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Othmar Karas

Hans Winkler

Europa am Ende?

Zwei Meinungen

Leykam

Einleitung

Brexit, mangelnde Handlungsfähigkeit und Solidarität in der Flüchtlingskrise, fortdauernde Griechenlandkrise, Erstarken nationalistischer und populistischer, EU-feindlicher politischer Bewegungen, potenzielle Schwierigkeiten mit der Trump-Administration – das sind nur einige der großen Herausforderungen, denen sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten gegenübersehen.

Ist die EU am Ende oder braucht es nicht eigentlich eine reformierte und in gewissen Bereichen gestärkte EU, um Europas Zukunft zu gestalten? Braucht es „mehr“ oder „weniger“ Europa, gibt es ein „Europa verschiedener Geschwindigkeiten“, was soll in nationale Kompetenzen zurückgegeben und was in Brüsseler Kompetenz übergeben werden? Brauchen wir mehr Allergenverordnungen oder mehr gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik?

Dies sind zentrale Fragen unserer Zeit, auf die es unterschiedliche Antworten gibt. Die „Streitschriften“ haben sich zur Aufgabe gestellt, pointierte Positionen zu brisanten und grundsätzlichen Fragestellungen zu präsentieren. Zum entscheidenden Europa-Thema haben wir zwei renommierte Persönlichkeiten um ihre wahrlich kontroversen Standpunkte gebeten. Sie geben starke Impulse für einen fruchtbaren und weiterführenden Diskurs: der glühende „Europäer“ und bekannte Europaabgeordnete Othmar Karas zum einen, der langjährige Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung und Skeptiker der gegenwärtigen EU-Praktiken Hans Winkler zum anderen.

Wir wünschen eine spannende und bereichernde Lektüre

Herwig Hösele

Europa mutig und beherzt besser machen

von Othmar Karas

Wir brauchen eine Stärkung der EU, keine Abschottung der Nation!

Wer sagt, die Europäische Union sei gescheitert und müsse zurückentwickelt oder „verschlankt“ werden, irrt sich gleich dreifach. Es ist ein Irrtum mit Blick auf die vergangenen 60 Jahre in Europa, es ist eine falsche Beurteilung der Gegenwart und eine Fehleinschätzung der Herausforderungen, die in den nächsten Jahrzehnten auf uns warten. Die EU ist – trotz aktueller Schwierigkeiten – ein Erfolgsprojekt und die einzige Möglichkeit, die großen Probleme der Zukunft zu lösen. Das heißt nicht, dass die EU perfekt, fertig wäre. Nein, jeder1 von uns kann einen Beitrag leisten, dass die Europäische Union, die Plattform der Zusammenarbeit der Staaten Europas, mutiger und beherzter, handlungsfähiger, demokratischer, einfach besser wird.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir uns – in Österreich und Europa – den Frieden, die Sicherheit und den Wohlstand erarbeitet. Auf unserem Kontinent finden wir keine historischen Beispiele dafür. Ohne die EU und ihre Vorgängerorganisationen wäre dies nicht möglich gewesen. Wir sind die EU – jeder von uns ist ein Teil. Die Behauptung, dies sei nicht der EU zu verdanken, sondern umgekehrt die europäische Einigung sei erst durch den Frieden und Wohlstand möglich geworden, ist ein argumentativer Kopfstand, der keiner historischen Analyse standhält. In der Begründung des Nobelkomitees für die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union (EU) wird expressis verbis betont, dass „die Union und ihre Vorgänger […] über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen [haben]. Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden.“2

Helmut Kohl beschreibt die aktuelle Diskussionen sehr treffend, wenn er Folgendes sagt: „Es ist erstaunlich und erschreckend, mit welchem Kleinmut und fehlender Weitsicht, mit welch andauernder Krisendiktion, vor allem auch mit welcher Geschichtsvergessenheit und historischer Ignoranz seit Beginn des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends in West wie Ost [...] über das Projekt Europa [...] diskutiert und mit ihm umgegangen wird. Es ist erstaunlich, wie wir im Klein-Klein verharren und mit welcher Leichtfertigkeit von allen Seiten mit diesem für uns alle und die ganze Welt existenziellen Projekt Europa umgegangen wird.“3

Wer sich den zeitlichen Verlauf der Einkommensentwicklungen der Österreicher oder des Bruttoinlandsprodukts unseres Landes in den vergangenen 30 Jahren anschaut, hält den Gegenbeweis in der Hand. Das Einkommen der Österreicher4 hat sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt, das Bruttoinlandsprodukt verdreifacht5. Die Idee der Gründerväter, dass wirtschaftliche Verzahnung und Integration Kriege verhindert und Wohlstand wachsen lässt, hat funktioniert und funktioniert auch heute noch. So sehr heutzutage in Europa auch gestritten wird, mir sind gescheiterte EU-Gipfel und Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof hundert Mal lieber als die grausamen und zerstörerischen Streitmethoden der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts. Spitz gesagt: Besser über Flüchtlings­-auf­teilungsquoten streiten als über den „Lebensraum im Osten“. „Denn wenn die Menschen auf-hören, für eine offene Gesellschaft zu kämpfen, ist es mit allem vorbei – mit der Freiheit, mit der Demo­kratie und mit der (Anm. des Autors: öko-sozialen) Marktwirtschaft“6, so hat es Sir Karl Popper in Die offene Gesellschaft und seine Feinde7 formuliert.

Die Herausforderungen, denen die EU derzeit begegnet, sind keinesfalls klein: Spannungen in der Währungsunion, hohe Jugendarbeitslosigkeit in manchen Ländern, Überregulierungen, fehlende Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, Erpressbarkeit durch die Türkei, Brexit, stärker werdender Rechts- und Linkspopulismus, Nationalismus, wachsende Terrorismusgefahr, das auftrumpfende Russland, von Putin bis Trump, von Orbán bis Erdoğan oder Kaczyński. Untergangspropheten machen es sich einfach und verfallen in eine Schwarz-weiß-Malerei anstatt sich mit den Herausforderungen differenziert auseinanderzusetzen und Lösungsvorschläge anzubieten.

Was tun?

Erinnern wir uns an das, was uns Robert Schuman am 9. Mai 1950 ins „Stammbuch“ geschrieben hat: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ 8 Für mich ist diese Feststellung Arbeitsprogramm, Auftrag und Ansporn.

Viele der beschriebenen Probleme sind real, die meisten leider sogar hausgemacht. Trotzdem ist die Konsequenz, die manche daraus ziehen, im Lichte der Äußerung Schumans völlig falsch. Statt Europa handlungsfähiger zu machen und der Europäischen Union die Instrumente (finanzielle, rechtliche, personelle) in die Hand zu geben, mit denen die Probleme rascher gelöst werden könnten, reagieren sie mit Rückzug und Schuldzuweisungen. Sie wollen die EU rückabwickeln anstatt sie weiterzuentwickeln. Sie versprechen Heil durch nationale „Lösungen“. Damit resignieren sie vor den Problemen, statt Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Wer sich abschottet, verliert.

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Haus, dessen Heizung nicht funktioniert. Sie wissen nicht, wie Sie die notwendige Reparatur des Daches bezahlen sollen. Was tun Sie dann? Zetteln Sie eine ideologische Grundsatzdebatte an, ob es nicht sinnvoller wäre, in jedem Zimmer getrennte Heizungen einzubauen? Oder behaupten Sie, dass Dachreparaturen in der Geschichte noch nie erfolgreich waren und man es deshalb gar nicht erst versuchen solle? Oder hoffen Sie einfach darauf, dass es nicht mehr regnet? Oder schlagen Sie gar vor, das ganze Haus gleich abzureißen, weil Sie doch Angst vor Zentralheizungen hätten?

Verzeihen Sie bitte die bildhafte Sprache. Aber so kommt mir so manche Debatte über die EU, die derzeit geführt wird, vor. Die zu lösenden Probleme scheinen völlig aus dem Fokus zu geraten. Anstatt nüchtern und mit Gestaltungswillen die großen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen, suchen viele Zuflucht in rückwärtsgewandten Abschottungsfantasien. Immer mehr Politiker beschäftigen sich nicht mit der Frage „Welche Instrumente brauche ich, um die Probleme zu lösen?“, sondern vor allem mit der Frage „Welches Instrument muss ich den Wählern anpreisen, damit sie mich wählen?“. Statt Ängste und Sorgen zu nehmen, schüren und verstärken sie diese. Das ist unverantwortlich und löst sicher kein Problem. Es ist scheinbar bequem, aber feig und populistisch.

Das wahre Problem sind nicht die Probleme selbst, sondern der Umgang mit ihnen sowie die unzureichende und zögerliche Reaktion darauf. Die Krisen fordern eine Stärkung der EU durch neue Taten der Solidarität und des Miteinanders, keine Abschottung der Nation.

„Die Arbeit der EU repräsentiert: ‚Bruderschaft zwischen den Nationen‘ und entspricht einer Form von ‚Friedenskongress‘, wie Alfred Nobel dies als Kriterium für den Friedennobelpreis 1895 in seinem Testament umschrieben hat.“9

Der neue Bundespräsident der Republik Österreich, Professor Dr. Alexander Van der Bellen, hat in seiner ersten Rede nach seiner Angelobung in der Bundesversammlung sehr klar Position bezogen, als er sagte: „Nach dem Zweiten Weltkrieg entschlossen sich Europas Politiker, waren meistens Männer damals noch, endlich zur Versöhnung und zur Gemeinsamkeit. Daraus erwuchs das Projekt der Europäischen Union. Dieses Projekt ist nicht abgeschlossen. Ich bin überzeugt, dass die Europäische Union ein Raum des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands ist und weiterhin sein kann. Es ist ein historisches Ereignis, dass die Staaten und Völker der Europäischen Union die Gewalt aus ihren Beziehungen verbannt haben. Es gibt nicht viele Regionen auf der Welt, wo wir dasselbe sagen können, wenn überhaupt eine. Aber dieses Europa ist unvollständig und verletzlich. Und es ist kompliziert. Das ist auch kein Wunder, wenn 28 hoch entwickelte Demokratien sich zusammentun und ein Drehbuch für ihr Zusammenleben schreiben, dann kann es nicht einfach und im Einzelnen nicht unbestritten sein. Aber die größte Gefahr sehe ich darin, sich von vermeintlich einfachen Antworten verführen zu lassen und dabei in Richtung Nationalismus und Kleinstaaterei zu kippen. Das kann schon gar nicht im österreichischen Interesse als im Weltmaßstab doch sehr kleine[m] Staat sein. Lassen wir uns nicht verführen. Lassen wir uns von der Arbeit an einem gemeinsamen Europa nicht abbringen. Die Erhaltung dieses Friedensprojektes ist aller Mühen wert.“10

Was sind die Herausforderungen?

Um sich mit den Herausforderungen der Zukunft überhaupt beschäftigen zu können, müssen wir den Status quo begreifen. In welcher Welt leben wir heute? Welchen Platz nehmen wir derzeit ein? Stellten wir Europäer Anfang des 20. Jahrhunderts noch etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung, sind wir derzeit knapp sieben Prozent. Bis Ende des 21. Jahrhunderts werden wir – ohne Migration – nur mehr vier Prozent sein.11 Weiters wird der Anteil erwerbsfähiger Personen in Europa bis zum Jahre 2050 um schätzungsweise 15 Prozent zurückgehen.12 Faktum ist, Europa wird weltweit an wirtschaftlichem Gewicht verlieren. Die EU ist nicht Europa. Europa wird nicht als Kontinent wahrgenommen. Dem Europarat gehören 47 Mitgliedstaaten an, der Europäischen Union derzeit 28. Wir sind trotz aller Integrationsschritte in der EU, den Erweiterungen der EU und der Nachbarschaftspolitik noch immer einer der politisch zersplittertsten Kontinente. – „In Vielfalt geeint.“13

Die Entwicklung der Forschungsausgaben, Innovationstätigkeit, Wirtschaft – nicht nur in den BRIC-Staaten – lässt den Wirtschaftsanteil der EU am Weltwirtschaftsvolumen von derzeit knapp 20 Prozent auf neun Prozent, ohne das Vereinigte Königreich, bis 2050 sinken.14 „Zentrale Fragen, die wir uns dabei in Europa stellen müssen, sind: Werden wir ein aktiver Teil der Globalisierung und können wir diese dadurch als Europäer mitgestalten? Oder werden wir in Zukunft zwei voneinander unabhängige Teile wahrnehmen – hier Europa und dort die globalisierte Welt?“15 Ich will, dass die EU die Globalisierung gestaltet/regelt und nicht zum Verlierer dieser wird.

Die Berliner Erklärung, die anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2007 verabschiedet wurde, stellte klar: „Wir stehen vor großen Herausforderungen, die nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Die Europäische Union ist unsere Antwort darauf. Nur gemeinsam können wir unser europäisches Gesellschaftsideal auch in Zukunft bewahren, zum Wohl aller Bürger der Europäischen Union.“16 Rückzugserscheinungen wie der Brexit oder das ungarische Anti-Flüchtlingsreferendum 2016 sind in keiner Weise die richtige Antwort darauf, sondern nur schwächend und kurzsichtig. Diejenigen, die darin Gründe sehen, die EU zurückschrauben zu müssen, übersehen, dass durch den Brexit weder die Selbstbestimmung des Vereinigten Königreichs wächst, noch die Herausforderungen angegangen werden. Sie ignorieren die positiven Ergebnisse der Mitgliedschaft, die Teilnahme an Projekten, die langfristig eingegangenen Verpflichtungen für die Finanzierung und die Kosten des Ausstiegs. Die EU ist kein Golfclub, aus dem man einfach austritt und keinen Mitgliedsbeitrag mehr zahlt. Der Austritt ist ein langwieriges, kompliziertes Scheidungsverfahren mit vielen Beteiligten.

Solche Ereignisse zeigen vielmehr die Unverantwortlichkeit und die Kurzsichtigkeit mancher Politiker. Außerdem machen sie deutlich, wie das ständige Schlechtreden der Europäischen Union, das „Brussels bashing“, Vertrauen zerstört, ganze Länder in eine Negativspirale hineintreibt und die EU am Handeln hindert. Helmut Kohl drückt es noch deutlicher aus, wenn er uns fragt, ob wir vergessen haben, „wo die Welt 1945 stand und wie viel Glück wir in [...] Europa seitdem – natürlich auch, aber eben nicht nur durch eigene Anstrengung – erfahren haben? [...] Sind wir alle verrückt geworden, haben wir den Verstand verloren – und unsere Verantwortung gleich mit?“17 Immer öfter habe ich das Gefühl: Ja!

Was sind nun die großen Herausforderungen, für die sich Europa wappnen muss? Die Globalisierung, der weltweite demografische Wandel, die Verschiebung der Gewichte zwischen den Weltregionen, Migrationsströme, technologische Entwicklungen, Klimawandel, die noch nie dagewesene Fragen aufwerfen, neue Formen der Kriegsführung sowie der Terrorismus sind Phänomene, vor denen wir uns in keinem Alpental verstecken können. Im Inneren müssen wir unsere Wirtschaft und Sozialsysteme modernisieren und gleichzeitig das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Lebensentwürfe in unserer Gesellschaft verbessern.

All dies sind ausnahmslos Herausforderungen, vor denen alle Länder Europas gleichermaßen stehen und die kein Land alleine lösen kann. Die Globalisierung führt dazu, dass die Welt „immer kleiner wird“. Aber die Kritiker der EU halten den Vorsatz einer „ever closer union“ aus dem Lissabon-Vertrag für überholt und „erledigt“. Ist uns denn noch zu helfen? Wie soll Europa denn anders auf immer stärkeren Druck von innen und von außen reagieren, als die Kräfte des Kontinents noch mehr zu bündeln? Je mehr Europa demografisch und wirtschaftlich gegenüber dem Rest der Welt schrumpft und die wirtschafts-politische Dynamik/Investitionen außerhalb der EU stattfinden, desto enger müssen wir Euro­päer zusammenarbeiten. Sonst werden wir unaufhaltsam zum Verlierer der Globalisierung. Meine Antwort darauf: Wir müssen die EU zum glaubwürdigen Sprecher des Kontinents in der Welt machen!

Soziale Unterschiede in Europa ausgleichen

Die Diskussionen um das ungleiche Lohn- und Wohlstandsniveau zwischen West und Ost, Nord und Süd innerhalb der Europäischen Union sind sinnbildlich für die Gretchenfrage, ob mehr oder weniger EU die Vielzahl der Herausforderungen unserer Zeit lösen kann.

Die Verkörperung des Teufels selbst scheint für viele Nationalisten die Idee einer Wirtschafts- und Sozialunion zu sein. Ein zentrales Element der europäischen Integration war und ist es nach wie vor, die sozialen Unterschiede in Europa auszugleichen, Ungleichheiten zu reduzieren, einander zu schützen. Natürlich ist unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell eine öko-soziale Marktwirtschaft, nicht der nackte Markt. Die Mitgliedstaaten, unter ihnen auch Österreich, und das Europäische Parlament haben dafür gekämpft, dass in den Lissabon-Vertrag als Ziel der EU „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“18, aufgenommen wurde. Die EU „fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz“19, so der Vertrag. Oft sind es die gleichen Personen, die der EU vorwerfen, „nur den Konzernen zu nutzen“, die sich gegen eine Stärkung der sozialen Komponente der EU wehren und die Durchsetzung der vier Freiheiten für alle Bürger Europas behindern.

Selbst führende Sozialdemokraten scheinen sich vom Ziel der Angleichung der sozialen Unterschiede zu verabschieden und befeuern Neiddebatten, wenn sie den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus EU-Ländern beschränken wollen, in denen das Lohnniveau nicht zumindest 80 Prozent unseres Einkommens beträgt. Hier werden die sozialen Unterschiede in Europa zum Grund genommen, den Rückwärtsgang einzulegen. Genau das Gegenteil ist notwendig. Weil es immer noch zu große soziale Unterschiede in Europa gibt, müssen wir neue Ideen und Instrumente entwickeln, um diese Unterschiede sukzessive abzubauen. Deshalb haben wir erfolgreich dafür gekämpft, dass die nachhaltige soziale Marktwirtschaft unser Ordnungsmodell für den Binnenmarkt ist.

Wo bleibt die Debatte, wie wir die Währungsunion zu einer Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialunion weiterentwickeln, die vier Freiheiten für alle Bürger Europas erlebbar machen und die Charta der Grundrechte auf allen politischen Ebenen durchsetzbar, einklagbar zur Anwendung bringen?

Verantwortungsdemokratie statt Stimmungsdemokratie

Wir benötigen die Bereitschaft, uns dem gefühlten Widerspruch zwischen der Stimmungslage in weiten Teilen der Bevölkerung und europäischem Gemeinschaftsrecht sowie Zielen zu stellen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die aktuellen Probleme und zukünftigen Herausforderungen nicht im „Entweder-Oder“, sondern nur gemeinsam bewältigen können. Die Stimmungslage und gesellschaftliche Entwicklung – Nationalismus, Protektionismus, Populismus, Schuldzuweisungen statt Problemlösung – bereiten mir große Sorgen. Ich halte sie für gefährlich. Wir müssen uns mit den Stimmungen auseinandersetzen, dürfen uns aber nicht das Denken verbieten lassen. Ich werbe für die Verantwortungsdemokratie statt der Kapitulation vor der Stimmungsdemokratie.

Die Debatte in Deutschland und Österreich beispielsweise um die Valorisierung der Familienbeihilfe für die in einem EU-Mitgliedstaat lebenden Kinder stößt an die Grenzen des bestehenden Gemeinschaftsrechts. Prinzipien wie Diskriminierungsverbot, Personenfreizügigkeit und Mobilität sind berührt. Ist es wirklich „Verrat“, „unanständig“ oder „unnötig“, darauf hinzuweisen?

Die emotionale Diskussion ist exemplarisch für ein Vorgehen zur Schaffung tieferer Trennbruchlinien. Die Idee ist nach der derzeitigen Rechtsprechung und Rechtslage auch (noch) nicht EU-konform umsetzbar. Denn die Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit legt in Artikel 67 fest, dass „eine Person [...] auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats [hat], als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“20 Auch der Europäische Gerichtshof hat in der Vergangenheit in mehreren Rechtsfällen festgehalten, dass der Wohnort nicht an den Leistungsanspruch gekoppelt werden darf. Hier als Beispiel zu nennen ist die Rechtssache C-321/93 José Imbernon Martínez gegen die Bundesanstalt für Arbeit. In diesem Fall hat bereits 1995 der Europäische Gerichtshof in Bezugnahme auf den Inhalt des äquivalenten Artikels der Vorgängerverordnung geurteilt, dass „mit dieser Bestimmung [...] vor allem verhindert werden [soll], dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen“.21

Ein weiteres Beispiel für die Strategie der Abschottung aufgrund der Wohlstandsunterschiede ist die derzeitige Diskussion über die Grundpfeiler des Binnenmarkts und damit besonders über die Personen- und Dienstleistungsfreizügigkeit. In diesem Zusammenhang ist die derzeitige Überarbeitung der Entsenderichtlinie zu nennen. Auf dieser Grundlage werden Arbeitnehmer in der EU in andere Mitgliedstaaten zur Dienstleistungserbringung entsandt und kehren anschließend wieder in ihre Ursprungsländer zurück. Eine Überarbeitung dieser Entsenderichtlinie ist in Hinblick auf einen besseren Schutz von Arbeitnehmerrechten sinnvoll. Protektionistische Maßnahmen zur Eingrenzung des eigenen Arbeitsmarkts sind dabei aber keine Lösung. Vielmehr schaffen sie eine Fragmentierung des gemeinsamen Binnenmarkts und werden über kurz oder lang zu trotzigen Gegenreaktionen führen, die im Umkehrschluss (west-) europäischen Unternehmen in (Ost-)Europa unnötige Steine in den Weg legen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass das Bild eines Ungleichgewichts von Entsendungen zwischen West- und Osteuropa nicht der Realität entspricht, finden sich doch Deutschland und Frankreich unter den drei Ländern mit den meisten entsandten Arbeitnehmern22. Deutschland und Österreich gehören volkswirtschaftlich zu den Hauptprofiteuren der Erweiterung um unsere nördlichen, östlichen und südlichen Nachbarn.

Nationale Alleingänge, die auf Einschränkungen setzen und gar nicht erst versuchen wollen, Folgen der Wohlstandsunterschiede gemeinschaftlich anzupacken, sind problematisch und können zu einer neuen Spaltung in Europa führen. Es geht nicht darum, die sich aus den Wohlstandsunterschieden ergebenden Spannungen zu verleugnen oder zu ignorieren, sondern viel eher darum, sich gerade diesen Spannungen zu stellen und für diese gemeinschaftlich Lösungen auszuverhandeln. Wer dieses Spannungsfeld nicht aufzeigt, streut den Menschen Sand in die Augen und schwächt die Gemeinschaft. Wer einen gemeinsamen Binnenmarkt will, der muss auch akzeptieren, dass dieser nur dann möglich ist, wenn wir einander bei allen Unterschieden gleich behandeln. Das bedeutet aber auch, dass wir versuchen müssen, soziale Unterschiede auf europäischer Ebene auszugleichen. Denn nationale Alleingänge können dem Diskriminierungsverbot widersprechen und zu eklatanten Wettbewerbsverzerrungen innerhalb unseres gemeinsamen Binnenmarktes führen. Die Fragen über Gerechtigkeit, Fairness, Diskriminierung, Respekt treiben uns. Bei der Beantwortung dürfen wir die EU als Rechts- und Wertegemeinschaft nicht (bewusst) ausblenden. Die Stimmungslage ist eines, die bestehende Rechtslage etwas anderes. Es sollte uns nicht um ICH und DU, sondern immer um das WIR, die beste europäische Antwort, gehen.

Unvollendeter Weg

Auch in der Debatte um die gemeinsame Währung, den Euro, werden Ursache und Wirkung vertauscht. Die Probleme, die aus der Zögerlichkeit und der unvollständigen Umsetzung der ursprünglichen Pläne erwachsen, werden zum Argument gemacht, noch zögerlicher zu sein und den Rückzug anzutreten. Die Spannungen in der Eurozone entstehen dadurch, dass die Wirtschafts- und Währungsunion eigentlich nur eine Währungsunion ist und noch nicht genügend zu einer Wirtschafts-, Fiskal-, Sozial- und politischen Union weiterentwickelt wurde. Als der Euro konzipiert wurde, war allen Beteiligten klar, dass dies der Beginn eines Weges war, der weitere Schritte und Maßnahmen notwendig machen würde. Außerdem hatte der Euro nicht nur eine wirtschaftliche Zielsetzung, sondern sollte den Nationalismus unmöglich, die Integration unumkehrbar machen und die EU zur „politischen Union“ weiterentwickeln. Der Euro war und ist auch ein politisches Projekt!

Bereits 1991 sprach Helmut Kohl dies, zwei Tage nachdem er in einer Nachtsitzung den Maastricht-Vertrag ausverhandelt hatte, in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag sehr deutlich an: „Der Weg zur Europäischen Union ist unumkehrbar. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die ein Ausbrechen oder einen Rückfall in früheres nationalstaatliches Denken mit all’ seinen schlimmen Konsequenzen unmöglich macht. [...] Mit dem Ergebnis von Maastricht ist der Weg zur Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion klar vorgezeichnet und unwiderruflich festgelegt.“ 23

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