Читать книгу: «Love and Crime», страница 3
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„Ich wollte dich gerade anrufen“, verkündet Katie am Handy, nachdem ich es kurze Zeit habe klingeln lassen. Die Energie, die sie versprüht, ist nicht zu überhören. Und es ist egal, ob sie gerade arbeiten war oder nicht. Man kann sie auch mit einer Batterie vergleichen, die nie leer wird.
„Ich glaube, das kann man wohl als perfektes Timing bezeichnen“, erwidere ich. Während ich mir einen Weg über den Bürgersteig bahne, muss ich mehreren Gruppen ausweichen, die sich überall verteilt haben und anscheinend nichts mehr von ihrer Umgebung mitbekommen.
„Jetzt erzähl aber mal“, fordert Katie mich auf.
„Was?“, hake ich nach, obwohl ich mir bereits denken kann, worauf sie anspielt.
„Du machst es ganz schön neugierig. Wie lief das Gespräch?“, erkundigt sich meine Freundin in der nächsten Sekunde.
„Musst du arbeiten?“, weiche ich ihr aus, ohne im geringsten auf ihre Frage einzugehen. Der Verlauf meines Vorstellungsgesprächs ist nichts, was ich am Telefon berichten möchte. Das ist nun wirklich nichts, was man mal eben nebenbei erzählt. Ich ja nicht einmal eine Idee, wie ich ihr davon berichten soll, wenn sie mir gegenüber steht.
Klar, ich könnte es für mich behalten. Aber wenn sie es erfährt, wäre sie sauer auf mich. Und ich bin mir sicher, dass sie es erfährt.
„Ich habe gerade Feierabend gemacht.“
„Wir treffen uns bei Jones, holen uns einen Kaffee und während wir zu mir fahren, erzähle ich dir alles.“
„Wieso fährst du nicht mit dem Auto von deinen Eltern? Ich meine, von dir in die Stadt ist ja doch ein ganz schönes Stück.“ Ich höre die Verwunderung in ihrer Stimme. Allerdings bin ich mir sicher, dass das nichts im Gegensatz zu dem ist, was sie fühlen wird, wenn ich ihr berichte, was passiert ist. Ich will ihren Gesichtsausdruck erkennen, wenn ich ihr die Geschichte erzähle, deswegen halte ich jetzt auch meinen Mund und verliere kein Wort darüber.
„Wir reden nachher darüber“, gebe ich nur von mir und lege auf. Mir ist klar, dass mein Verhalten wahrscheinlich einen Haufen Fragen bei ihr aufwirft, die sie mir stellen wird. Mir würde es nicht anders ergehen. Doch das ist sicherlich keine Geschichte, die man mal eben schnell am Telefon erzählt.
Das Jones ist ein kleines Café, was sich zwischen zwei riesigen Geschäften befindet, sodass man es leicht übersehen kann. Um ehrlich zu sein bin ich auch ein paar Mal dran vorbeigelaufen, bis Katie mich darauf aufmerksam gemacht hat. Es ist unscheinbar, sodass man es kaum wahrnimmt. Und ich bin mir sicher, dass es den meisten so geht. Vor allem Touristen. In der gesamten Stadt gibt es keinen Kaffee, der besser schmeckt.
Als der kleine Laden endlich in Sichtweite kommt, habe ich mich so weit wieder im Griff, dass mein Körper nicht mehr zu zittern anfängt, wenn ich an den Wagen denke, der demoliert wurde, oder an den Geländewagen. Dennoch bekomme ich es nicht aus meinem Kopf. Und das vor allem deswegen, weil ich zu gerne wissen würde, wer dahinter steckt.
Das sind wohl die Gene meines Vaters, die da durchschlagen. Ich kann nicht einschätzen, ob ich das gut finden soll oder nicht, aber ändern kann ich es eh nicht.
Als ich den Laden betreten will, kommt Katie hinaus und drückt mir beim Vorbeilaufen einen Kaffeebecher in die Hand.
„Also? Wie war es? Ich möchte jedes Detail wissen.“ Neugierig betrachtet sie mich von oben bis unten, als würde sie so viel eher die Antwort auf ihre Frage bekommen.
„Du hörst dich an, als würde ich von einem Date kommen.“
„Ja, aber es ist genauso aufregend. Schließlich geht es hier um deinen Neuanfang in einer neuen Stadt. Je eher man die Jobfrage da geklärt hat, umso besser ist es. Es gibt schließlich noch andere wichtige Dinge, um die man sich kümmern muss.“
Im Stillen muss ich ihr recht geben. Und ich wäre auch glücklicher, wenn ich es bereits wüsste, ob es klappt oder nicht.
„Willst du erst die gute oder die schlechte Nachricht hören?“, sage ich also, bevor sie noch einen weiteren Versuch unternehmen kann, mehr aus mir herauszubekommen.
„Es gibt eine schlechte Nachricht?“ Mit großen Augen sieht sie mich an.
„Ja, die gibt es.“ Ich verziehe ein wenig das Gesicht.
„Ich möchte erst die gute hören“, überlegt sie. „Danach kann ich die schlechte besser verdauen.“
Mit kurzen Sätzen berichte ich ihr von dem Vorstellungsgespräch. Aufmerksam hört sie mir zu, auch wenn es da eigentlich gar nicht soviel zu berichten gibt. Und das bringt mich direkt zu meiner zweiten Geschichte. Ich berichte ihr einfach davon, der Vorteil ist, dass es nicht ihr Auto ist, das aufgebrochen wurde.
Während ich ihr davon erzähle, sieht Katie mich so an, als würde sie davon ausgehen, dass ich einen Scherz mache. Jedes Wort, was meinen Mund verlässt, ist auch mein Ernst. Obwohl ich mir wünsche, dass es ein Scherz wäre.
„Ach du scheiße“, entfährt es ihr, nachdem ich geendet habe. Geschockt schlägt sie die Hände vor das Gesicht und wendet sich nicht von mir ab. Ich sehe ihr an, dass sie keine Ahnung hat, was sie dazu sagen, beziehungsweise davon halten soll. Und mir geht es da nicht anders. Auch wenn ich es mittlerweile so weit verarbeitet habe, dass ich nicht mehr am Zittern bin, so geht es mir noch immer nah.
„Ja, so kann man es wahrscheinlich auch ausdrücken“, überlege ich.
„Und es hat keiner mitbekommen?“ Ungläubigkeit hat sich in ihre Stimme geschlichen. „Es konnte keiner einen Hinweis geben?“
„Mein Dad und seine Kollegen haben mit ihnen gesprochen. Was herumgekommen ist, weiß ich aber nicht. Er hat mir nichts gesagt.“ Ich zucke mit den Schultern. So gebe ich ihr zu verstehen, dass ich mich auch nicht näher damit auseinandergesetzt habe. Schließlich bin ich keine Polizistin und ich habe keine Ahnung, wie viel sie mir sagen würden. Außerdem muss ich zugeben, dass ich vorhin auch keine sehr große Lust mehr hatte, mich damit zu beschäftigen.
„Wow“, raunt Katie und geht neben mir her. Einige Sekunden ist sie ruhig. „Am helllichten Tag einen Wagen aufzubrechen zeugt von Mut. Alleine der Gedanke daran, dass man mich erwischen könnte, würde mich davon zurückschrecken lassen. Aber gut das keiner von uns auf so eine Idee kommen würde. Und noch besser ist es, dass du nicht in der Nähe warst. Ich bin mir sicher, dass du sonst versuchst hättest, ihn aufzuhalten.“ Kaum hat sie ausgesprochen bleibt sie neben ihrem Auto stehen und öffnet die Türen.
„Mut oder Dummheit“, gehe ich auf den ersten Teil ihrer Aussage ein. „Es kommt darauf an, von welcher Seite man es sieht“, murmle ich so leise vor mir her, dass ich meine Worte selber kaum verstehen kann. Mein Blick wandert von rechts nach links und wieder zurück. Nach der Geschichte habe ich das Bedürfnis sicherzugehen, dass nicht irgendwo eine Gefahr lauert und nur auf ihre Chance wartet.
Aber es ist nicht nur das. Ich habe das Gefühl, als würde man mich beobachten. Das hatte ich gestern bereits, jetzt ist es aber noch schlimmer. Ich kann es mir nicht genau erklären, zumal ich nicht weiß, wo es plötzlich herkommt. Doch ich habe es.
Katie sagt nichts weiter, auch wenn ich mir sicher bin, dass es da noch die eine oder andere Frage gibt, die ihr auf der Zunge brennt. Zumindest gibt es da ein paar, die mich interessieren würden und ich bin mir sicher, dass es ihr da nicht anders geht. Doch meine Freundin behält sie für sich. Und ehrlich gesagt bin ich froh darüber.
Während wir zu mir fahren erzählt Katie mir von ihrem Tag. Auf der Highschool hat sie aus der Not heraus in einem der vornehmsten Restaurants der Stadt als Kellnerin angefangen. Auf die Weise wollte sie ihre Familie finanziell unterstützen, die zu dem Zeitpunkt mit einigen Schicksalsschlägen leben musste. Und anstatt danach aufs College zu gehen ist sie dort geblieben. Ich muss zugeben, dass es für mich zu heikel gewesen wäre. Auch wenn ich nicht studiert habe, so habe ich wenigstens eine abgeschlossene Berufsausbildung, doch für meine Freundin hat es sich gelohnt. Seit dem letzten Jahr ist sie sogar die stellvertretende Managerin. Ich bin mir sogar sicher, dass sie einmal den Laden leiten wird.
„Dein Job ist sicherlich nicht leicht“, stelle ich fest, nachdem sie von den ganzen Katastrophen berichtet hat, die ihren Tag bestimmt haben.
„Nein, das ist er nicht. Aber ich mache ihn gerne und das ist die Hauptsache. Mehr ist für mich nicht wichtig.“ Katie stellt ihren Wagen an die freie Stelle, an der vorhin noch der von Monica stand. In den letzten Minuten hat meine Freundin es geschafft, mich abzulenken. Nun habe ich aber sofort wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht besser auf ihren Wagen aufgepasst habe.
„Ihr kommt genau richtig“, werden wir von Monica begrüßt, die durch die Küche wirbelt, als wir eintreten. Als sie mich entdeckt bleibt sie ruckartig stehen. Mit großen Schritten kommt sie auf mich zu und bleibt dicht vor mir stehen. Unerwartet schließt sie mich in ihre Arme. „Dein Dad hat schon angerufen und mir berichtet, was geschehen ist. Ich bin nur froh, dass er wenigstens so lange gewartet hat, bis du das Auto verlassen hast. Ich will mir überhaupt nicht ausmalen was alles hätte passieren können, wenn du noch in dem Auto gewesen wärst.“ Erneut drückt sie mich fest an sich. „Aber jetzt wollen wir uns nicht länger darüber unterhalten, sondern uns an die Arbeit machen. Sonst werden wir bestimmt nicht pünktlich fertig.“
Kaum hat sie ausgesprochen, dreht sie sich bereits um und stellt sich wieder an die Arbeitsplatte, um Gemüse zu schneiden. Sie gibt mir nicht die Chance, noch mehr zu erklären. Deswegen ist es wahrscheinlich das Beste, wenn ich mich nicht weiter damit beschäftige. Es würde ja doch nichts an dem ändern, was geschehen ist.
Die nächste Stunde bereiten wir verschiedene Salate zu. Als sie endlich fertig sind, sind es so viele, dass sie den gesamten Esstisch einnehmen, der nicht gerade das ist, was man als klein bezeichnen kann. Alleine das Bild reicht schon aus, um meine Vermutung zu bestätigen. Am Ende des Abends wird eine Menge übrig bleiben. Die Sachen werden nicht weggeschmissen. Alles wird aufgeteilt und Monica friert ihre Ration ein.
„Lasst uns die Sachen rüberbringen. Ich bin mir sicher, dass du nach den letzten Stunden ein Bier gebrauchen kannst. So würde es mir auf jeden Fall gehen“, fordert Monica uns auf.
„Oh ja“, seufze ich und greife nach zwei Schüsseln. Auch die anderen beiden bewaffnen sich, sodass wir uns zusammen auf den Weg machen können.
Draußen versuche ich nicht so sehr auf meine Umgebung zu achten, sondern mich so zu verhalten, als wäre nichts geschehen. Ich bin mir sicher, wenn ich mir noch länger einen Kopf darüber mache, werde ich so schnell keine Ruhe finden. Und das ist, was ich überhaupt nicht gebrauchen kann. Schließlich muss ich in wenigen Tagen zum Probearbeiten. Und das ist wichtiger. Ich muss mich auch noch um eine Menge Papierkram kümmern.
„Harley, da bist du ja“, werde ich von unserer Nachbarin Mary begrüßt. Mit einem strahlenden Lächeln betrachtet sie mich ausführlich. „Du siehst wunderschön aus. In dem letzten Jahr bist du eindeutig erwachsen geworden. Ach quatsch, was sage ich da? Du bist eine Dame geworden. Eine Dame, der die Männer sicherlich zu Füßen liegen.“
Nicht zum ersten Mal heute muss ich an den Typen denken, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Und dennoch kann ich nicht leugnen, dass er eine Wirkung auf mich hat, der ich mich nicht entziehen kann.
Um mich jetzt nicht von ihm ablenken zu lassen, konzentriere ich mich lieber auf Mary, die mich noch immer abwartend ansieht. Sie ist bereits älter, trotzdem fit. In der Woche hat sie meistens ihre fünf Enkel bei sich, damit ihre Töchter arbeiten gehen können. Und man merkt ihr an, wie viel Spaß ihr das macht. Die Kids halten sie jung und sie sind gerne bei ihren Großeltern. Deswegen finde ich es super, dass sie sich gegenseitig unterstützen.
„Es ist einiges geschehen“, erwidere ich und nehme das Bier entgegen, was mir ihr Mann Bert reicht.
„Bei euch jungen Leuten heißt es, dass ihr Abschlüsse macht und das Nest verlasst. Bei uns heißt es nur, dass die Enkel ein Jahr älter werden“, lacht er. „Aber so soll es sein. Wir haben unsere wilde Zeit hinter uns und genießen nun die Zeit mit unseren Enkeln.“
„Bei dir hört sich das so an, als würden wir sonst nichts machen. Als würde ich den ganzen Tag Socken stricken und du in der Zeitung lesen. Wir sind erst vor ein paar Tagen aus New York wiedergekommen und fahren in zwei Wochen schon wieder nach Washington“, weist sie ihren Mann mit einem strengen Ton an und verdreht die Augen ein wenig. Ich kenne die beiden gut genug, um zu wissen, dass sie es nicht böse meint, sondern sie sich einfach nur gerne aufziehen.
Und in gewisser Weise bin ich mir sicher, dass es einer der Gründe dafür ist, dass die beiden seit mehr als dreißig Jahren glücklich verheiratet sind. Sie nehmen das Leben so, wie es kommt und machen das Beste daraus. Sie streiten sich nicht wegen jeder Kleinigkeit, wie es bei anderen Paaren leider der Fall ist. Selbst Meinungsverschiedenheiten werden mit einer Prise Humor gelöst. Heimlich habe ich die beiden immer wieder beobachtet und kann daher sicher behaupten, dass ich genau das auch haben will.
Lachend entferne ich mich mit Katie ein Stück und schaue zu, wie immer mehr Nachbarn auf der Bildfläche erscheinen, die noch mehr Essen mitbringen. Es dauert nicht lange und die Tische, die zusammen gestellt wurden, sind so voll, dass es aussieht, als würden sie gleich zusammenbrechen.
„Ich wünschte, ich hätte solche Nachbarn. Mit denen man gemeinsam Spaß haben und sich unterhalten kann. Aber meine regen sich schon auf, wenn man zu spät nach Hause kommt und man die Tür ein wenig zu laut schließt. Du hättest mal mitbekommen sollen, was vor ein paar Wochen los war, als ich abends noch Einkäufe nach Hause gebracht habe. Der alte Finley stand so lange vor meiner Tür und hat wie ein Wahnsinniger die Klingel bearbeitet, bis ich sie völlig genervt und klitschnass vom Duschen, geöffnet habe. Und als ich ihn noch freundlich darauf hingewiesen habe, dass es auch reicht, wenn man einmal klingelt, hat er sich noch darüber aufgeregt, woher ich mir das Recht nehmen würde, ihm zu belehren, was er zu tun hat. Am nächsten Tag hat mein Dad die Klingel ausgeschaltet, sodass sie nur noch funktioniert, wenn ich das auch will.“ Während Katie spricht lässt sie die Schultern ein wenig hängen.
„So schlimm ist es bestimmt nicht“, erwidere ich.
„Du hast ja keine Ahnung. Ich versuche da raus zu kommen. Doch auch wenn Tarpon Springs eine Kleinstadt ist, so ist es nicht einfach, eine Wohnung zu finden.“ Katie sieht so aus, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Seit zwei Jahren wohnt sie nun schon in der Wohnung. Sie hat seitdem nicht ein einziges Wort darüber verloren. Nun sieht sie nicht so aus, als wäre sie dort glücklich.
„Lass dich nicht unterkriegen. Wir könnten uns ja gemeinsam eine Wohnung suchen. Unter anderem brauche ich vorher einen Job, sonst kann ich sie mir nicht leisten.“
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe ihm gehörig die Meinung gesagt. Unter anderem auch, dass er sich ja nicht das Schlafzimmer in den ersten Raum legen muss, den er hat. Es ist ja kein Wunder, dass man alles mitbekommt. Ich bin mir sicher, dass er mir so schnell nicht mehr auf die Nerven gehen wird. Um genau zu sein hat er seitdem sogar einen großen Bogen um mich gemacht.“ Frech grinst sie mich an, sodass ich nicht anders kann, als leise zu lachen.
Von unserer Position aus beobachten wir, wie der Garten immer voller wird. Kaum haben alle ihre Hände geleert, kommen sie zu uns und begrüßen mich. Kurz unterhalte ich mich mit ihnen, bevor die nächsten zu uns kommen.
Ja, ich muss zugeben, dass es wohl keine Nachbarschaft gibt, die es mit meiner neuen in Sachen Herzlichkeit aufnehmen kann. Aber so habe ich sie von Anfang an kennengelernt. Offen und hilfsbereit. Es macht mich sogar ein wenig traurig, wenn ich daran denke, dass ich nicht lange hier sein werde. Früher oder später muss ich mir ja eine andere Unterkunft suchen.
Die nächsten drei Stunden unterhalte ich mich mit allen und erfahre den neusten Klatscht, wovon es eine Menge gibt. Sie haben vor allem aber anscheinend daran einen Narren gefressen, dass die Allisters vorhaben sich scheiden zu lassen. Am liebsten würde ich ihnen mitteilen, dass es eigentlich egal sein kann, auch wenn die beiden schon weit über 70 sind, doch ich habe keine Lust, in einem Streit mittendrin zu stehen. Deswegen lasse ich es sein.
„Wir haben kein Bier mehr. Ich werde eben rübergehen und neues holen. Falls mich jemand sucht, sag einfach, dass ich gleich wieder da bin“, verkündet mein Dad, als er neben uns stehen bleibt.
„Wir machen das schon“, erwidere ich und nehme ihm den Schlüssel aus der Hand.
Noch bevor mein Dad etwas erwidern kann, ziehe ich Katie bereits hinter mir her und verschwinde.
„Es klingt vielleicht gemein. Aber ich brauche eine Pause. Wenn ich noch mehr Tratsch höre, explodiert mein Kopf. Es waren doch ein wenig zu viele“, erkläre ich Katie, während ich durch das Gartentor gehe, was beide Grundstück miteinander verbindet. Zügig halte ich auf die Terrassentür zu, die sich ein paar Meter entfernt befindet.
„Haben wir vorhin das Licht angelassen?“, fragt Katie, nachdem wir den Flur betreten haben.
„Ich glaube, wir hatten es überhaupt nicht angeschaltet. Es war ja noch hell. Aber mein Dad ist erst später gekommen. Und der vergisst es öfters. Monica hat sich schon ein paar Mal darüber aufgeregt. Sie will Strom sparen und damit die Kosten reduzieren, was aber nicht so einfach ist“, erkläre ich ihr. Gleichzeitig gehe ich zum Abstellraum und öffne die Tür.
Bevor ich eintreten kann, höre ich ein leises Geräusch hinter mir. Es sorgt dafür, dass ich mich auf der Stelle umdrehe und zur Treppe sehe. In der nächsten Sekunde ist es ruhig, sodass ich kurz zweifle, ob ich mich nicht geirrt habe. Nach allem, was heute bereits geschehen ist, ist es vielleicht kein Wunder, dass meine Nerven ein wenig mit mir durchgehen. Doch aus dem Augenwinkel sehe ich, dass auch Katie sich umgedreht und sich in die Richtung gewandt hat, in der ich das Geräusch wahrgenommen habe.
„Was war das?“, fragt sie mich, als würde sie davon ausgehen, dass ich die Antwort darauf kenne. Aber so zeigt sie mir noch einmal deutlich, dass ich mich nicht geirrt habe.
Mir ist bewusst, dass sie darauf wartet, dass ich noch mehr sage, doch das mache ich nicht. Stattdessen gehe ich ein paar Schritte näher. Jedoch achte ich darauf, dass ich kein Geräusch mache, was mich verrät. Als ich die Treppe erreiche, schaue ich vorsichtig nach oben.
Zuerst kann ich nichts erkennen. Alles scheint ruhig zu sein und das Licht oben ist aus. In der nächsten Sekunde rennt eine schwarz gekleidete Person nach unten. Wobei das noch untertrieben ist. Er stürmt eher nach unten.
Da ich der Person im Weg stehe, muss ich einen Satz nach hinten machen, damit sie mich nicht über den Haufen rennt. Dabei stoße ich gegen die Wand. Auch wenn ich nach etwas suche, an dem ich mich festhalten kann, versuche ich einen Blick in sein Gesicht zu erhaschen, als er an mir vorbeirennt.
Die Person, wer auch immer sie ist, hat die Kapuze seines Pullovers so tief in sein Gesicht gezogen, dass ich nicht einmal das Kinn erkennen kann.
Er ist so schnell aus dem Haus verschwunden, dass ich keine Chance mehr habe, noch etwas von mir zu geben. Ich wüsste auch gar nicht, was ich von mir geben sollte.
Mit offenem Mund bleibe ich an Ort und Stelle stehen und schaue ihm nach. Die Tür steht weit offen und mein Verstand sagt mir, dass ich sofort meinem Dad Bescheid geben muss. Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Ich bin gerade ja kaum in der Lage vernünftig zu atmen.
„Harley!“, höre ich meine Freundin laut rufen, noch bevor ich wieder zu mir gekommen bin. „Ist alles in Ordnung?“
Ich erkenne den besorgten Unterton in ihrer Stimme und am liebsten würde ich ihr zu verstehen geben, dass es mir gut geht. Doch der Schreck sitzt so tief, dass ich nicht in der Lage bin, ein Wort von mir zu geben.
Deswegen nicke ich nur und hoffe, dass es ihr reicht, während ich nach immer auf die Tür starre.
„Ich hole deinen Vater“, murmelt sie, nachdem sie mich noch einige Sekunden betrachtet hat. Doch nachdem sie ausgesprochen hat, macht sie noch immer keine Anstalten zu verschwinden.
„Mach das“, sage ich also, nachdem ich mich geräuspert habe.
„Bist du dir sicher, dass ich dich kurz alleine lassen kann?“ Noch immer sieht sie mich besorgt an.
„Ja, geh schon. Der Typ ist ja weg und ich komme schon klar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er erneut hier auftaucht.“
„Okay“, sagt sie, macht aber nicht den Anschein auf mich, als wäre sie wirklich davon überzeugt. Ich wende mich ihr kurz zu und mache ihr so klar, dass ich auch ein paar Minuten alleine klarkomme.
Zögerlich entfernt sie sich ein Stück, bevor sie sich umdreht und den Weg, den wir vorhin hineingekommen sind, wieder hinausrennt. Kaum ist sie verschwunden schließe ich die Augen und lasse die Luft entweichen, die ich unbewusst angehalten habe. Gleichzeitig sinke ich gegen die Wand und schaue nach oben. Ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet. Doch ich will nur noch, dass der Tag vorbei ist. Denn die Einladung zum Probearbeiten war das einzig Gute, was mir heute passiert ist.
Zweimal in nur wenigen Stunden, denke ich zähneknirschend. Und alleine das reicht schon aus, dass ich sauer werde. Mir ist klar, dass ich öfters von einem Chaos ins Nächste stürze. Das ist nichts Neues für mich. Aber das ist selbst mir noch nie passiert und eigentlich habe ich auch nie daran gedacht. Und auch jetzt kommt es mir noch immer vor, als würde ich träumen. Mein wild schlagendes Herz beweist mir, dass es wirklich passiert ist. Egal ob es mir gefällt oder nicht.