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Читать книгу: «Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens», страница 2

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§ 2 Distanzierungen: Sich Gott zuwenden – abseits des Menschen?

Für eine genuin theologische Erkenntnistheorie ist mit dem Hinweis auf das existenzielle Bezugsproblem des Glaubens zwar eine grundsätzliche Möglichkeit gegeben, ihn vom Verdacht einer dem Menschen unzumutbaren Einstellung zur Wirklichkeit zu entlasten. Denn ihm kommt insofern eine unabweisbare Berechtigung zu, wie er sich für eine unabweisbare existenzielle Herausforderung interessiert. Damit ist aber noch nicht erwiesen, dass jene Bezugsgröße, von der er sich Stehvermögen, Halt angesichts des Haltlosen und Beständigkeit im Unbeständigen erhofft, auch tatsächlich von ihm erreicht werden kann – erst recht, wenn damit jene Wirklichkeit gemeint ist, für die in religiöser Sprache das Wort „Gott“ steht: Auf welche Weise ist es möglich, eine Beziehung zu dieser Wirklichkeit aufzubauen, auf die man sich unbedingt verlassen kann? Welche Richtung soll man einschlagen, wenn man sich dieser Wirklichkeit nähern will?

Häufig antreffbar und auch in existenziellen Angelegenheiten offenkundig gut erprobt sind Arrangements, die auf einer vertikalen Achse Verbindliches und Beliebiges, Vordringliches und Vernachlässigbares sortieren. Hier werden von unten nach oben aufsteigend Rang und Namen aufgelistet, Kompetenzen verteilt, Macht und Ansehen zugesprochen. „Oben“ ist, was Anspruch auf Anerkennung erheben darf. „Unten“ ist das Vernachlässigbare und Bedeutungslose. Auf den ersten Blick scheint ein solches Vorgehen anthropologisch berechtigt und theologisch aussichtsreich zu sein. Schließlich gilt der Mensch als das „Wesen der Transzendenz“ bzw. als resonanzfähig für eine „transzendente Wirklichkeit“12 und dass sich die Wirklichkeit des Göttlichen auf einem Aufstiegsweg finden lässt, spiegelt sich als Grundüberzeugung in vielen religiösen Zeugnissen nicht nur der monotheistischen Religionen.13

1. Religiöse Vertikalorientierungen:
Nach Höherem streben – Gott finden?

Gibt man etwas auf die Selbstdeutungen des Menschen, so sieht er sich auf einem Aufstiegsweg – und als Emporkömmling. „Griechischer Etymologie zufolge ist der Mensch der Aufrechte. Sein Name anthropos stammt vom Verb anatrepein: etwas in die Höhe bringen, emporheben“14, etwas aus der Waagrechten in die Senkrechte versetzen. Das Selbstverständnis des Menschen scheint sich ebenfalls an der Vertikalachse auszurichten: Menschen sind Aufsteiger – Wesen, die hoch hinauswollen und obenauf sein wollen. Erst wenn sie eine Höchst- oder Bestform erreichen, sind sie zufrieden. Um nach oben zu kommen, muss man sich auf die Hinterbeine stellen. Erst wer auf eigenen Füßen steht, hat sich selbständig gemacht (und ist ein Autostatiker). Um diese Stellung zu behalten, muss man sich behaupten. Dazu muss man den eigenen Kopf durchsetzen. Der Kopf ist jene Region, die den Menschen im Ganzen repräsentiert. Worauf es ankommt, muss man daher im Kopf haben. Von hier aus gewinnt man Übersicht und Eigenstand. Darum ergeht der kategorische Imperativ „Kopf hoch!“. Wer ihn hängen lässt, setzt aufs Spiel, worin die Griechen die Besonderheit des Menschen sehen: die Autokephalie (Selbstbehauptung). Und der aufrechte Gang, der für den Menschen nicht nur ein anatomisches Faktum, sondern ein Zeichen seiner privilegierten Stellung im Kosmos ist, verlangt ebenfalls, dass er erhobenen Hauptes auftritt.15

Der Mensch muss die Vertikalbewegung seiner Existenz nicht bei sich enden lassen. Menschen können den Kopf in den Nacken werfen und den Blick zu dem weitergehen lassen, was sich über sie erhebt. Was oben ist, muss aber noch nicht das Höchste sein. Das Endziel einer Aufwärtsbewegung ist erst erreicht, wenn man ankommt beim höchsten Gut, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, d. h. beim schlechthin Erhabenen, beim Allerhöchsten, beim Göttlichen. Das Projekt der Religion besteht somit darin, die Welt als das zu Transzendierende und den Menschen als Transzendierenden zu verstehen. Die religiöse Semantik und Logik folgt dann ebenfalls der Struktur der Vertikalen: Man muss sich nach dem Höchsten ausstrecken, aber wird es nicht in Griff kriegen, wenn man nicht von ihm ergriffen wird. Wenn es etwas Höchstes gibt, kann es nicht in dem gefunden werden, was mit uns ist oder unter uns ergreifbar und begreifbar ist. All dies bleibt überbietbar. Das unüberbietbar Höchste muss über allem sein. Als Unbedingtes muß es jenseits des Bedingten gesucht werden. Wenn es einen Gott gibt, kann er nur jenseits des Endlichen gefunden werden. Der religiöse Lebensweg muss sich daher als Überstieg des Endlichen und Bedingten und als Aufstieg zum Unendlichen und Unbedingten realisieren.

Für diesen Auf- oder Überstieg stehen in modernen Gesellschaften unterschiedliche Routen zur Verfügung. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass alle auf denselben Gipfel führen. Moderne Gesellschaften sind davon geprägt, dass es in ihnen Religion nur noch im Plural gibt. Vielleicht bilden sie gemeinsam ein Gebirge. Aber nicht jeder Gipfel bietet den gleichen Ausblick. Dies gilt auch für das religiöse Grundwort, das sich eigentlich gegen eine Vervielfältigung wehrt: Gott. Seit geraumer Zeit werden in religionssoziologischen Erhebungen zur Gottesfrage höchst unterschiedliche Füllungen dieses Begriffs erhoben.16 Konsens scheint allenfalls darüber zu bestehen, dass damit eine vom Menschen unverfügbare und unüberbietbare Wirklichkeit benannt werden soll, die ihn unbedingt angeht und der gegenüber der Mensch sich nichts auszubedingen vermag. Dabei gilt etwa als „Gott / göttlich“ ein ewig gültiges Gesetz (nach Art des Karma oder Yin / Yang), nach dem sich alles kosmische Geschehen richtet und dem gegenüber der Mensch auch nur ein „Fall“ ist, in dem eine Verfügung oder Regel dieses Gesetzes zur Anwendung kommt. „Gott / göttlich“ ist für andere Menschen eine (Ur)Energie (nach Art des Chi), die alles durchströmt und für die man sich öffnen kann, wenn man alle inneren Blockaden löst. Bisweilen wird die Bezeichnung „Gott / göttlich“ auch an die Natur, an die Evolution oder an die Selbstorganisationsdynamik des Kosmos als das unüberbietbar Größte und alles Bestimmende vergeben.

Sämtliche Beziehungen des Menschen zu diesen Größen sind durch Asymmetrien gekennzeichnet. Die Momente der Unbedingtheit und Unüberbietbarkeit kommen jeweils nur dem Gegenüber des Menschen zu – nicht dem Menschen selbst und auch nicht seiner Beziehung zu diesem Gegenüber. Wenn nun der Vollzug des Glaubens das Aus-sein auf eine Wirklichkeit ist, die dem Menschen einen existenziell verlässlichen Halt gibt, um es mit dem Leben und dem Sterben aufnehmen zu können, kommt er dann bei den genannten Größen ans Ziel? Entdeckt der Mensch hier wirklich eine Beziehung, die es ihm ermöglicht, zu sich selbst stehen und anderen beistehen zu können? Oder wird ihm hierbei das Wissen um seine Hinfälligkeit und Minderwertigkeit nur noch einmal gespiegelt oder verdoppelt?

Die skizzierten Spielarten menschlichen Gegenüberseins zu einer absoluten Wirklichkeit (qua numinosem Gesetz, kosmischer Energie oder „natura semper maior“) relativieren das Dasein des Menschen bzw. machen ihm und seinem Dasein erneut seine bleibende Relativität bewusst. Alle Erfahrungen, die man im Gegenübersein zu diesen unbedingten und unüberbietbaren Größen macht, sind stets auch Erfahrungen der bleibenden eigenen Vergänglichkeit, Geringfügigkeit und Unterlegenheit. Gegenüber einer höheren Macht kann dem Menschen letztlich nur seine eigene Ohnmacht oder Machtlosigkeit aufgehen. Gegenüber der Natur ist er bestenfalls Teil eines größeren Ganzen; gegenüber einem höchsten Wert kann ihm nur seine eigene Minderwertigkeit bewusst werden.

Anders verhielte es sich, wenn der Mensch von sich aus bereits in der Sphäre der Unbedingtheit existieren würde – und wenn ihm diese Sphäre im Bedingten erschlossen werden könnte. Dabei müsste dem Menschen aufgehen, dass es eine unbedingte und unüberbietbare Wirklichkeit gibt, als deren Gegenüber er sich selbst unbedingt bejahen, frei selbst bestimmen und unverzweckt wertschätzen kann. Damit dies denkbar und erfahrbar sein kann, müsste auch für die Beziehung zu diesem Gegenüber gelten, dass sie die Merkmale der Freiheit und Unbedingtheit, der Wertschätzung und Unverzweckbarkeit aufweist.

Wenn dieser Gedanke sich nicht im Wunschdenken erschöpfen soll, müsste es Unbedingtheitserfahrungen geben, die dem Menschen eine Beziehung (zu Gott) offenbaren, die ihn in seiner Freiheit und Würde unbedingt anerkennt. Nur diese Beziehung wäre ihrerseits unüberbietbar. Und nur in ihr könnte sich der Mensch unbedingt geborgen wissen. Aber wie kann man sich auf einen Weg machen, der solche Erfahrungen ermöglicht? Wie muss ein Mensch vorgehen, damit ihm eine solche Gewissheit aufgeht?

Von den zahlreichen Beschreibungen eines solchen religiösen Erkenntnisweges erzielt seit etlichen Jahren die „via mystica“ besondere Aufmerksamkeit.17 Dieser Weg kann in zwei Richtungen beschritten werden und entweder in die „Mystik der Versenkung“ oder in die „Mystik des Überstiegs“ führen.18 Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass nur die Abwendung von allem Endlichen, Bedingten und Zeitlichen den Blick öffnen kann auf das Unendliche, Unbedingte und Ewige. Wer die Richtung der Entsicherung, der Preisgabe und des Loslassens einschlägt, wer alles aus der Hand gibt und selbst haltlos wird, dem wird in Aussicht gestellt, die Erfahrung des Gehaltenseins vom Unfassbaren machen zu können: Nur wo man nichts mehr ergreift und erfasst, kann man sich ergreifen lassen vom Unbegreifbaren. Auf dem Weg der Abgeschiedenheit von allem Äußerlichen, in der Selbstversenkung, im Abstieg in sein leer geräumtes Inneres soll der Suchende zu jenem „Nullpunkt“ gelangen, in dem die Fluchtlinien seines Daseins zusammenlaufen und wo Ende und Neubeginn ineinanderliegen. Wer dagegen die Richtung des Auf- und Überstiegs wählt, muss alles Endliche und Bedingte hinter sich lassen und überwinden, um dahin zu gelangen, was höher ist als alles, was im Bedingten erklommen werden kann. Das Unbedingte ist nur im Modus des Überbietens alles Bedingten erreichbar; zum Erhabenen gelangt nur, wer sich über das Unerhebliche hinwegsetzt und sich der Anziehungskraft einer höheren Macht überlässt.

In zahlreichen Misch- und Zwischenformen werden solche Exerzitien auch im christlichen Kontext angeboten. Die Elemente der Askese, der Meditation und Kontemplation haben zweifellos im Christentum ihre Berechtigung,19 wenngleich das Evangelium Jesu ihnen nur für gewisse Abschnitte des religiösen Weges Bedeutung zumisst. Auch von Jesus wird berichtet, dass er in diese Wüste gegangen ist, dass er immer wieder die Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit suchte. Auch von ihm werden Bergbesteigungen und Gipfelerfahrungen erzählt. Aber sie blieben Durchgangsstationen, bildeten provokative Unterbrechungen und markierten instruktive Auszeiten. Jesus von Nazareth taugt nicht als spiritueller Meister, der die Mystik der Selbstversenkung oder des Überstiegs in weltferne Sphären lehrt.20 Er setzt andere Prioritäten, die auf die Hinwendung zum Entgegenkommen Gottes zielen.21 Ohnehin sind die mystischen Auf- und Abstiegswege für sich genommen sehr riskant: Man kann sich auf den Wegen in die Tiefe der eigenen Psyche auch in der eigenen inneren Leere verloren gehen. Und der Selbstüberstieg ins Erhabene kann im metaphysischen Niemandsland enden.

Den Mystik-Boom der letzten Jahre kennzeichnet eine zweifellos berechtigte institutionenkritische und subjektzentrierte Wendung religiöser Praxis, die zahlreiche institutionelle Verknöcherungen und dogmatische Verkrustungen des Christentums aufgebrochen hat. Gleichwohl entspricht er auch einem durchaus zeitgeistigen Trend, eine individualistische Lebenskunst der „Selbstsorge“ in den Bereich der individuellen Heilssorge zu verlängern. Solche „Mystiker“ sind in der Lage, sich die Not der Welt und die Hilflosigkeit ihrer Mitmenschen mit spirituellen Mitteln vom Halse zu halten. Sie haben dabei kein schlechtes Gewissen.

Gegen diesen Trend zum Heilsindividualismus stehen die Bemühungen, Kraft aus dem Inneren zu schöpfen, um sich im Sinn des Evangeliums in den äußeren Angelegenheiten sozialen und politischen Engagements bewähren zu können.22 Sie geben der Versuchung zur Reduktion des Evangeliums auf einen mystischen oder einen politischen Kern nicht nach. Derartige Verkürzungen aber tauchen immer wieder auf. Und nicht selten suchen sie sich Flankenschutz bei prominenten Theologen. Am häufigsten bedient man sich dabei eines Diktums von Karl Rahner: „Der Fromme, der Christ der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“23 Dass Rahner diesen Satz mit einer spezifischen Begründung versah, wird oft übergangen.24 Dies macht es leichter, die Betonung darauf zu legen, dass es für christliche Mystiker darauf ankomme, „etwas“ erfahren zu haben. Dieses „etwas“ bleibt (absichtlich?) unbestimmt. Es sollte ausreichen, dass es irgend„etwas“ mit höheren Mächten zu tun habe!? Für K. Rahner war der Gegenstand einer „mystischen“ Erfahrung jedoch weder beliebig noch austauschbar. Für ihn war es entscheidend, dass es dabei um eine personale Erfahrung Gottes gehen müsse bzw. um eine Erfahrung der Wirklichkeit Gottes in der Sphäre des Interpersonalen.25 Wer am entscheidend Christlichen interessiert ist, muss diese Sphäre aufsuchen.

2. Das Unterste zuoberst:
Die wohltuende AnArchie des Evangeliums

So plausibel und attraktiv spirituelle Aufstiegs- und Versenkungsofferten auch sein mögen, gegen eine theologische Kennzeichnung als originär oder entscheidend christlicher Weg der Gotteserkenntnis spricht das Zeugnis des Evangeliums. Es bestreitet, dass in einer vertikalen Verlängerung oder Überbietung des innerweltlich Erhabenen und Eindrucksvollen die Wirklichkeit Gottes erreichbar ist. Es erhebt Einspruch dagegen, dass Macht, Pracht und Herrlichkeit, die in der Welt den Menschen beeindrucken und anziehen, auch gleichnisfähig sind für Größe, Glanz und Hoheit Gottes. Es schlägt die Vorstellung aus, dass das Welt- und Menschenverhältnis Gottes sich nach jenen Kriterien richtet, nach denen üblicherweise in der Welt Respekt und Anerkennung, Wert und Würde verteilt werden. Die dort praktizierte Überbietungslogik, die vom Kleinen zum Großen und von unten nach oben verläuft, macht es sich nicht zu eigen.

– Bereits die „Kontaktaufnahme“ zwischen Gott und Mensch wird im „Magnificat“ (Lk 1,46–55) als Aufhebung dieses Weges beschrieben. In gänzlich anderen Umständen, als es zu erwarten war, realisiert sich dieses Verhältnis zwischen Gott und Mensch und es ist höchst folgenreich für die etablierten Ordnungs- und Herrschaftsverhältnisse, in denen sich der Mensch eingerichtet hat: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (V. 48). – „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen“ (V. 52 f.).26 Durchkreuzt wird die Erwartungs- und Entsprechungslogik, dass auch vor Gott kein Ansehen findet, wer vor der Welt mit leeren Händen dasteht.

– Der Auftakt von Jesu öffentlichem Wirken besteht in der Proklamation seiner Sendung, „damit ich den Armen eine gute Botschaft bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht: damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18–19). Dass es hierbei um die in jeder Hinsicht Verarmten und Erblindeten, Gedemütigten und Vergewaltigten handelt, kehrt wieder in den Seligpreisungen der Bergpredigt (Lk 6,20–26; Mt 5,3–12). Dieses Leitmotiv der Verkündigung Jesu steht gegen jeden Versuch, seine Botschaft zu spiritualisieren und ihr damit jede soziale Sprengkraft zu nehmen.27 Wer im sozialen Abseits steht und wer den dorthin Abgedrängten beisteht, steht in der Fluchtlinie der Zuwendung Gottes.

– Das Gottesbild Jesu von Nazareth widerstreitet allen Momenten des Macht- und Herrschaftsförmigen. Die Erzählung von der Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,1–11) gipfelt in einem Dementi der Vorstellung, dass das Gottsein Gottes in der Verlängerung einer Demonstration menschlicher Größe und Stärke bzw. des Vermögens zur Beherrschung von Mensch und Natur(gesetzen) gedacht werden kann. Der Versucher operiert mit einer Überbietungslogik, die von Jesus nicht überboten, sondern aufgehoben wird. Wer meint, in einer aufsteigenden Linie auf einen mit unüberbietbarer Machtfülle ausgestatteten Potentaten zu treffen, wird ganz oben nichts entdecken, was in Wahrheit verdient „Gott“ genannt zu werden. Von Gottes Gottsein muss vielmehr abseits solcher Macht- und Herrschaftslogik gesprochen werden.28

Das Evangelium greift die Theo-Logik der Vertikale auf und kehrt sie um. Es redet von einer „Transzendenz nach unten“, nicht von einer „Transzendenz nach innen“. Jesus von Nazareth interessiert sich nicht für etwas Unzerstörbares, das im Innersten des Menschen entdeckt werden kann. Die Verkürzung des Abstandes zwischen dem faktischen Ich und dem wahren Selbst eines Individuums steht nicht auf seinem Programm. Er verlangt auch nicht die Überwindung des Zeitlichen als Bedingung für den Kontakt mit dem Ewigen. Es geht ihm um eine andere Praxis und um eine andere Sphäre, in der man sich buchstäblich „einhandeln“ kann, worauf im Leben und Sterben Verlass ist. Diese Praxis demonstriert er selbst. Es ist die Praxis unbedingter Zuwendung zum Menschen und ihr Ort ist die Sphäre der Interpersonalität. Hier lässt sich Gottes Weltverhältnis in die Lebensverhältnisse des Mitmenschen übersetzen. Jesu Praxis steht quer zu religiösen Suchbewegungen, die das Göttliche, Unbedingte und Unüberbietbare nicht in der Sphäre der Interpersonalität, sondern über deren Relativierung durch ein metaphysisch Transzendentes oder mystisch All-Eines finden wollen.29 Christliche Glaubenspraxis steht daher unter der Prämisse, dass keine größere Offenheit des Menschen für Gott außerhalb seiner Offenheit für seine Mitmenschen entdeckt werden kann.

Das Evangelium Jesu überführt die Logik der Über- und Unterordnung in eine wohltuende „AnArchie“. Es setzt das Unterste zuoberst. Kein Aufstieg zum Göttlichen ist der Heilsweg des Evangeliums. Für eine Legitimation menschlicher Ordnung, die nach dem Muster der Unterordnung und Fremdbestimmung funktioniert, ist es nicht zu gebrauchen. In seinem Zentrum steht die Rede von einem „heruntergekommenen Gott“ (vgl. Phil 2,6–8).30 Das Gottesverhältnis des Menschen muss fortan Maß nehmen am Menschenverhältnis Gottes, d. h. an seiner Zuwendung zu denen, die „ganz unten“ sind. In Jesus von Nazareth ist diese Bewegung Gestalt geworden. In ihm begegnen Gott und Mensch einander als ihresgleichen. Es gibt fortan kein wahres Gottesverhältnis neben oder außerhalb oder getrennt von einem Menschenverhältnis im Modus der Zuwendung zu den „Geringsten“. Als genuin und originär christlicher Heilsweg kommt nur die Nachfolge Jesu im Format dieser Praxis in Betracht. In dieser Nachfolge haben Christen Anteil am Menschen- und Gottesverhältnis Jesu.

Eben davon handelt die „Endgerichtsrede“ Jesu im Matthäus-Evangelium (Mt 25,31–46): „Ich war hungrig, und ihr gabt mir zu essen; ich war fremd und obdachlos, und ihr nahmt mich auf; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Allerdings ereignet sich in diesen Umständen ein Gottesverhältnis im Menschenverhältnis nur „inkognito“. Denn es ist unter diesen Umständen weder zu erkennen noch zu erwarten, mit wem man es zu tun bekommt, wenn man den Asylanten, Wohnsitzlosen und ihrer Freiheit beraubten Nächsten beisteht. Erst im Nachhinein geschieht eine Aufklärung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diese späte Offenbarung hat ihren guten Grund. Es soll verhindert werden, dass die Frommen ihren Nächsten nur um Gottes willen beistehen. Es ist aber Gottes Wille, ihnen um ihrer selbst willen beizustehen. Darum ist es gut, den Geringsten es nicht anzusehen, dass man es mit Gott zu tun bekommt, wenn man sich ihnen zuwendet. Und eben darum sind die Frommen zwischenzeitlich so ungläubig verwundert: „Wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?“

In den Geringsten begegnen Christen dem Größten. Dies widerstreitet einer Logik, die nur das Große als gleichnisfähig für den Größten erachtet, die Großen der Welt über alles achtet und das von ihnen für großartig Gehaltene ebenfalls über alles setzt. Die von Gott mit dem Evangelium praktizierte Bestreitung dieser Logik ist in den Augen der Großen dieser Welt eher eine Torheit und ein Ärgernis (vgl. 1 Kor 1,23). „Das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen“ (1 Kor 1,27). Eine solche „göttliche Torheit“ praktiziert eine andere Weisheit als „menschliche Klugheit“ (1 Kor 1,25). Gott ist nicht dort zu finden, wo er vermeintlich als Gott hingehört – nämlich „ganz oben“. Mit Gott lassen sich nicht mehr gängige religiöse und soziale Unterscheidungen von „oben“ und „unten“ rechtfertigen. Und wer vom Gott Jesu her ein Verständnis dessen gewinnen will, was des Menschen höchstes Gut sein kann, muss umlernen: Hier wird das Oberste zuunterst gekehrt. Die Armseligkeit der Erniedrigten und gering Geschätzten ist es nun, die zur Gleichnisgestalt für die Logik der größtmöglichen und unüberbietbaren Zuwendung Gottes zum Menschen wird. Wer in der eigenen Stärke, im eigenen Reichtum, in der eigenen Klugheit dasjenige wähnt, das dem Leben Wert, Bestand und Sinn gibt, übersieht bei solchen Größen, dass auf sie nur sehr begrenzt Verlass ist. Der Sinn, den sie stiften, überlebt den Besitzer von Macht, Reichtum und Klugheit nicht. Auf ihn kann man sich nicht im Leben und Sterben verlassen. Dagegen steht, dass gerade am macht- und mittellosen Menschen als Adressaten einer unbedingten Bejahung Gottes jene Wirklichkeit offenbar wird, gegen die auch der Tod letztlich nicht ankommt.

Sucht man vor diesem Hintergrund nach einem Ansatz für die Rede von einer spezifischen „via christiana“, die ein Mensch einschlagen kann, um in seinen Lebensverhältnissen ein Gottesverhältnis zu entdecken, so muss die erste Einsicht lauten: Wer Gott sucht, muss dies auf dem Wege versuchen, auf dem Gott den Menschen aufsucht. Der vermeintliche Aufstieg des Menschen zu Gott verläuft zunächst seitwärts und abwärts. In den geringsten seiner Brüder und Schwestern, in den Erniedrigten begegnet er dem „Allerhöchsten“. Mit dieser Einsicht ist erneut die wohltuende AnArchie des Evangeliums verbunden: Es gibt keine Unterschiede zwischen Menschen, die vor Gott nicht durch eine je größere Gleichheit und Gemeinsamkeit übertroffen werden. Jeder Mensch ist ausnahmslos Adressat einer unüberbietbaren und ungeteilten Zuwendung Gottes. Und eben dies gilt es in allen Formen christlicher Glaubenspraxis zu bezeugen.31

An diese Praxis bleibt auch jede Glaubensreflexion rückgebunden. Es ist eine Praxis, die auch deswegen das Denken herausfordert, weil sie angesichts anderer religiöser Erkenntniswege mit dem Anspruch der Klarstellung auftritt und für klare Verhältnisse sorgen will. Sie vollzieht bereits selbst eine Aktion religiöser Aufklärung. Sie macht klar, wo und wie man mit Gott zu tun bekommt. Von diesem spezifischen Theorie / Praxis-Verhältnis wird die christliche Theologie grundlegend bestimmt. Sie hat sich derart für den Glauben einzusetzen, dass nicht bloß die Reflexion aufklärend wirkt. Was der Glaube klarstellt, muss als etwas gedacht werden, das praktiziert werden will. Allein dies entspricht der Verfassung des Glaubens: Glaube ist Praxis dessen, das wirklich wahr ist, und nicht das Für-wahr-Halten von Dingen, über deren Wirklichkeit man wenig weiß. Die Wahrheit, um die es im Christentum geht, ist die Wirklichkeit der Zuwendung Gottes, die den Menschen zum Adressaten einer unbedingten Anerkennung und Wertschätzung macht.

Das Evangelium von Gottes Verhältnis zum Menschen als Verhältnis unbedingter Zuwendung gibt zu tun und nicht bloß zu denken. Denn die Wahrnehmbarkeit dieses Verhältnisses bedarf der Übersetzung in Entsprechungsverhältnisse zwischenmenschlicher Zuwendung. Und glaubwürdig ist nur das Zeugnis der Entsprechung einer Zuwendung zu Gott und zum Menschen: die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.32

Diese Prämissen sind heute keineswegs unstrittig. Denn sie lösen immer wieder Relativierungsversuche aus. Diese orientieren sich an vermeintlich christlichen Mystikkonzepten, welche die weltabgewandte Kontemplation, die „stille Anbetung“ und das Schweigen nicht als kritisches Regulativ, sondern als Hochform des Christseins proklamieren. Wenn allerdings die Grundbegriffe des Christentums allesamt „praktische“ Begriffe, d. h. nicht Substantive, sondern Tätigkeitsworte („Tut dies zu meinem Gedächtnis …!“) sind, dann wird ihr eine Mystik der privaten Selbstversenkung oder des individuellen Selbstüberstiegs (als Ausstieg aus der Alltagswelt) nicht gerecht. Zu Gott kommt man nach christlicher Überzeugung, wenn man sich mit Gott den Geschöpfen Gottes zuwendet. Diese Praxis verwirklicht eine „Mystik der offenen Augen“ (J. B. Metz), die sich nicht abwendet von den Nöten der Zeit, nicht die spirituelle Selbstbefriedigung sucht, sondern sich den Notleidenden solidarisch zuwendet.33 Aber es wäre keine genuin religiöse Praxis, wenn sie nicht auch kritische Nachfragen auslösen würde.

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