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Читать книгу: «Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens», страница 5

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Schrift, Tradition und Dogma sind nur insoweit normativ für die Weitergabe des Glaubens, als sie selbst der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung gerecht werden bzw. in deren Dienst stehen.

Die Vermittlung des christlichen Glaubens (fides quae) entspricht also nur dann der Verkündigung Jesu, wenn sie selbst die Verlaufsform unbedingter Zuwendung zum Menschen annimmt. In ihrem Zeugnis muss sie vollziehen, was sie bezeugt. Mehr noch: Wenn die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bestimmt ist durch die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung, dann kann es eine Weitergabe und Vergegenwärtigung dieser Offenbarung nur geben, wenn diese Koinzidenz tradiert werden kann.

3.1. Heilige Schrift: Den Glauben bezeugen

Die bisher in immer neuen Anläufen verdeutlichte Korrespondenz und Koinzidenz von Vollzug und Gehalt bei der Weitergabe des Evangeliums stellt zweifellos eine problemerzeugende Problemlösung dar. Sie gibt eine Antwort auf die Herausforderung einer zeitversetzten Gleichzeitigkeit mit dem Grund-Geschehen des Christentums. Aber sie muss sich auch fragen lassen, ob sie zureichend abgesichert ist und nicht vielleicht eine Reihe von problematischen Sachverhalten unterschlägt. Dies gilt zunächst und vor allem für die Bestimmung von Autorität und Normativität der Hl. Schrift als ursprünglicher Partitur einer Vergegenwärtigung des „Wortes Gottes“. An ihr vorbei ist demnach das „Wort Gottes“, wie es in der Verkündigung Jesu vergegenwärtigt wurde, nicht zugänglich. Sie ist somit nicht in einem beliebigen Sinn autoritativ oder normativ für den Glauben, sondern nur in dem Sinn, in dem es ihr um die Zusage von Gottes Zuwendung zum Menschen geht. Zur Einlösung dieses Anspruchs bedarf es der Praxis ihres Inhaltes, d. h. unbedingter Zuwendung zum Menschen.

Gegen diese These sind gewichtige Einwände denkbar, die es auf den ersten Blick fraglich erscheinen lassen, ob sie tatsächlich Bestand haben kann:

– Ist es statthaft, in der Reflexionsfigur „Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung Gottes zum Menschen“ die Grundaussage nicht bloß des Neuen Testamentes, sondern der ganzen Bibel zusammenzufassen? Lässt sie sich wirklich auf sämtliche „Bücher“ der Bibel beziehen?68 Wie ist mit jenen biblischen Texten umzugehen, die eine ganz andere Geschichte erzählen: die Gottverlassenheit des Menschen, die Erfahrung der Abwendung Gottes von den Menschen, Gottes Zorn über die Abwendung der Menschen von Gott?69

– Verdient das Neue Testament wirklich das ursprüngliche Zeugnis der christlichen Verkündigung genannt zu werden, wenn doch jeder seiner einzelnen Schriften eine Phase der mündlichen Tradition der Jesusbotschaft vorausging und die Zusammenstellung eines Kanons der biblischen Schriften bis zu seiner Endredaktion mehrere Jahrhunderte brauchte?70 Wie kann man sicher sein, dass tatsächlich die ältesten Zeugnisse aus der Ursprungszeit des Christentums erfasst wurden?

– Verdankt das Neue Testament seine Autorität und Normativität wirklich sich selbst und nicht einem Konsens kirchlicher Autoritäten, die einen verbindlichen Schriftkorpus (Kanon) zusammengestellt haben?71 Steht dies nicht im Widerspruch zur Behauptung, die Hl. Schrift sei „norma normans“ der Verkündigung bzw. die Kirche stünde nicht über dem „Wort Gottes“?

Diese Anfragen entstammen theologischen Debatten, die weit über das Feld einer Topologie des christlichen Kerygmas hinausgehen. Zum Teil werden sie von Seiten der Religionskritik immer wieder neu an die Theologie adressiert, wenn es etwa um das Gewaltpotenzial der biblischen Gottesrede geht.72 Zu einem anderen Teil rühren sie an das Verhältnis von Exegese und Dogmatik,73 tangieren Anspruch und Alternativen historisch-kritischer Bibelhermeneutik74 oder erinnern an lang zurückliegende, aber vielleicht noch immer virulente christlich-konfessionelle Differenzen und Kontroversen.75 Auf diese Kontexte kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; im Rahmen einer vorläufigen Antwort auf die oben formulierten Einwände sind sie zudem nur von mittelbarer Bedeutung.76

(1) Zunächst ist festzuhalten, dass nicht das Neue Testament in seiner Schriftgestalt unmittelbarer Ausdruck des „Wortes Gottes“ ist. Zunächst bildet es samt und sonders den schriftlichen Niederschlag menschlicher Erfahrung und Deutung des Wirkens Jesu. Als ein solches Zeugnis ist es selbst „Gottes Wort im Menschenwort“77, indem und insofern es das Leben und Wirken Jesu als „Wort Gottes in Person“ vergegenwärtigt. In ähnlicher Weise ist vom Alten Testament zu sagen, dass es der Niederschlag einer menschlichen Resonanzerfahrung von Gottes Schöpferwort ist. Es erinnert an das bleibende gegenseitige „Im-Wort-Sein“ von Gott und Mensch und es verschweigt jene Situationen nicht, die als Wortbruch Gottes wie des Menschen erlebt werden können. Es macht eindrücklich klar, dass auch dem glaubenden Menschen nichts erspart bleibt an Krankheit, Leid und Gewalt. Auch die Erfahrung der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins hat ihren Ort in den „Resonanzen“, die das Hören auf das Wort Gottes auslöst.

Wenn es überhaupt eine Grundaussage einer gesamtbiblischen Theologie geben kann, dann wird sie den „Wortcharakter“ der Schöpfung bzw. das gegenseitige „Im-Wort-Sein“ von Schöpfer und Geschöpf zum Thema haben müssen.78 Dann aber wird man den performativen Charakter dieses Wortes zu bedenken haben und damit einen hermeneutischen Schlüssel gewinnen, der die unterschiedlichen Texte der Bibel jeweils nach ihrer Eigenart als Zuspruch und Anspruch dieses Wortes deutbar macht, aber auch jenes nicht auslässt, was im Modus des Widerspruchs zu vermeintlich letzten Worten über Mensch und Gott von den Texten selbst artikuliert wird.

Das biblische Reden von Gott ist allerdings so facettenreich, dass es jeder Behauptung „so und nicht anders ist Gott“ widerstreitet. Die Bibel schärft immer wieder ein: „Nicht so, sondern anders ist Gott“. Das gilt auch für die Rede von der Liebe Gottes – es ist eine andere, eine durchkreuzte und gekreuzigte Liebe, in der sich ein Mensch der Erfahrung von Leid und Gewalt zum Trotz geborgen wissen soll. Diese Liebe wird dem Menschen im Modus eines Versprechens zugesagt. Es macht die Eigenart eines Versprechens aus, dass man seine Einlösung unterstellen muss in Situationen, die gegen seine Erfüllung sprechen. Wer ein Versprechen annimmt, muss das Versprochene kontrafaktisch als eingelöst annehmen. Wer ein Versprechen gibt, muss von dem, der es annimmt, bereits als jemand angesehen werden, der es hält – auch wenn die Umstände noch nicht darauf schließen lassen.

Vor allem ist die Bibel auch Ausdruck dafür, dass sich der Mensch von Gott zur Rede stellen lässt. Darum ist sie Ausdruck seiner vielfältigen Antwort auf Gottes Schöpferwort. Diese Antwort umfasst alle Themen und Formen, die auch der betende Mensch kennt und praktiziert: Lob und Dank für den erfahrenen, wohltuenden Unterschied zum eigenen Nichtsein und zu einem „gottverlassenen“ Leben, aber auch Bitte und Klage angesichts des Bedrohtseins vom eigenen Nichtsein und von der Erfahrung bedrängender Gott- und Menschenverlassenheit.

(2) Die Ergebnisse historisch-kritischer Bibelforschung nötigen in der Tat zu einer Präzisierung, was die Priorität und den Primat des Neuen Testamentes für die Weitergabe der christlichen Botschaft betrifft. Sie kann nicht in einem historischen Sinn als deren ursprüngliches Zeugnis, wohl aber als Zeugnis des Ursprungs gelten. Auch das Postulat der apostolischen Verfasserschaft ist im historisch-kritischen Sinn für etliche Schriften des Neuen Testamentes nicht erfüllbar. Dies würde aber nur dann ihre Relevanz und Autorität schmälern, wenn dafür das formale Kriterium der „Anciennität“ ausschlaggebend wäre. Wenn aber gilt, dass formale Kriterien nicht abgelöst von materialen Überlegungen in Stellung gebracht werden dürfen, dann genügt für den kanonischen Status von Texten das Bestehen folgender Testfrage: Haben die zum Zeitpunkt der Kanonisierung ältesten verfügbaren und bis dahin im katechetischen bzw. liturgischen Gebrauch stehenden Texte in ihrer Wirkungsgeschichte gezeigt, dass Menschen durch sie immer wieder an sich selbst den Gehalt der Botschaft Jesu als wahr und wirklich erfahren können?

Im Übrigen setzt die Sorge, durch den frühzeitigen Verlust oder durch die Unterschlagung einer bestimmten Schrift sei unsere Kenntnis von Person und Wirken Jesu unvollständig, in unzulässiger Weise voraus, dass die Botschaft Jesu mit einem Puzzle vergleichbar ist, bei dem sich ein vollständiges Bild erst dann ergibt, wenn alle Puzzlestücke zusammengesetzt wurden.79 Das christliche Kerygma besteht aber nicht aus einer Addition von Textteilen zu einem Gesamttext, sondern aus der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt einer unbedingten Selbstzusage Gottes. Wenn diese Koinzidenz im Blick auf die Texte des Neuen Testamentes nicht aufweisbar bzw. performativ nicht darstellbar ist, hilft eine noch so große Sammlung von „kanonischen“ Schriften nicht weiter. In diesem Fall wäre sie aus theologischer Sicht formal und material „unvollständig“.

(3) Die Zusammenstellung des Kanons der neutestamentlichen Schriften stellt aus heutiger Sicht ihrerseits eine problemerzeugende Problemlösung dar. Gelöst werden musste das Problem, dass bereits im 2. Jahrhundert eine Situation der „literarischen Unübersichtlichkeit“ eingetreten war und etliche Texte kirchlich im Umlauf waren, die unter gnostischem Einfluss auf eine Rückbindung an das geschichtliche Ursprungsgeschehen der christlichen Verkündigung kaum mehr Wert legten. Von der Kirche zu leisten war eine Antwort auf die Frage: Anhand welchen Kriteriums lässt sich ermitteln, ob ein Text überhaupt in den Korpus der Heiligen Schrift aufgenommen werden soll? Die Entdeckung eines solchen Kriteriums ist in der Tat die Leistung der Kirche. Dies gilt auch für den Akt der Aufstellung eines Kanons. Hierbei handelt es sich um ein historisch kontingentes Geschehen.80 Woran die Kirche dabei aber Maß nimmt, ist nicht sie selbst. Auch ist nicht der Kanon als solcher maßgebend, sondern in und mit dem Prozess der Kanonbildung findet die Kirche den Maßstab, an dem Maß zu nehmen ist, wenn sie das Maßgebliche des Glaubens ermitteln will. Als Prüfstein gilt die Frage: Enthält ein Text die Wahrheit, die Gott den Menschen um ihres Heils willen mitteilen wollte?81 Ist es eine Wahrheit, auf die ein Mensch sich im Leben und Sterben verlassen kann? Hierbei geht es fraglos nicht um ein Heil, das von der Kirche kommt, und es geht auch nicht um Texte, die allein wegen ihrer apostolischen Verfasserschaft heilsrelevant sind.

Käme es allein auf das Kriterium der Apostolizität an, würde der bestehende Kanon ein Problem erzeugen, das sich angesichts der Ergebnisse historisch-kritischer Forschung verschärft: Zu den 27 Schriften des Neuen Testamentes zählen etliche Paulusbriefe, denen keine apostolische Verfasserschaft zukommt. Es fehlen hingegen Texte, wie etwa der erste Clemensbrief oder der „Hirt des Hermas“, die durchaus in die apostolische Zeit zurückweisen. Stattdessen ist der 2. Petrusbrief aufgenommen worden, dessen Entstehungszeit bereits ins 2. Jahrhundert fällt. Unberücksichtigt bleiben dagegen ein Petrus-, Thomas- und Jakobusevangelium, die möglicherweise authentische Jesusworte enthalten.

Dass es dennoch beim bestehenden Kanon bleiben kann, lässt sich kaum anders rechtfertigen als durch die bereits benannte „regula fidei“: Die kanonisierten Texte sind Partituren für die Tradition der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt des christlichen Kerygmas. Dass sie unter dieser Rücksicht ein Bezeugungsort der Heilszusage Gottes ist, macht die Autorität der Hl. Schrift aus. Dass die Kirche diese Autorität anerkennt, begründet die Normativität des Kanons für die Vermittlung des christlichen Glaubens. Aber nicht der Kanon als solcher ist maßgebend für Theologie und Kirche. Seine regulative Bedeutung besteht vielmehr darin, dass er angibt, wo und wie der normative Maßstab für die Übersetzung des christlichen Kerygmas in andere Formen der Verkündigung und Glaubenspraxis zu suchen und zu finden ist.

Nicht zuletzt aus diesem Grunde muss auch die Kategorie der Inspiration einer Revision unterzogen werden. Seitdem sie theologisch eingeführt wurde, musste sie hinsichtlich ihrer supranaturalistischen Annahmen sukzessive abgeschwächt werden. Weder ließ sich die Behauptung der Inspiriertheit des konkreten Wortlautes (Verbalinspiration) aufrechterhalten, noch hatte die Version der Personalinspiration mit Bezug auf die Verfasser der Schrift für längere Zeit Bestand.82 Problematisch an diesen Konzepten ist der Versuch, die herausgehobene Bedeutung der Hl. Schrift durch einen besonderen, äußeren Umstand ihrer Entstehung zu legitimieren. Die „Inspiration“ von Text und Autor wird gedacht im Modus einer Überbietung des menschlichen Anteils am Zustandekommen von Texten durch eine göttliche Zutat oder ein spezielles göttliches Mitwirken. Auf diese Weise wird „Inspiration“ zur Kennzeichnung eines formalen Merkmals der Hl. Schrift oder ihrer Entstehung: Die Verfasser der biblischen Texte wurden von Gott in besonderer Weise dazu autorisiert, so dass diesen Texten eine besondere Autorität zukommt.

Was die biblischen Texte zum Bestandteil einer „Heiligen Schrift“ macht, muss aber hinsichtlich ihrer Autorschaft keineswegs so gedacht werden, dass Gott einem Menschen durch einen interventionistischen Akt die passenden Worte eingibt, mit guten Einfällen versorgt oder auf eine neue Idee bringt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass das „Im-Wort-Sein“ von Gott und Mensch, das Kennzeichen der Schöpfung ist, nochmals überboten wird. Wenn aber Gottes daseins-, identitäts- und freiheitsbegründendes Schöpferwort bereits unüberbietbar ist, ist dieses Konzept nicht haltbar. Stattdessen muss gesagt werden: In der „Inspiration“ der Schrift findet die Unüberbietbarkeit des Im-Wort-Seins von Schöpfer und Geschöpf ihren Ausdruck. Sie fügt dem Im-Wort-Sein von Gott und Mensch nichts hinzu oder relativiert es, sondern manifestiert es, d. h. bringt es selbst zur Sprache. „Inspiriert“ vom Geist Gottes ist die Welt bereits durch das Sprachereignis der Schöpfung (vgl. Gen 1,1,ff.; Ps 33,6; Ps 104,30). Gottes Geist „erfüllt die Erde und umschließt alles“ (Weish 1,7). Es ist der Lebensatem des Allmächtigen, der „im Menschen ist und ihn verständig macht“ (Hiob 32,8). Der Atem des sprechenden Gottes ist der Atem der Schöpfung (vgl. Jdt 16,14). Die theologische Verwendung der Kategorie „Inspiration“ ist demnach auf diese Elementarbestimmung von Mensch und Welt zu beziehen, die für die Schöpfung konstitutiv ist und in allen weiteren Bestimmungen des Gott / Welt-Verhältnisses zum Ausdruck kommt.


Die Rede von der Inspiration der Hl. Schrift ist aber so lange unvollständig und missverständlich, wie sie nicht auch in Beziehung gesetzt wird zum materialen Moment des „Im-Wort-Seins“ und zum materialen Aspekt der Autorität biblischer Texte. Hierbei geht es um nichts anderes als um die Heilswahrheit der Selbstzusage Gottes im Modus unüberbietbarer Zuwendung. Dies gilt auch für die behauptete „Irrtumslosigkeit“ (Inerranz) der Hl. Schrift. Diese Eigenschaft kommt der Hl. Schrift nur in dem Sinne zu, dass man sich auf das, wovon sie spricht, im Leben und angesichts des Todes existenziell verlassen kann.

Es handelt sich bei der Rede von der „Inspiration“ und „Irrtumslosigkeit“ der Hl. Schrift somit nicht um eine äußerlich hinzukommende Garantie oder Beglaubigung ihrer Wahrheit, sondern um die Qualität der von ihr bezeugten Wahrheit.83 Gemeinschaft mit Gott lässt sich gar nicht anders aussagen als vom Geist Gottes getragen und als existenziell unbedingt verlässlich. Und nur solche Texte verdienen „Heilige“ Schrift genannt zu werden.

3.2. Tradition: Das Zeugnis des Glaubens übersetzen

Als Partitur des Wortes Gottes ist die Hl. Schrift darauf angewiesen, „aufgeführt“ zu werden. Wenn der Tradition in der Topologie des Glaubens eine besondere Bedeutung zukommen soll, kann sie nur darin bestehen, dass es dabei um die je neue Aufführung dieser Partitur in sich wandelnden geschichtlichen und sozio-kulturellen Kontexten geht.

Die Tradition (wozu u. a. Liturgie, Katechese, Spiritualität zählen)84 besteht in der übersetzenden Umsetzung (performance) der Partitur des Evangeliums Jesu, genauer: in einer Bezeugung des Evangeliums, die auf jeweils zeitgemäße Weise der Sache Jesu gerecht werden will. Unter dieser Rücksicht muss der Tradierungsprozess „zugleich innovativ und konservativ sein. Konservativ muss er sein, weil es darum geht, die Treue zum Ursprung zu bewahren. Das Wort Gottes soll unverkürzt und unverfälscht weitergegeben werden. Andererseits muss dieser Tradierungsprozess jedoch auch innovativ sein; denn das Wort Gottes muss so zur Sprache gebracht werden, dass es in der jeweiligen Gegenwart verstanden und angenommen werden kann.“85

Für den christlichen Glauben sind die Inhalte der Tradition nur insoweit verbindlich, als sie demjenigen Sinn entsprechen, in dem auch die Hl. Schrift als „Wort Gottes“ verstehbar ist, d. h., auch sie müssen transparent sein auf Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung, worin sich das Verhältnis Gottes zum Menschen offenbart (vgl. 1 Kor 15, 1–3).

Unvereinbar mit diesem Verständnis von Schrift und Tradition ist die Auffassung, es gebe christliche Glaubenswahrheiten außerhalb der Hl. Schrift, die von einer Quelle stammen, der auch nach der Kanonbildung eine eigene Autorität zukomme. Zwar gehen auch der Hl. Schrift Überlieferungsprozesse voraus. Allerdings sind sie nur durch die Hl. Schrift rekonstruierbar. Unter dieser Rücksicht kommt der zeitlich späteren Hl. Schrift das theologisch-hermeneutische „Prius“ zu. Sie ist hermeneutisch notwendig zum Verständnis der ihr vorausgehenden mündlichen Tradition als „Überlieferung“ des Evangeliums, obwohl sie zeitlich erst auf diese Überlieferung folgt. Eine „Zwei-Quellen-Theorie“ (Schrift und Tradition), welche die materiale „Suffizienz“ der Schrift für die Weitergabe des Evangeliums bestreitet, kann aus diesem Umstand jedoch nicht abgeleitet werden. Sie müsste zudem mit der prekären These arbeiten, dass sich die Wahrheit des Glaubens additiv aus einzelnen Glaubenswahrheiten zusammensetze, die nicht vollständig in den kanonischen Texten enthalten seien.86 Diese „Puzzle-These“ hat sich bereits bei der Frage nach dem Verhältnis kanonischer und nicht-kanonischer Texte aus der apostolischen Ursprungszeit der Kirche als unhaltbar erwiesen. Sie kann aus denselben Gründen auch nicht bei der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition angewandt werden.

Unter dieser Rücksicht bleibt es dabei, dass an der Schrift vorbei die Verkündigung Jesu nicht zugänglich ist („sola scriptura“). Eine vom Zeugnis der Hl. Schrift isolierte Überlieferung oder eine von ihr nicht gedeckte Überlieferung sind daher nicht als verpflichtende Glaubensnorm einsetzbar. Schrift und Tradition können nicht isoliert oder solitär als Normen der Glaubensweitergabe betrachtet werden. Dasselbe gilt für Glaubensbekenntnisse, für die der Rang eines Dogmas beansprucht wird.

3.3. Dogma und Lehramt:
In der Übersetzung des Glaubens übereinstimmen

Als Dogma gilt eine für die Gemeinschaft der Glaubenden verbindliche Aussage über konstitutive Glaubensinhalte, die – situativ bedingt – auf zeitgemäße Weise der Sache des Glaubens über den Tag hinaus gerecht werden will.87 Ein Dogma dient somit der Feststellung einer Übereinstimmung hinsichtlich der jeweils zeit- und sachgemäßen Weitergabe, Auslegung und Praxis des Evangeliums. Anlass für eine solche Feststellung, die in die Kompetenz des kirchlichen Lehramtes fällt (vgl. LG nr. 8), haben in der Christentumsgeschichte meist Bestreitungen konsensfähiger Glaubensaussagen oder ein (theologisch) unzureichend begründeter Glaubenskonsens gegeben. Oft gingen diese Infragestellungen so weit, dass sie Spaltungen in der Gemeinschaft der Glaubenden nach sich zogen.

Die Wiederherstellung und Festigung der Einheit im Glauben ist daher ein wesentliches Ziel des Dogmas. Seine Normativität bzw. Autorität gründet aber nicht in Rang, Funktion oder Anzahl der an seinem Zustandekommen beteiligten Amtsträger. Vielmehr ist diese zu beziehen auf die Feststellung, ob und inwieweit bestimmte Gehalte, Formen und Formate der Tradition dem Sinn entsprechen, in dem sie als authentische Übersetzung des Evangeliums in jeweils neue sozio-kulturelle Konstellationen gelten können. Rang, Funktion oder Anzahl der an seinem Zustandekommen beteiligten Personen sind allenfalls belangvoll für die Frage, wie repräsentativ ein Konsens ist, der in einem Dogma formuliert wird.88

Ein Dogma ist primär als Ausdruck eines Konsenses hinsichtlich der Authentizität zeit- und sachgemäßer Verkündigung angesichts ihrer faktischen Bestreitung von Belang. Dieser Konsens antwortet auf die Frage, wie man auf evangeliumsgemäße Weise den Anfragen der Zeit hinsichtlich Vollzug und Gehalt des Glaubens gerecht wird und wie man auf zeitgemäße Weise dem Evangelium gerecht werden kann. Damit ist sogleich klar, dass zeitgerechte Übersetzungen des Evangeliums immer auch zeitbedingt sind und daher im Lauf der Zeit selbst wieder übersetzungsbedürftig werden. Sie wollen zwar über den Tag hinaus Bestand haben, können aber nicht garantieren, dass sie für alle Zeiten ein sachgemäßer Ausdruck für eine Übereinstimmung im Glauben bleiben.

Mit der Aufstellung eines Dogmas ist daher immer auch die Aufgabe einer angemessenen Dogmenhermeneutik gestellt.89 In gewisser Weise ist es dabei unabdingbar, stets mit zweierlei Maß zu messen bzw. sich an zwei Maßstäben zu orientieren: am Evangeliumsgemäßen und am Zeitgerechten. Daraus resultiert aber auch das Unabschließbare dieses Übersetzungsgeschehens. „Als Text und damit als sprachlicher Ausdruck von Überzeugungen sind Dogma und Bekenntnis eine historische Gestalt der gedanklichen Durchdringung der Glaubensbotschaft. Sie teilen also mit jeder anderen Gestalt den Bezug auf den jeweils eigenen historischen Verstehenskontext, ohne den sie gar nicht in den Intentionen ihrer Aussagen verständlich werden.“90 Inhaltlich maßgeblich für die Verknüpfung des Evangeliums- und Zeitgemäßen ist wiederum jener Maßstab, wodurch sich auch die Hl. Schrift als ursprüngliche Norm der Verkündigung auszeichnet: die Zusage von Gottes unbedingter Zuwendung zum Menschen.

In einem Dogma können daher nur solche Aussagen als normative Glaubensaussagen festgehalten werden, in denen das im Kontinuum der Überlieferung ermittelte ursprüngliche Zeugnis der Hl. Schrift angesichts aktueller Herausforderungen angemessen zum Ausdruck kommt. Wie die Tradition keine zusätzlichen glaubensrelevanten Inhalte zur Hl. Schrift enthält, sondern die Verlaufsform der Weitergabe des Evangeliums und seiner Erschließung als „Wort Gottes“ darstellt, so bezeichnet ein Dogma die Feststellung eines Konsenses hinsichtlich der zeit- und sachgemäßen Auslegung des „Wortes Gottes“.91 Nur jener Konsens kann für den Glauben verbindlich sein, welcher die Aufgabe erfüllt, das Evangelium zeit- und sachgemäß zu vergegenwärtigen und nicht etwa zu ergänzen, zu ersetzen, zu relativieren oder zu überbieten.92

In einem solchen Konsens ist auch die „Fülle der Wahrheit“ des christlichen Glaubens enthalten. Diese Fülle setzt sich nicht aus einzelnen Bestandteilen zusammen (für die jeweils Schrift, Tradition und Dogma stehen), sondern manifestiert sich in der zeit- und sachgemäßen Übersetzung der einen, materialiter unüberbietbaren Grundwahrheit des Christentums: dass dem Menschen im Leben und Sterben die Gemeinschaft mit Gott zugesagt ist.93 Sofern Dogmen einen Konsens über die „Fülle der Wahrheit“ feststellen, aber diese „Fülle“ nicht erst hervorbringen, besteht für sie keine schlechthinnige und andauernde Notwendigkeit. Es muss Dogmen geben können, soll ein Glaubenskonsens festgestellt werden. Aber den Glaubenden fehlt ohne die formale Feststellung eines Konsenses nicht automatisch der materiale Gehalt des Konsenses.

In ähnlicher Weise besteht auch für ein kirchliches Lehramt (nur) eine notwendige Möglichkeit. Wenn es innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden ein besonderes Lehramt gibt, dann kann es dafür nur eine Begründung geben, die sich auf die Übersetzungslogik des Evangeliums bezieht: Wie jeder einzelne Glaubende kann auch die Gesamtheit der Glaubenden sich nicht selbst die Zuwendung Gottes zusagen, sondern muss sich stets als Adressat dieser Zusage verstehen. Dies findet darin seinen Ausdruck, dass es in der Gemeinschaft der Glaubenden ein den Glaubenden gegenüberstehendes „Verkündigungsamt“ gibt. Dieses Lehramt steht aber nicht über dem „Wort Gottes“. Auch die Inhaber dieses Amtes haben keinen anderen Zugang zum Glauben als über das ihnen vorausgehende Geschehen der Übersetzung des Evangeliums.

Das gegenseitige Verwiesensein von Hl. Schrift, Tradition und Dogma / Lehramt ergibt sich aus dem Vorrang materialer Autorität vor formaler Autorität. Schrift, Tradition und Dogma / Lehramt sind darum nicht Instanzen, deren Autorität ungeprüft vorauszusetzen wäre. Sie lassen sich vielmehr daraufhin prüfen, dass sie nur miteinander als Orte und Medien der Erschließung von Gottes Wort bzw. der Begegnung mit dem Evangelium Jesu verstanden werden können. Diese Zurückführung aller Autorität und Normativität auf das „Wort Gottes“ stellt keine Auflösung formaler Autorität dar. Vielmehr wird durch sie die Legitimationsgrundlage jeder formalen Autorität ausgewiesen. Auf der Basis des performativen Charakters von Gottes Wort bestehen formale und materiale Autorität nur miteinander, d. h., sie gelten nur insoweit, als sie koinzidieren.

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