcker, ein Bottich. Sie erlernte diese Worte in großer Eile, um zu erfahren, was auf der dritten Seite wäre.
Von diesen Erlebnissen, die sie interessiert hatten, wollte sie bei Tisch – war nicht heute alles lustiger bei Tisch? – ihrer Nachbarin erzählen, einem Mädchen, das nur wenige Jahre älter sein konnte. Sie erzählte ausführlich, die andere aber lachte nur und stieß eine dritte an. Lola, in Eifer, kam von dem Reh auf die Tiere daheim, sprach von daheim und von Nene und Mai. Plötzlich ward sie inne, dass alle still waren, zu beiden Seiten des Tisches, und sie ansahen: die meisten mit Neugier, einige spöttisch – und keine, erinnerte sie sich nun, keine einzige hatte sie verstanden! Errötet, ratlos beschämt, sah sie die Reihen entlang, konnte, zitternden Gesichtes, die Tränen noch gerade hinunterschlucken und beugte sich mit einem kleinen einsamen Lächeln über ihren Teller.
Nun kam eine Stunde, in der alles durchs Haus sprang und sang. Auch Lola sollte singen, sie tat nur so, als begriffe sie nicht. Da fasste aber Erneste ihre beiden Arme, und die Nase kraus vor Freundlichkeit und während alle umherstanden, sagte sie ihr mehrere Worte, deren jedes ungefähr klang wie »singen«, nur nicht ganz. Schließlich aber fand sie’s wirklich: singen; und da sang Lola. Sie sang näselnd: »Ihr Negerknaben meines Vaters …«, schloss dabei halb die Lider und sah nun alles, was sie sang, sah die Heimat … Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Einredenden weit fort.
Eine Weile darauf fiel ihr ein, dass sie dieses Lied einmal bei der deutschen Großmama gesungen hatte. Seltsam: an den Aufenthalt bei der Großmama hatte sie noch gar nicht wieder gedacht; ihr war, als sei sie von der Großen Insel gradeswegs hierher verschlagen, und alles dazwischen war verworren wie ein Schiffbruch. Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der lustige Onkel einmal geschnitten hatte, und von da aus fand sie sich in allem wieder zurecht. Ach! Das war doch Lolas Großmama, denn Pai war ihr Sohn, und sie hatte ihn lieb. Eine aufzuckende Hoffnung: Ob Pai nicht bei ihr war? Dass Lola daran nicht früher gedacht hatte! Pai war nicht abgereist, er war bei seiner Mama! Lola ging zu Fräulein Erneste und sagte: »Großmama« – nur das eine, bittende Wort; und Erneste verstand es, sie ließ Lola hinführen.
Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten, um sie herum: »Pai! Pai!« – in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den Garten: »Pai! Pai!« Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.
»Wo ist Pai?«
Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wusste wohl, was, aber sie glaubte ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle wiederholten dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr Guten Tag in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai hatte ins Ohr sagen lassen. »Dummer Papagei«, dachte sie, und sie verlangte fort.
Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es wehte, blieb sie stehen und rief flehentlich »Pai!« Keins der trägen Fenster öffnete sich; es fror Lola bitterlich, und die Magd zog sie fort.
Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Misstrauen an, der ein Wort zu ihr sprach: eins dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: »Das ist nicht wahr«, obwohl sie gar nicht wusste, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach sie in Geschrei aus; und ihr Drang war immer: auf die Straße, durch die Stadt, und in die Häuser spähen. Sie schrie, bis das Fräulein ängstlich ward und sie hinausließ. Das dauerte mehrere Tage.
Dann wich Lolas Glaube. Sie hatte gewiss in jedem Winkel nachgesehen und überall ihr »Pai!« gerufen. So wollte Pai sie wohl nicht hören, oder er war wirklich fort. Ja, er war fort; die Leute hatten recht. Aber dann hatte Pai selbst sie verraten und unter diesen Fremden zurückgelassen. Wem also war noch zu trauen? Scheu sah das Kind sich um. In diesen Tagen brach ein Gewitter aus; und Lola – wie hatte sie daheim zu urweltlichen Unwettern gejauchzt! – ward von jedem dieser Blitze in eine andere Zimmerecke gescheucht, bleich und mit geschlossenen Lippen; denn niemandes Hilfe wusste sie anzurufen.
Ward Lola jetzt um ihr Lied gebeten, schüttelte sie, mürrisch und verlegen, die Schultern. Auch sprach sie nicht mehr, und sie dachte ganz Ungewöhnliches. »Ich werde vielleicht sehr krank werden und kann dann niemandem sagen, wo es weh tut, und muss immer so schreien, wie damals der Neger schrie, der ein Loch im Magen hatte.« Wenn sie allein im Zimmer war und mit sich selbst und ihren Puppen plauderte, musste sie manchmal lauschen: so seltsam klein und allein klang ihr die eigene Stimme. Und sie fühlte es plötzlich, tief in ihrem erschauernden Herzen, es gäbe im Hause und in der ganzen Stadt und auf allen Straßen, die hinausführten, keinen Menschen, der, wie die daheim, zu ihr sagen könne: »Meine kleine Lola, meine liebe kleine Lola.« Sie flüsterte die ersehnten Worte vor sich hin und sah dabei ihre Puppen an. Da bemerkte sie, dass auch die Puppen sie ihr nie sagen und, was sie ihnen vorplauderte, nie verstehen würden: waren doch auch sie aus diesem fremden Lande. Sie schob sie weg. Und selbst das Reh! Daheim gab es kein solches Tier, und es wusste nichts von Lola. »Hörst du denn nicht?« bat sie, mit Tränen. »Reh! Reh!« Aber das Reh sah sie fremd an.
Lola war allein.
*
Am Sonntag ward sie wieder zur Großmama gebracht. Sie benahm sich scheu und verdrossen; man verlor endlich die Geduld und überließ sie nach dem Essen sich selbst. Unzufrieden, weil niemand mehr sich um sie bekümmerte, drückte sie sich im Garten umher. Wie es kalt war in diesem Lande! Ängstlich und feindselig sah sie zu den grauen Wolken hinauf, die herabdrohten. Der Pavillon, der sie am ersten Tage versteckt hatte, damals, als sie schon vorausgeahnt hatte, Pai werde sie allein lassen: heute stand er offen, und Lola betrat ihn. Es waren wunderliche alte Möbel darin; sie bemühte sich, einen Wandschrank zu öffnen – da geschah ein Poltern unter ihr. Sie fuhr zusammen. Es polterte stärker, es schlug sogar gegen den Boden, auf dem sie stand. Erstarrt, horchte sie. Ein furchtbarer Krach: nun drang es gleich zu ihr ein; und Lola schrie los, mit allen Kräften höchster Not:
»Der Teufel! Der Teufel!«
Sofort hörte das Poltern auf, und im nächsten Augenblick stand in der Tür der lustige Onkel, ganz bleich, und blickte Lola zornig an. Sie schrie, zu ihrer Rechtfertigung und aus Eigensinn, noch einmal: »Der Teufel!« Da stürzte aber der Onkel auf sie zu und legte sie über sein Knie … Und nachdem Lola dies durchgemacht hatte, war es ihr viel leichter und sanfter. Der Onkel nahm sie bei der Hand und führte sie in das Kellergewölbe unter dem Gartenhaus. Er zeigte ihr, wie er Holz gehackt habe und wie die geschwungene Axt manchmal gegen die niedrige Decke gestoßen sei. Was er dazu redete, hatte einen guten, tröstlichen Ton – und Lola ward betroffen und sehr nachdenklich. Denn es war klar, dass dies gegen alle ihre bisherigen Erfahrungen ging. Wenn daheim aus dem Urwald heraus irgendeine ungewohnte Stimme erscholl, lief es bei den Schwarzen von Mund zu Mund: »Der Teufel«; und blinzelte irgendwo ein Licht, das niemand kannte, ward geraunt: »Der Teufel«. Als der Onkel Holz hackte, hätte die schwarze Anna nur bei Lola sein sollen; ganz sicher würde sie gewimmert haben: »Der Teufel«. Er war es also nicht? Wenigstens nicht immer? Das war tröstlich, und der Onkel war gut, dass er Lola dies gelehrt hatte. Sie lächelte ihm zu. Sie hatte auf einmal alle Menschen lieber, ging ins Zimmer, umarmte die Großmama und klatschte in die Hände bei dem Gedanken, dass sie auch dem Fräulein Erneste etwas recht Liebes antun wolle. Eifrig verglich sie im Innern die schwarze Anna mit Fräulein Erneste und wunderte sich, wie viel näher ihr Erneste sei. Die schwarze Anna war dumm, mit ihrem Teufel; Lola schämte sich ihrer ein wenig. Wie sie nach Haus kam, stellte sie sich vor Erneste hin, sammelte sich und sagte zutraulich:
»Ast, Boot, Reh, Erneste.«
Dabei lächelte sie entschuldigend, denn für ein achtjähriges Mädchen war dies natürlich kindisch; aber was sollte sie sagen? Erneste verstand Lola; vor Rührung bekam sie ein bekümmertes Gesicht und Tränen in die Augen.
Einige Wochen später schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schreiben.
»Schreibe in deiner Sprache.«
Lola tat es; aber sie fügte mit Genugtuung eine Anzahl ihrer deutschen Wörter hinein: alle waren in einem Brief schon nicht mehr unterzubringen. Die Antwort kam. Auch Herr Gabriel hatte auf portugiesisch geschrieben; nur am Schluss stand der Satz: »Ich habe dich lieb.« – Und diese Worte, die er noch nie in seiner eigenen Sprache hatte äußern dürfen, waren von ihm mit einer Süßigkeit erfüllt worden, die Lolas schwache Hände noch nicht herauspressen konnten. Erneste sah diese Zeilen lange an und sagte dann:
»Bewahre den Brief gut auf, Kind.«
Den nächsten schrieb Lola – sie war vier Monate bei Erneste – ganz deutsch, und ihr Vater antwortete ebenso. Inzwischen aber war ein Brief angekommen; Lola wusste nicht gleich, wer ihn abgeschickt habe. Sie war sehr gespannt.
»Ah!«
»Nun?« fragte Erneste.
»Von Mai!« – und sie betrachtete ihn angestrengt.
»Was schreibt dir deine Mama?«
»Ja, ja«, machte Lola, und: »Gleich komme ich wieder.«
Sie lief ins Schlafzimmer und buchstabierte. Mais Schrift sah Lola zum ersten Mal; die schöne Mai lag immer nur in der Hängematte. Wie musste sie Lola liebhaben, dass sie ihr schrieb! Lola küsste den Brief. Dann versuchte sie es nochmals: nein; wirklich, sie verstand nichts, oder nur hier und da ein paar Worte. »Mai, Mai«, stammelte sie, und plötzlich weinte sie. Kleinlaut berichtete sie später Erneste:
»Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.«
Tags darauf wusste sie:
»Nene war krank und ist nun wieder gesund.«
Sie las immer in dem Brief; er hatte schon Risse, Fettflecke und Tränenspuren. Eines Morgens beim Erwachen fand Lola ihr Händchen hoch in der Luft. Im Traum hatte sie’s nach einer Frucht ausgestreckt, die Mai ihr hinhielt – und zog es nun leer zurück. Noch sah sie Mais Gesicht: und da verstand sie plötzlich einige von Mais Worten in ihrem Brief. Schon war Lolas erste Sprache, Wort für Wort, zurückgedrängt von ihrer zweiten; neue Gesichter schoben sich ihr vor die alten, und eine neue Luft malte alle Dinge anders. Draußen schneite es; das erste Mal hatte Lola den Schnee für Zucker gehalten, und Mai kannte ihn noch immer nicht. Mai lag in großer Wärme in ihrer Hängematte und kannte, obwohl sie Mai war, nichts von allem, was Lola sah. Wie rätselhaft das war! Lola dachte sich darin fest; sie saß am Boden, den Blick nach innen, die Lippen leise gelöst, und hielt mit allen Kräften den Geschmack solches Gedankens fest. Manchmal war es nur ein Wort, ein Name, den sie in solcher Weise ganz auszukosten suchte: Erneste, wie konnte jemand so heißen; Er–ne–ste, wie jede der Silben plötzlich verwunderlich und komisch war. Jeden Augenblick wurden sie fremder! Im Frühling, auf einem Ausflug, ward Lola vermisst und allein zwischen Waldhügeln bei einer Quelle gefunden. Das nasse Laub hing um sie her, es roch herb nach Kräutern, die Quelle rann, Lola saß ohne Regung. Worüber sie nachgedacht habe. »Über die Quelle.« Im Sommer lag sie oft am Rande eines Heliotropbeetes auf dem Bauch, schob den Kopf zwischen die Blumen und lauschte in die große Tiefe dieses Duftes.
Ein Gesicht, das sie lange schon kannte, ward ihr auf einmal wie durchleuchtet; nun fühlte sie’s. Einmal, im Schulzimmer, sah sie, anstatt nachzuschreiben, unverwandt auf ihre Lieblingslehrerin, auf die raschen kleinen Mienen und die flinken, pickenden Bewegungen des Fräuleins.
»Lola, warum siehst du mich immerfort an?« fragte Fräulein Mina. Lola erklärte:
»Du aussiehst wie ein klein Vogel.«
Die französische Lehrerin ward gehasst von Lola, besonders seit sie Lola gedroht hatte, wenn sie noch länger die Kirschkerne verschlucke, werde ihr ein Kirschbaum aus dem Halse wachsen. Lola wühlte sich mit dem Blick in dieses fette, graue, schnüffelnasige Geschöpf hinein, bis sie in dem Fräulein deutlich eine große, dicke Ratte sah und bei einer zufälligen Berührung besinnungslos aufschrie!
In eine Vorstellung, eine Begierde konnte sie sich rettungslos festrennen, bis zu kleinen Verbrechen. Einmal log sie, in dem unvermittelten Drange, eine Sache ganz für sich zu haben. Nun hatte sie’s: ein Geheimnis, und kostete tagelang aus, dass niemand wisse, was sie wusste. Das war ein neues Leben, eine eigene Welt! Etwas später stiftete sie, um des Abenteuers willen, eine große Verschwörung an, verbunden mit Diebstahl. Zwar handelte es sich um die »Ratte«, die ohnehin jeden Streich verdiente. Mittlerweile nannten alle sie so; Lola hatte den Namen durchgesetzt und in vielen Widerwillen erregt gegen die Lehrerin. Es war nicht schwer, die Mädchen zu überzeugen, dass sie der Ratte eine große, scheußliche Puppe ins Bett legen müssten. Man brauchte eine Maske, eine Haube, eine Jacke, eine Brille. Das Geld? Man wusste doch, wo die Ratte ihres aufbewahrte. Es war nur gerecht, dass sie selbst sich die Puppe kaufte. So geschah es. Die Ratte fiel zuerst in Ohnmacht, und wie der Verlust des Geldes herauskam, erlitt sie einen Weinkrampf. Lola sah ihn mit an, sie sah den Schmerz des hässlichen und geizigen Geschöpfes, ward hineingezogen und lebte ihn mit, außer sich vor Reue. Sie sah eine dicke Ratte sich ängstigen, die sie vergiftet hatte, und hätte gern, wenn es noch möglich gewesen wäre, das Gift selbst gegessen. Sie bat um Verzeihung, nahm sogar, mit leidenschaftlicher Selbstüberwindung, die Hand der Ratte. Denselben Ekel empfand sie auch jetzt noch; aber sie sah dieses Wesen leiden, sah unendlich mehr davon, als die anderen sahen, und begriff nicht mehr, wie sie solch Leiden hatte zufügen mögen! Viel lieber statt anderer leiden! In mancher Nacht kam ihr die Frage: »Wenn ich mich lebendig begraben lassen sollte, oder Erneste sollte sterben, oder Mai: was würde ich wählen?« Sie warf sich seufzend und heiß umher: nun hieß es sich entscheiden, das Furchtbarste auf sich nehmen. Und plötzlich war sie hindurch, sah Licht, war sanft und süß durchronnen und hatte sich dargebracht: »Oh, lieber, viel lieber will ich lebendig begraben werden!«
Sie war erschüttert; ein Drang nach Güte, eine schmerzliche Wallung von Liebenwollen hob ihr Herz auf – und da kam rechtzeitig der neue Geschichtslehrer, Herr Dietrich. Er war schüchtern und ironisch, und er sprach immer wie zu erwachsenen Damen. Alle interessierten sich für ihn, einige erkundeten seine Lebensumstände. Er wohnte mit seiner Mutter und seinen jungen Geschwistern zusammen und unterhielt sie. Wie Lola von seinem Leben träumte! Liebreich musste es dahinfließen, voll sanfter, gütiger, edler Gedanken. Mit zwei anderen, die für ihn schwärmten, wagte sie es unter einem Vorwand, ihn aufzusuchen. Kein Teppich lag auf den weißen Dielen seines Zimmers. Herr Dietrich stand von seinem Schreibtisch auf, der dabei ins Wanken kam, und deckte verlegen ein Kissen auf einen Riss im Ledersofa. Das ganze Haus roch nach saurer Milch. Tagelang erbitterte Lola sich gegen Erneste, die ihn nicht besser bezahlte. Alle hätten hingehen sollen und es ihr vorhalten. Lola sonderte sich ab, sooft sie konnte, lernte den Leitfaden der Geschichte auswendig, und wenn sie ihn sich wiederholte, war es ihr, als sagte sie ihm etwas Liebes. Als sie an einem Märztag, es lag noch Schnee, allein im Garten gewesen war, kam sie erregt zu Erneste gelaufen.
»Erneste, ich weiß jetzt, wie der Frühling aussieht!«
»Wieso?«
»Wie Herr Dietrich sieht er aus!«
Lola leuchtete. Die Offenbarung, die sie soeben empfangen hatte, war einfach und tiefwahr.
Erneste dachte: »Mit zwölf Jahren schon? …« Sie fasste sich und äußerte:
»Aber Kind, für ein Mädchen, das bald dreizehn wird, ist das doch zu kindisch. Herr Dietrich ist natürlich ein Mensch wie wir alle.«
Lola stutzte. War er das? Warum musste sie dann so viel an ihn denken? Immer hatte sie jenen leichten Geruch von saurer Milch in der Nase, so viel dachte sie an Herrn Dietrich. »Ich will ihn mir ganz genau ansehen.« Gerade heute war Herrn Dietrich sein gelber Strumpf über seinen schwarzen Schuh gerutscht. Lola starrte finster und nachdenklich darauf hin. Ähnliches konnte man auch bei anderen Lehrern sehen; aber Herr Dietrich, der so edel war, an den Lola so viel denken musste! Nun bemerkte sie auch, wie Herr Dietrich sich mit Jenny abgab; wie die dicke, freche Jenny, das Kinn auf der geziert ausgespreizten Hand, ihn anschmachtete; wie er errötend wegsah und, nachdem er ein wenig an seinem Kneifer gerückt hatte, ihr zulächelte. Da ward es Lola kalt und zornig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Dietrich zu zeigen, dass er für sie durchaus kein Ideal sei. Er stand grade vor ihr; seine rötliche, knochige Hand lag auf ihrem Tisch, und in seiner Manschette konnte sie Haare sehen. Vorsichtig führte sie zwei Finger hinein, erfasste ein Haar, machte »Kieks!« – und da hatte sie’s. Herr Dietrich zuckte zusammen; dann rief er mit roter, entrüsteter Miene:
»So etwas tut man nicht!«
Lola, ziemlich erschrocken über ihre Tat, aber trotzig, betrachtete das Haar.
»Gib’s her!« – und Herr Dietrich nahm es ihr weg.
Als er sie später etwas fragte, antwortete sie nicht, obwohl sie’s wusste. Sie beschloss, ihm brieflich ihre Verachtung auszusprechen. Den ganzen Nachmittag arbeitete sie daran. »Wenn ich einen Menschen gern habe, verlange ich mehr von ihm als von anderen; Sie haben mich sehr enttäuscht«, wollte sie ihm sagen, und: »Ich bin viel zu stolz, um jemand noch gern zu haben, der eine andere liebt.« Indes fiel ihr ein, dass Herr Dietrich von ihrer Neigung nichts gewusst habe, und dass ihn darum auch ihre Enttäuschung nichts angehe. Wahrscheinlich würde er ihr mit seiner entrüsteten Miene den Brief zurückgeben und dazu schreien: »So etwas tut man nicht!«
Sie hielt sich nun für fertig mit der Liebe. Dennoch verlor sie den Winter darauf ihr Herz an einen italienischen Leierkastenmann. Sie lag im Fenster und lebte in seinen Augen. Bleich und traurig schmachtete er herauf. Lola sagte:
»Wie ist er schön! Ich habe noch nie einen so schönen Mann gesehen.«
Die dicke Jenny störte sie diesmal nicht, im Gegenteil, sie fragte, ob Lola seine Bekanntschaft machen wolle, sie begleite sie gern. Lola schrak zurück, sie wusste noch nicht, wovor. Aber am Sonntag wartete sie mit ihrem ganzen Wochengeld. Der Italiener kam, nur war er betrunken und kotbespritzt, fing Streit an und ward verhaftet. Lola warf aufs Geratewohl ihre zehn Mark hinunter und rettete sich.
Die Trennung von dieser Liebe war hart. Wochenlang zuckte Lola schmerzlich zusammen, pfiff jemand auf der Straße eine von des Italieners Arien. Bei der Ankündigung der Oper, aus der sie stammten, geriet Lola in Erregung und verlangte hin. Sogar die Begleitung der Ratte nahm sie mit in den Kauf. Auf ihrem Balkonplatz bekam sie Herzklopfen; aber wie sie sich den Leierkastenmann vor Augen rufen wollte, bemerkte sie, dass sein Bild unauffindbar war und dass nur die Klänge und Gebärden von dort drüben sie erfüllten und bewegten. Ihr schien es der erste Theaterbesuch; und alles mutete sie wie eigene tiefe Erinnerungen an. Woran sie jemals ahnungsvoll gerührt hatte, das war hier aufgeschlossen und entzaubert. Der letzte Duft schöner Blumen, Namen, Gesichter schien hier herausgepresst. Die Worte klangen alle voller und sinnreicher, die Dinge hatten höhere Farben, die Mienen erglänzten inniger. Hier wiederholte sich, hätte man meinen sollen, das Leben Lolas in stärkerem Licht: als habe sie dort auf der Bühne ihr eigenes Herz, höher schlagend, vor Augen. Alles, wofür man sonst keine Verwendung wusste, konnte hier spielen. Man konnte sich ganz geben, wie man war; denn die Menschen hielten endlich das, was man sich von ihnen versprach. Der Held dieser Oper war so edel, wie Herr Dietrich hätte bleiben sollen, und so schön wie der Italiener, ohne sich dabei zu betrinken.
Bei der Heimkehr war es Lola, als habe sie nun ein Zauberwort erfahren: Schauspielerin, und sei dadurch erlöst und mit sich selbst bekannt gemacht.
»Wie sonderbar!« dachte sie im Bett und starrte zur dunklen Decke hinauf; »das also bin ich!« Erneste rührte sich, und Lola hätte sie fast, in rascher Regung, aufgeweckt und ihr Schicksal Erneste offenbart. Noch hielt sie zurück; sie hatte sich erst selbst an seine Erkenntnis zu gewöhnen. Beim Aufwachen aber erschütterte sie sogleich ein großer Jubel; sie machte sich schnell fertig und lief zu Erneste, gerade so herzhaft und ohne Arg wie damals, als sie mit der Nachricht kam, der Frühling sehe aus wie Herr Dietrich.
»Erneste!« rief Lola. »Weißt du, was ich werden will? Schauspielerin!«
»Auch gut«, erwiderte Erneste und befestigte gelassen den Papierdeckel auf einem Glas mit Eingemachtem. Lola erklärte freudig:
»Gestern im Theater habe ich es gemerkt, und jetzt weiß ich es ganz genau.«
»Dummes Kind; trinke lieber deinen Kakao.«
»Warum dumm? Ich glaube, dass ich Talent habe.«
»Das glaube ich auch: du rezitierst sehr niedlich; deswegen verfällt aber doch kein verständiges Mädchen auf solches dumme Zeug. Möchtest du wohl einen Löffel Gichtbeerenkompott?«
Verwirrt ließ Lola sich den Löffel in den Mund schieben.
»Nun geh, Kind«, sagte Erneste, und Lola ging, den Kopf gesenkt. Vor der Tür zum Frühstückszimmer richtete sie sich auf und kehrte nach der Speisekammer zurück.
»Erneste!«
Lola war blass, ihre Stimme hatte gezittert; Erneste sah sie sprachlos an.
»Erneste, du hast so getan, als ob es Scherz wäre. Es ist mir aber ganz ernst.«
»Umso schlimmer«, sagte Erneste, polternd vor Schrecken. »Geh ins Klassenzimmer und erwarte, welche Strafarbeit ich dir aufgeben werde!«
»Ich will alle Strafarbeiten machen, die du mir aufgibst, Erneste. Aber ich bin fest entschlossen, Schauspielerin zu werden.«
Lola redete das wie ein Diktat; irgendeine Macht weihte sie zum Sprechen.
»Es ist das erste Mal, dass ich so zu dir spreche, Erneste; daraus kannst du ersehen, wie wichtig dies ist«, sagte sie sanft, mit feuchten Augen; denn Erneste tat ihr leid. Erneste war auf einen Holzschemel gefallen; ihre von Fruchtsaft blauen Finger lagen wie tote kleine Soldaten durcheinander im Schoß; ihr Gesicht war ganz lang und über alle Maßen verstört.
»Was kannst du denn auch dagegen haben«, meinte Lola, »wenn ich es nun einmal als meinen Beruf erkannt habe.«
Da aber kam alles wieder zu Leben an Erneste; sie sprang auf.