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Hans R. Herren

SO ER- NÄHREN WIR DIE WELT

Der Autor und der Verlag bedanken sich für

die großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-Stiftung

Erste Auflage Herbst 2016

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2016 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch

Schrift: Filo Pro

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Papier: Werkdruck holzfrei (FSC) bläulichweiß, 90 g/m², 1.75

E-Book: Clara Cendrós

ISBN 978-3-906304-05-2

ISBN e-book: 978-3-906304-11-3

Vorwort [von Anne Rüffer]

Eine Welt ohne Hunger und Elend

1. Hunger im Überfluss

2. Bedrohte Ressourcen

3. Risiken des Klimawandels

4. Die Vision

5. Wie erreichen wir unser Ziel?

6. Neuer Lebensstil

7. Weltagrarbericht und die Folgen

Meine Vision in der Praxis

Marimanti, Kenia: Der heilige Berg grünt wieder

Push-Pull: Schädlinge und Unkraut in Schach halten

Bhutan, Ziel: 100 % Bio

SACDEP, Kenia: Offene Feldtage für den Biolandbau

Meru, Kenia: Die Mango weint nicht mehr

Meru, Kenia: Auskommen mit Landsorten

Frauen tragen die Last der Verantwortung

Towelo, Tansania: Karotten vom Berg

Pflanzenkohle für den Klima- und Bodenschutz

Farmer Communication Programme für Ostafrika

Reis: Produktionssprung dank System of Rice Intensification

Anhang

Biovision

Anmerkungen

Bild- und Grafiknachweis

Biografie Autor

Vorwort

2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«

In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency«, weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10 % sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90 % Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«

Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.

Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind und was sie dazu veranlasste, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.

So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.

Anne Rüffer, Verlegerin

Eine Welt ohne Hunger und Elend

Meine Vision von einem nachhaltigen Ernährungssystem für die Welt hat eine Geschichte und beginnt auf dem Land: Ich bin ein Bauernbub, mein Vater war Gutsverwalter auf der Domaine des Barges im Unterwallis, einem Landwirtschaftsbetrieb im Besitz der Aargauer Tabakdynastie Burger Söhne. Auf 40 Hektar wurden hier Tabak, Kartoffeln und Weizen angebaut.

Am eigenen Leib erlebte ich, was intensive Landwirtschaft damals bedeutete: Gegen die Raupen der Motten und Nachtfalter, die sich an den Tabakblättern gütlich taten, sowie gegen eine eingeschleppte Pilzkrankheit, wurden hochgiftige Insektizide und Fungizide verspritzt. Sie vernichteten neben den Schadinsekten und Pilzen auch Nützlinge wie Bienen. Für mich war das normal. Zwar dachte ich schon damals gelegentlich, das viele Gift sei für Mensch und Natur vermutlich nicht sehr bekömmlich, aber wir kannten nichts anderes. Und für die moderne Landwirtschaft schien eine solche chemische Behandlung notwendig.

An der Walliser Landwirtschaftsschule Châteauneuf lernte ich später zwei Winter und einen Sommer lang alles, was ein Bauer vom Obst- und Weinbau bis zur Tierhaltung wissen musste – nämlich dass der Einsatz von Agrochemikalien ein Erfolgsgarant für gute Ernten und ein besseres Leben sei.

Danach absolvierte ich auf dem zweiten Bildungsweg die Matura und begann 1969 ein Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, wo ich den Diplomlehrgang Agraringenieur mit Hauptfach Pflanzenschutz und Nebenfach Pflanzenzüchtung wählte. Auch hier bedeutete Pflanzenschutz fast ausschließlich, chemische Mittel gegen schädliche Insekten, Unkräuter und Pilzbefall einzusetzen.

Es war die Zeit der »Grünen Revolution«, womit die in den 1960er-Jahren begonnene Entwicklung moderner landwirtschaftlicher Hochleistungs- bzw. Hochertragssorten und deren erfolgreiche Verbreitung in Entwicklungsländern bezeichnet wird. Als junger ETH-Student war ich von den Ertragssteigerungen, die mit Hochleistungssorten und massivem Einsatz von Agrochemikalien erzielt wurden, tief beeindruckt. Aber ich begann auch, diese Art der Landwirtschaft kritisch zu hinterfragen.

Meine Dissertation machte ich bei Vittorio Delucchi, Professor für Entomologie (Insektenkunde). Er war in der Schweiz ein Pionier der Idee, in der Landwirtschaft gegen schädliche Insekten keine Insektizide, sondern natürliche Feinde einzusetzen. Dass es gegen jeden Schädling in der Natur immer auch den passenden Nützling gibt, war den Insektenforschern zwar schon lange bekannt, die nützlichen Insekten zu finden, für den Einsatz in der Agrarwirtschaft in großer Zahl zu züchten und mit einer geeigneten Methode auf dem Feld freizusetzen, schien der herkömmlichen Agrarwirtschaft jedoch zu kompliziert und zu aufwändig. Und dies, obwohl der Beweis längst erbracht war, dass die Methode funktionierte.

Vittorio Delucchi öffnete mir die Tür zur Forschungsgruppe von Robert van den Bosch an der University of California in Berkeley, dem Mekka der Insektenkunde und der biologischen Schädlingsbekämpfung. Am Internationalen Institut für Tropische Landwirtschaft (IITA) in Ibadan, Nigeria, konnte ich ab 1979 das erworbene Wissen für die biologische Bekämpfung der Schmierlaus, einem gefürchteten Maniokschädling, erstmals anwenden.1

Ich blieb 27 Jahre in Afrika und in der biologischen Schädlingsbekämpfung tätig. Die Erfahrung und das erworbene Wissen brachten mich zur Einsicht, dass die Landwirtschaft, ja, das ganze Ernährungssystem der Erde grundlegend gewandelt werden müssen.

Das Ziel ist hochgesteckt: Eine Welt ohne Hunger und Elend, in der alle Menschen gleiche Rechte genießen, in Frieden miteinander und im Einklang mit der Natur leben. Die Grenzen, die unser Planet setzt, werden respektiert, Gewalt und Krieg geächtet. Die Bedürfnisse der kommenden Generationen stehen zuoberst auf der politischen Agenda, die natürlichen Lebensgrundlagen werden für sie regeneriert und bewahrt. Die Energieversorgung basiert zu 100% auf erneuerbaren Energieträgern.

Dem Ernährungssystem kommt in dieser Vision eine Schlüsselrolle zu.

1. Hunger im Überfluss

Jeder neunte Mensch geht abends hungrig ins Bett. Laut dem Rapport der Ernährungs– und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO zur Nahrungsmittelsicherheit aus dem Jahr 2015 sind weltweit 795 Millionen Menschen – knapp 11% der Erdbevölkerung – unterernährt. Das sind zwar 216 Millionen weniger als zu Beginn der 1990er–Jahre,2 doch das Ziel des Welternährungsgipfels von 1996, die absolute Zahl der Hungernden von 1990 bis 2015 zu halbieren, das heißt, um gut eine halbe Milliarde zu senken, wurde damit deutlich verfehlt.

Jedes siebte Kind unter fünf Jahren ist untergewichtig. Unterernährung ist mit ursächlich für den Tod von 3,1 Millionen Kindern unter fünf Jahren pro Jahr – mehr als 45% aller Sterbefälle in dieser Altersklasse.3 Am stärksten vom Hunger betroffen ist Afrika südlich der Sahara, wo derzeit rund 23% der Bevölkerung unterernährt sind; in der Karibik sind es knapp 20%.4

Zwei Milliarden Menschen nehmen im Essen zwar genug Energie und Proteine auf, sind aber nicht ausreichend mit Vitaminen und essenziellen Mineralstoffen wie Jod und Eisen versorgt. Eine Ursache dafür ist die verminderte Ernährungsvielfalt, weil Grundnahrungsmittel in Monokulturen angebaut werden und manche nährstoffreiche Pflanzen im lokalen Ernährungssystem fehlen. In den reichen Ländern sind die Menschen oft ebenfalls fehlernährt, weil sie verarbeitete Nahrungsmittel verzehren, die viele Kalorien und viel Fett, aber wenig Mikronährstoffe enthalten.

Hunger ist das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Doch auch das Gegenteil ist ungesund: Weltweit sind 1,4 Milliarden erwachsene Menschen übergewichtig, davon gar 500 Millionen fettleibig.5 Übergewicht ist eine der Hauptursachen für Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfälle und etliche Krebsarten. 1980 war ein Viertel aller erwachsenen Menschen davon betroffen, 2008 waren es bereits mehr als ein Drittel – zunehmend auch in Entwicklungsländern. Insgesamt isst heute etwa jeder zweite Mensch zu wenig, zu viel oder das Falsche.6

Für manche Länder des Südens ist Hunger ein schwer zu überwindendes Entwicklungshindernis: Wo die Menschen nicht ausreichend ernährt sind, bleibt die Arbeitsproduktivität gering, und hungrige Kinder verpassen einen Großteil der schulischen Ausbildung, zudem fallen erhebliche Krankheitskosten an. Eine in mehreren afrikanischen Ländern durchgeführte Studie bezifferte die Kosten des Hungers auf zwischen 2 und 16% des Bruttosozialprodukts der betreffenden Länder.7

Ein Nahrungssystem, das einerseits zu viel und andererseits zu wenig gesunde und zugängliche Nahrung auf den Tisch bringt, kann kein Modell für die Zukunft sein. Ein vertiefter Blick auf die nachstehenden Problemstellungen zeigt, was das angestrebte Ziel des Welternährungsgipfels – den Hunger auszurotten – bisher verunmöglicht.

Verschwendung

Derzeit produzieren die Bäuerinnen und Bauern dieser Welt genug, um mehr als 14 Milliarden Menschen zu ernähren – das heißt, doppelt so viel, wie gegenwärtig benötigt wird. Doch davon landet nur ein Teil in den Mägen der Konsumenten. Gemäß einer Anfang 2013 publizierten Studie der britischen Institution of Mechanical Engineers gehen 30 bis 50% der für den menschlichen Verzehr bestimmten Nahrungsmittel verloren.8

In den Entwicklungsländern sind ungenügende Lagerungs-, Verarbeitungs- und Transportkapazitäten die Hauptgründe für die Nahrungsmittelverluste.

Anders in den Industrieländern: In der Schweiz fallen 45% der Verluste in den Haushalten an.9 Sonderangebote verleiten dazu, mehr zu kaufen, als verzehrt werden kann. Und die Verfallsdaten sind so festgelegt, dass in der Küche oft noch einwandfreie Nahrungsmittel ausgemustert werden.

Derzeit wird weltweit ein Drittel der Lebensmittel nicht verzehrt, was hohe wirtschaftliche Verluste verursacht (jährlich etwa 940 Milliarden US-Dollar) und 8% aller Treibhausgasemissionen ausmacht. Eine Studie von Porter, Reay, Higgins und Bomberg der Universität Edinburgh bestätigt, dass Nahrungsmittelverluste und -verschwendung jährlich 2,2 Gigatonnen CO2-Äquivalente verursachen. Das sind 323 kg CO2 pro Person, und dreimal mehr als noch vor 50 Jahren.

Champions 12.3, eine Koalition aus über 36 Unternehmens- und Regierungsvertretern sowie Personen aus der Zivilgesellschaft, zieht mit einem Bericht Bilanz zu den Fortschritten im Kampf gegen »Food Waste and Loss« als Teil der im Herbst 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele (SDGs). Zwar würde die Staatengemeinschaft bereits viele Anstrengungen unternehmen, Ziel 12.3. zu erreichen. Diese genügen laut dem Bericht jedoch nicht, die derzeitigen Missstände in der Produktions- und Lieferkette bis hin zum Endverbraucher zu beheben.

Die Behebung von Lebensmittelverlusten und -verschwendung, betont der Bericht, würde sich dreifach auszahlen: durch eine verbesserte Ernährungssicherheit, Kosteneinsparungen in der gesamten Wertschöpfungskette sowie durch Ressourcen- und Klimaschonung. Alle Beteiligten müssten nun zügig aktiv werden, sich auf konkrete Reduktionsziele einigen, Fortschritte regelmäßig messen und ohne Wenn und Aber handeln. Teilweise gibt es schon gute Vorbilder: Italien und Frankreich haben dieses Jahr ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung verabschiedet: Anstatt essbare Lebensmittel zu entsorgen, können Supermärkte diese nun spenden. Auch die USA kündigte an, Lebensmittelverluste bis 2030 halbieren zu wollen.

Bedenklich sei derzeit, dass lediglich einige Regionen und größere Konzerne Bemühungen zur Erreichung des Ziels 12.3 unternehmen würden. Auch bei der Fortschrittsmessung bedarf es vielerorts noch der Verbesserung. Es fehle an professionellen Systemen und Methoden, Bestandsdaten ordentlich zu erfassen und so Problembereiche zu identifizieren, zeigt der Bericht. Fazit: Um das SDG-Unterziel 12.3 bis 2030 zu erreichen, müsse jedes Land, jede Stadt, jedes Unternehmen und vor allem jeder Erdenbürger verstärkten Einsatz im Kampf gegen Nahrungsmittelverschwendung und -verluste zeigen.10

Zu viel Fleisch

Eine andere Form der Nahrungsmittelverschwendung ist der hohe Fleischkonsum. Eine Kalorie aus tierischer Produktion erfordert zwei bis sieben pflanzliche Kalorien für Futtermittel.

Der Fleischverbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren weltweit vervierfacht.11 Derzeit liegt er bei jährlich 32 kg pro Kopf der Erdbevölkerung.12 In der Schweiz sind es 51,13 in Deutschland 6014 und in Frankreich 86 kg.115 Während der Konsum in den Industrieländern stagniert oder gar leicht zurückgeht, nimmt er in Schwellenländern teils rasant zu.

Die Fleischproduktion erfolgt mehr und mehr industriell in Massentierhaltungssystemen. Die Haltungsform erfordert den Einsatz großer Mengen von Antibiotika. Weltweit gehen 70% des Antibiotikaverbrauchs auf das Konto der landwirtschaftlichen Tierhaltung.16 Der exzessive Antibiotikaeinsatz begünstigt die Entwicklung von Resistenzen. In Europa sterben schätzungsweise 25 000 Menschen pro Jahr an Infektionen durch antibiotikaresistente Erreger.17

Hinsichtlich der Ressourceneffizienz ist ein gewisser Anteil an tierischen Produkten an der menschlichen Ernährung durchaus sinnvoll. Etwa zwei Drittel der globalen Agrarfläche sind nur als Gras- und Weideland18 nutzbar. Wiederkäuer, die Gras fressen, sind keine Nahrungsmittelkonkurrenten für Menschen, sie liefern zudem Dünger. Und Hühner und Schweine können Nahrungsmittelabfälle und Nebenprodukte verwerten – eine gute Sau frisst alles.

Doch viele Nutztiere werden vorwiegend mit Getreide und anderen Ackerfrüchten gefüttert: Ein Drittel der Weltgetreideproduktion geht heute in die Ställe.19 Ein Großteil der Futtermittel für die Fleischproduktion in den Industrieländern wird zudem importiert. Die so »ausgelagerte« Ackerfläche der EU umfasst 35 Millionen Hektar.20 Das entspricht mehr als einem Drittel der gesamten Ackerfläche der EU,21 die den Entwicklungsländern für den Anbau von Nahrungsmitteln für die eigene Bevölkerung verloren geht.

Die treibende Kraft für die Fehlentwicklungen in der Tierhaltung ist der ökonomische Druck, möglichst viel und möglichst rationell Fleisch zu produzieren. Für uns in den reichen Industrieländern wird Fleisch damit spottbillig, für eine wachsende Mittelschicht in den Entwicklungsländern erschwinglich, die Armen hingegen gehen leer aus. Sie können sich weiterhin kein Fleisch leisten, und die Nutztiere fressen ihnen die pflanzliche Nahrung weg. Nach einer Berechnung des UN-Umweltprogramms UNEP könnten die Kalorien, die bei der Umwandlung von pflanzlichen in tierische Nahrungsmittel verloren gehen, 3,5 Milliarden Menschen satt machen.22

Zu arm für eine ausreichende Ernährung

Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut: Sie müssen mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen.23 Arme Familien in Entwicklungsländern geben 50 bis 80% ihres Einkommens fürs Essen aus;24 schon eine geringfügige Erhöhung der Nahrungsmittelpreise kann für sie existenzielle Not bedeuten.

Das war zum Beispiel in den Jahren 2007 und 2008 der Fall. Damals führten wetterbedingte Ernteausfälle, die gesteigerte Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen und Fleisch sowie Spekulationsfieber zu einem Preissprung bei den Grundnahrungsmitteln. Allein von Juli 2007 bis Juli 2008 erhöhte sich der von der FAO berechnete Preisindex um 52%.25 Die unmittelbare Folge: Die Zahl der unterernährten Menschen stieg um 70 bis 100 Millionen an. In manchen betroffenen Ländern kam es zu Hungerrevolten, in Haiti führten diese gar zum Sturz der Regierung.

Das scheinbare Paradox: Nahrung

Dennoch sind nicht zu hohe Nahrungsmittelpreise das eigentliche Problem, im Gegenteil: Nahrung ist zu billig. Um dieses scheinbare Paradox zu erklären, muss man ein wenig ausholen.

Möglichst viel, möglichst billig und mit möglichst geringem Arbeitseinsatz zu produzieren, lautet die Devise der industriellen Landwirtschaft. Dieser reduktionistische, auf Maximalerträge fixierte Ansatz bedingt die maschinelle Produktion in Monokulturen, auf denen Hochertragssorten mit exzessivem Einsatz von Mineraldünger, Pestiziden und Wasser gepusht werden. Dies wiederum bedeutet die Ausbeutung von nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen.

Rein quantitativ war dieser Ansatz in der Vergangenheit durchaus erfolgreich. Obschon sich die Weltbevölkerung in dieser Zeitspanne mehr als verdoppelte, wurde 2011 pro Kopf annähernd 30% mehr Getreide produziert als 1961;26 im Gegenzug zu den steigenden Erträgen sanken die Preise. Gemäß Bundesamt für Statistik gibt ein Durchschnittshaushalt in der Schweiz heute bloß noch 6,4% des Bruttoeinkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aus,27 in Deutschland sind es 10,5%.28

Doch von den neuen Agrartechniken profitierte nur eine Minderheit der Bäuerinnen und Bauern, die sich die landwirtschaftlichen Hilfsmittel leisten konnten. Für weitaus die meisten Kleinbetriebe der Entwicklungsländer ist eine Produktion, die einen hohen Input teurer Hochertragssorten und Agrochemikalien erfordert, kein anwendbares Modell, um die Produktion zu steigern und der Armut zu entfliehen.

Derweilen verhökern Länder des reichen Nordens ihre Überschüsse im Süden mithilfe milliardenschwerer Exportsubventionen. Dort konkurrenzieren die Importgüter die lokale Landwirtschaft. Die Folge ist, dass heute über 70% aller Hungernden auf dem Land leben.29 Als Kleinbäuerinnen und -bauern, Landarbeiter und Landlose sind sie direkt von der Landwirtschaft abhängig. Sorgt günstige Witterung für gute Ernten, werden sie zwar satt, doch mit den über den Eigenbedarf hinaus produzierten Nahrungsmitteln verdienen sie wenig bis nichts. In schlechten Jahren ernten sie zu wenig, um sich ausreichend ernähren zu können. Und für den Kauf von Nahrungsmitteln fehlt ihnen das Geld. Als letzten Ausweg wählen sie die Abwanderung in die Städte, landen meist in den Elendsvierteln, wo sie auf Gedeih und Verderb auf Esswaren angewiesen sind, die aus billigen, subventionierten Importen aus dem reichen Norden verfügbar sind und die zugleich den einheimischen Bäuerinnen und Bauern kein Auskommen ermöglichen.

Verschärft wird das Problem durch die einseitig auf eine exportorientierte Landwirtschaft ausgerichtete Agrarpolitik mancher Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Die Produktion für den Inlandbedarf wird vernachlässigt, und für eine gesunde Ernährung wichtige traditionelle Kulturpflanzen werden nicht mehr angebaut. Lateinamerika produziert heute dreimal mehr Nahrung, als konsumiert wird;30 dennoch sind 34 Millionen Menschen dieses Kontinents unterernährt.31

Inzwischen sind rund zwei Drittel der Entwicklungsländer Nettoimporteure von Nahrungsmitteln32 oder sind gar von der Nahrungshilfe aus dem Norden abhängig. So trägt das fehlentwickelte globale Ernährungssystem dazu bei, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auftut – auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene. Was wiederum das Hungerproblem perpetuiert – ein Teufelskreis. Um ihm zu entkommen, sind reduktionistische Lösungen, wie sie die industrielle Landwirtschaft anbietet, untauglich, ja kontraproduktiv. Es braucht ganzheitliche Ansätze zur Bekämpfung der Armut, durch eine auf dieses Ziel ausgerichtete Entwicklungs-, Handels-, Sozial- und Steuerpolitik, und dies sowohl auf internationaler Ebene wie in den einzelnen Ländern. Ein nachhaltiges Ernährungssystem, wie es mir vorschwebt, kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

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