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Hanna Goldhammer

Ohne mich

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sabrina: Tag 0

Peter: Tag 0

Sabrina: Tag 0

Mutter: Tag 0

Sabrina: Tag 0

Laura: Tag 0

Sabrina: Tag 0

Tom: Tag 0

Sabrina: Tag 0

Sabrina: Tag 1

Mutter: Tag 1

Laura: Tag 6

Sabrina: Tag 6

Tom: Tag 9

Mutter: Tag 11

Sabrina: Tag 11

Laura: Tag 21

Tom: Tag 29

Sabrina: Tag 29

Laura: Tag 34

Sabrina: Tag 34

Laura: Tag 48

Sabrina: Tag 91

Tom: Tag 102

Sabrina: Tag 103

Mutter: Tag 109

Laura: Tag 114

Tom: Tag 117

Sabrina: Tag 117

Mutter: Tag 123

Laura: Tag 135

Sabrina: Tag 140

Sabrina: Tag 144

Laura: Tag 146

Sabrina: Tag 151

Tom: Tag 173

Mutter: Tag 183

Laura: Tag 198

Sabrina: Tag 198

Laura: Tag 209

Mutter: Tag 221

Sabrina: Tag 221

Laura: Tag 223

Sabrina: Tag 224

Laura: Tag 227

Laura: Tag 230

Tom: Tag 242

Sabrina: Tag 242

Laura: Tag 243

Mutter: Tag 245

Laura: Tag 247

Sabrina: Tag 252

Laura: Tag 255

Tom: Tag 270

Sabrina: Tag 270

Laura: Tag 282

Mutter: Tag 295

Sabrina: Tag 302

Laura: Tag 302

Sabrina: Tag 302

Tom: Tag 302

Sabrina: Tag 302

Laura: Tag 302

Sabrina: Tag 302

Tom: Tag 302

Laura: Tag 302

Sabrina: Tag 302

Sabrina: Tag 365

Impressum neobooks

Sabrina: Tag 0

Schon lange vor meinem Tod fragte ich mich wie es sein würde zu sterben. Ich fragte mich oft, ob es danach tatsächlich irgendwie weitergehen würde, oder ob der Tod das Ende war. Aus irgendeinem Grund kam ich immer zu dem Schluss, dass er das Ende war. Als ich noch lebte, dachte ich oft über diese Dinge nach. Gab es einen Gott? Wie ist Leben entstanden? Wie würde es sein zu sterben? Ich konnte sehr lange über solche Dinge nachdenken und mir die unterschiedlichsten Antworten vorstellen. Ich stellte mir auch oft vor, wie es sein würde diese Welt zu verlassen. Ich malte mir aus, wie es wohl für meine Familie sein würde. Nein, nicht für meine Mutter oder meinen Vater, geschweige denn für meine Großeltern! In meiner Vorstellung hatte dieser Teil meiner Familie bereits friedlich Abschied genommen. Ich dachte an meine Kinder, von denen ich glaubte sie einmal zu haben. Ich dachte an meine Enkelkinder, von denen ich hoffte sie irgendwann einmal als gutmütige Großmutter verwöhnen zu dürfen. Doch vor meinem Tod, der in meiner Vorstellung weit, weit entfernt lag, hatte ich ein Ziel, einen Wunsch den ich mir erfüllen wollte. Spuren hinterlassen, mir einen Namen machen, etwas erreichen, das für immer da sein würde. Etwas das meine Freunde sagen ließ: „So ist sie gewesen unsere Sabrina

Zenglein. Seht her was sie Einzigartiges vollbracht hat! Wir sind stolz auf sie!“ Vielleicht wollte ich die Welt sogar um ein Stück verbessern. Was genau diesen starken Wunsch in mir auslöste, konnte ich nicht sagen. Lag mir tatsächlich etwas daran das Leid der Welt, mit dem mich meine Mutter als weitgereiste Ärztin oft konfrontierte, zu mindern? Oder war es schlichtweg der Wunsch nach Anerkennung? Das natürliche Verlangen etwas Besonderes zu sein? Der Gedanke, mein Leben wäre nicht mehr als ein bedeutungsloser Wimpernschlag in der schier endlosen Geschichte der Menschheit, war unerträglich. Um zu verhindern einfach in Vergessenheit zu geraten, hatte ich einige Ideen. Ideen, die ich als erwachsene Frau umsetzen wollte. Doch genau hier war das Problem, denn eine „erwachsenen Frau“ sollte ich nicht mehr werden. Und so kam es, dass es noch keine nach mir benannte Straße oder kein von mir in Afrika errichtetes Krankenhaus gab, als ich bereits mit 16 Jahren diese Welt verlassen musste. Ich hatte einfach nicht geahnt, dass die Zeit bereits so sehr drängte!

Es war ein Unfall. Verkehrsunfall. Wohl eine der häufigsten Todesursachen. Wie so oft überquerte ich die Hauptstraße unseres Dorfes, um zu der Bushaltestelle auf der anderen Seite zu gelangen. Wie so oft mit Kopfhörern in den Ohren. Doch irgendetwas war dieses Mal anders. Nein, es war nicht die Ampel. Diese zeigte wie sonst auch grün an. Als ich schließlich erkannte weshalb ich ein solch seltsames Gefühl hatte, war es bereits zu spät. In dem Bruchteil einer Sekunde in dem ich den LKW auf mich zurasen sah, verspürte ich keine Angst. Weder Angst vor den Schmerzen, noch vor dem Tod. Stattdessen verspürte ich die starke Gewissheit jetzt sterben zu müssen und eine seltsame Art von Enttäuschung darüber. Wie ein kleines Kind das jammert, weil es bereits so früh zu Bett gehen soll. Eigenartiger Vergleich, ich weiß. Es ging alles so schnell: der Zusammenstoß, das durch die Luft fliegen und schließlich der tödliche Aufprall. Es dauerte nicht lange und ein Kreis Schaulustiger hatte sich um mich gebildet. Hätte ich noch etwas zu ihnen sagen können, hätte ich ihnen womöglich mitgeteilt, dass es sicherlich angenehmere Todesarten gab, als nach einigen Metern Flug unsanft im Dreck zu landen! Aber ich konnte nichts mehr sagen. Einer der Schaulustigen war auch Peter Winterberg. Peter, der LKW- Fahrer. Peter, mein Mörder? Nein, einfach Peter der untröstliche Verursacher eines unglücklichen Unfalls. Zu Peters Verteidigung – seltsamer Weise hatte ich das Gefühl ihn verteidigen zu müssen – musste ich sagen, dass es Peter zur Zeit nicht einfach hatte. Sein Scheidungsprozess mit seiner Frau lief im Moment überhaupt nicht gut. So wie es aussah, war es seiner Frau wichtiger möglichst viel Profit aus der Situation zu schlagen, als zu einer friedlichen Einigung zu gelangen. Auch in der Arbeit hätte es besser laufen können. Einmal ganz davon abgesehen, dass Peter sich schönere Berufe als LKW-Fahrer vorstellen konnte, hatte er gerade einige Differenzen mit seinem Chef. Dieser übte ganz schön viel Druck zwecks der fristgerechten Lieferungen, die Peter in letzter Zeit nicht immer einhalten konnte, auf den Armen aus. Vielleicht lag es an diesem Zeitdruck, oder an dem kurz vorhergehenden Anruf des Anwalts, der mitteilte, dass es inzwischen nicht nur schlecht um das Geld, sondern auch um das Sorgerecht für die Kinder stand, dass Peter so geistesabwesend war.

Eine bessere Erklärung konnte ich nicht finden. Denn Peter hatte zwar einige Probleme, aber eine rotgrün-Schwäche zählte meines Wissens nicht dazu!

Wie es der Zufall so wollte, war in der gaffenden Menschenmenge auch ein angehender Arzt. Natürlich tat er sein Bestes, so schnell wie möglich zu mir zu gelangen, um so wie er es gelernt hatte Erste Hilfe zu leisten. Als er jedoch bei mir eintraf, war keine Erste Hilfe mehr nötig und der junge Mann konnte bedauernswerter Weise nur noch meinen Tod feststellen.

Bedauernswert denn zum einen, naja, ich war tot! Zum anderen war es auch für den jungen Mann äußerst bedauernswert. Ein Artikel über ihn als Lebensretter in der Zeitung, hätte sich sicherlich gut gemacht und dem angehenden Arzt vielleicht sogar etwas für seine Karriere gebracht. Doch dazu sollte es einfach nicht kommen.

Meine Eltern sollten von meinem Tod durch zwei Polizisten erfahren. Es musste grausam sein so etwas mitgeteilt zu bekommen.

Für die Polizisten war es wohl ein Leichtes gewesen mich zu identifizieren und meine Adresse herauszufinden. Ich trug wie gewöhnlich meinen Geldbeutel bei mir und sowohl Personalausweis, als auch Bankkarte, Schülerausweis und Krankenversicherungskarte gaben Hinweise zu meinen Personalien. Es war also fast schon zu leicht!

Zurück zu meinen Eltern. Hätten meine Eltern an diesem Nachmittag Radio gehört, hätten sie von einem schweren Unfall, der für ein jugendliches Mädchen tödlich endete, gehört. Ein Unfall, der noch dazu in unserem Ort stattfand. Meine Eltern hätten diesen Unfall nicht zwangsläufig mit mir in Verbindung gebracht, aber zumindest hätten sie beim Anblick der Polizeibeamten vermutlich eine dunkle Vorahnung gehabt. Doch an diesem Nachmittag blieb das Radio stumm.

Nicht im Entferntesten hätten meine Eltern gedacht, die Polizisten könnten sie wegen MIR aufsuchen. Stattdessen gingen sie wie selbstverständlich davon aus, es sei wegen meinem älteren Bruder, der schon öfter unliebsame Begegnungen mit der Polizei hatte. Sei es wegen Trunkenheit am Steuer, Ruhestörung oder sogar wegen Missbrauch der Betäubungsmittelgesetze. Im Nachhinein wäre meinen Eltern all das lieber, als der eigentliche Grund für das Erscheinen der Beamten, aber sie konnten es sich nun mal nicht aussuchen.

Das aufgesetzte Lächeln der Mutter war mit einem Mal versteinert und der Vater, der soeben noch lautstark nach dem Sohn rief, verstummte. Eine Welt in tausend Trümmern.

Für meine Eltern fühlte es sich an, als hätte man ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie stürzten in ein tiefes Loch aus dem es keinen Ausweg mehr zu geben schien. Hilflos und gelähmt wurden sie unter Verzweiflung, Fassungslosigkeit und Trauer begraben. Mein Bruder ließ keines dieser Gefühle zu. Er war unfähig und unwillig zu akzeptieren, dass die Polizisten die Wahrheit gesagt hatten. Es konnte doch nicht wahr sein, dass seine kleine Schwester von einem Moment auf den anderen aufgehört haben soll zu leben! Seine kleine Schwester, die ihn gerne vor seinen Freunden blamierte. Seine kleine Schwester, die ihm andauernd die letzten Schoko-Cookies wegaß. Seine kleine Schwester, die ständig ungefragt in sein Zimmer ging. Jetzt wünschte er sie wäre hier bei ihm in seinem Zimmer. Jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine kleine Schwester fest und schützend in den Armen halten zu können. Einen Wunsch, den er bis jetzt noch nie verspürt hatte. Schade eigentlich.

Laura Müller, meine beste Freundin erfuhr es aus der Zeitung. Besser gesagt Lauras Eltern erfuhren es aus der Zeitung und versuchten es dann Laura schonend beizubringen. Ein Versuch der kläglich scheitern sollte.

„Warum behauptet ihr so etwas?!“, schrie Laura und versuchte die Tränen zurück zu halten. Sie war von dem Stuhl aufgesprungen, auf den sie sich hatte setzen sollen. „Das ist nicht wahr! Das ist ein schlechter Scherz. Findet ihr das etwa witzig?!“ Laura war kurz davor durchzudrehen. Sie wollte die beruhigenden Worte der Eltern nicht hören. Sie wollte den Zeitungsartikel nicht lesen. Viel lieber wollte sie in ihr Zimmer rennen, die Tür zu schlagen und sich auf ihr Bett werfen. Das tat sie dann auch. Irgendwann beschloss Laura bei mir Zuhause anzurufen. Aber die Hoffnung meine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, wurde enttäuscht. Mit jedem Freizeichen wurde Laura nervöser. Normal war ich immer in Sekundenschnelle am Telefon. Und wenn nicht gingen meine Eltern oder mein Bruder ran. Aber heute nicht. Das ungute Gefühl war wie ein schwerer Stein in Lauras Magengrube. Als die Frau vom Anrufbeantworter sie schließlich dazu aufforderte eine Nachricht nach dem Piepton zu hinterlassen, überkam Laura mit einem Mal die traurige Gewissheit, dass ihre Eltern die Wahrheit gesagt hatten. Lauras beste Freundin, ich Sabrina Zenglein, war vor einem Tag verstorben. Es tat weh.

Jetzt war ich hier. Gerne würde ich euch mehr über den Ort, an dem ich mich nun befand, erzählen, aber ich wusste nichts. Weder wo ich war, noch was ich hier machte. War das hier der Himmel? Das Paradies? Existierte dieser Ort hier überhaupt wirklich, oder bildete ich mir das hier nur ein? Ich blickte mich um. Alles war weiß. Ein klares, kaltes Weiß. Es strahlte nicht die Wärme oder den Glanz aus, den man womöglich erwartete, wenn man an den Himmel dachte. Rings um mich herum war nichts! Es erstreckte sich die unendliche Leere. Kalt, weiß, leer – den Himmel hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt, auch wenn ich ja eigentlich nicht an ein Leben nach dem Tod geglaubt hatte. Erst jetzt entdeckte ich ein ganzes Stück von mir entfernt einige Menschen. Ziemlich viele sogar! Waren sie alle tot? Ich kam ein wenig näher. Jetzt erst erkannte ich, dass all diese Menschen in einer Reihe standen. Sie standen an, wie in einer Supermarktschlange. Aber worauf warteten sie? Da ich nicht wusste wie das alles hier weitergehen sollte, stellte ich mich einfach hinten an. Ich konnte nicht einschätzen wie lange ich warten musste. Gab es im Himmel überhaupt Zeit? Oder in der Hölle? Seltsamerweise bereitete mir der Gedanke an die Hölle nicht die geringste Angst. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich eigentlich überhaupt nichts Negatives fühlte, ich war einfach glücklich. Mir war bewusst, dass ich nie wieder in mein Leben zurückkehren würde, dass ich tot war, endgültig! Doch das fühlte sich richtig an. Wurden meine Gefühle von diesem wundersamen Ort manipuliert? Wenn das der Fall war, war die Manipulation nicht gut genug, um die schwere Leere die ich fühlte, wenn ich an meine Familie und Freunde dachte, mit Glück und Zufriedenheit zu füllen. Da war einfach nichts.

Irgendwann, ich kann nicht sagen, ob wenige Minuten oder sogar mehrere Stunden vergangen waren, war ich an der Reihe. Was auch immer das zu bedeuten hatte. Ich stand nun ganz vorne in der Schlange. Schräg vor mir war ein großes Tor. Wohin es führte konnte ich nicht sagen. Doch ich vermutete, dass man, bevor man das Tor passieren durfte, mit der kleinen, etwas älteren Frau, die vor mir etwas erhöht hinter einem hohen Pult saß, reden musste. Ein wenig erinnerte es mich an die Anmeldung in einem Hotel. Checkte ich hier in den Himmel ein? Aber in einem Hotel begegnete man sich für gewöhnlich auf Augenhöhe. Die kleine, etwas ältere, bebrillte Frau schien es zu genießen ihren Gegenübern ein Stück überlegen zu sein. Sie wirkte ziemlich gestresst. Ob sie deshalb so graue Haare hatte? Diese Frage führte mich gleich zur nächsten. Waren graue Haare nicht etwas Menschliches? Was aber war sie? Ein Mensch? Ein Engel? Naja, wie ein Engel sah sie ja nicht gerade aus! Dafür fand ich ihren Namen umso passender: Lucrezia Eisbein. So stand es zumindest auf dem kleinen goldenen Schildchen, das an ihrem Blazer befestigt war. Ich fragte mich, ob der Name wirklich echt war oder ob sie einen neuen, so passenden Namen bekommen hatte.

„Name?“, fragte die kleine, bebrillte Frau schroff. Eigentlich war es viel mehr ein Befehl als eine Frage. Erst jetzt, als ich völlig überrumpelt erst einmal schwieg, blickte die kleine, grauhaarige Frau von der Liste auf, die vor ihr lag.

„Du wirst doch wohl wissen wie du heißt!“, fuhr sie mich unfreundlich an, „Wir haben hier nicht den ganzen Tag Zeit!“ Somit wäre die Frage, ob es an diesem Ort Zeit gab, geklärt.

„Sabrina Zenglein“, stotterte ich verlegen.

Mit einem Stift in der Hand ging die kleine, unfreundliche Frau die Liste von Oben nach Unten durch. Dann wieder von Unten nach Oben, als würde sie vergeblich nach etwas suchen.

„Geburtsdatum?“, fragte sie nicht weniger unfreundlich.

„12.04.1999“, antwortete ich und bemühte mich selbstbewusst zu klingen.

Erneut wanderte Lucrezia Eisbeins Stift von Oben nach Unten, doch dieses Mal stoppte sie plötzlich und ihre Miene hellte sich auf. Kurz schrieb sie etwas hin, vielleicht machte sie auch nur einen Haken oder ein Kreuz, dann wandte sie sich erneut an mich.

„Wunsch?“

„Wunsch?“, fragte ich verwundert zurück.

„Was ist dein Wunsch?“, fragte die kleine, ungeduldige Frau und versuchte noch nicht einmal den genervten Unterton zu verbergen.

„Ich habe einen Wunsch frei?“, fragte ich erstaunt.

Vielleicht war die Frau weder Mensch noch ein Engel, sondern ein Flaschengeist. Äußerlich betrachtet fände ich die Bezeichnung „Geist“ durchaus passend. Dagegen sprach jedoch, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, an einer Wunderlampe gerieben zu haben. Außerdem hätte ich dann wohl drei Wünsche und nicht bloß einen verdient!

„Hat David Rottmann noch nicht mit dir geredet?“, fragte die kleine, etwas ältere, bebrillte Frau und zum ersten Mal glaubte ich so etwas wie Mitgefühl in ihrem Gesicht erkennen zu können.

„David Wer?“, fragte ich verwirrt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung wer das sein sollte und ich hatte auch noch immer nicht die leiseste Ahnung wo ich hier war. Doch eins stand fest: Die Organisation hier war nicht gerade die Beste! Fast wie auf der Erde.

„Das muss an dem ganzen Stress liegen!“, rief die kleine Frau nun fast verzweifelt, „Ein so schweres Zugunglück mit so vielen Toten kommt nicht alle Tage vor, da muss David Rottmann schlichtweg vergessen haben, dass du auch noch da bist.“

Ich hatte zwar immer noch nicht die geringste Ahnung was hier vor sich ging, doch zumindest wusste ich nun, dass das nicht meine Schuld war, sondern die eines gewissen David Rottmanns!

„Ich werde David so schnell wie möglich zu dir schicken!“, versicherte Lucrezia, die nun gar nicht mehr so streng wie eine Lucrezia aussah, „so lange kannst du dort hinten auf ihn warten.“

Lucrezia deutete auf ein etwa fünf Meter entfernt stehendes grünes Sofa. Ich hätte schwören können, dass es zwei Sekunden vorher noch nicht dagestanden hat! Es erinnerte mich an die Sofas, die man in den Leseecken fast jeder Bibliothek finden konnte. Außenherum war jedoch alles weiß und kahl, wie überall hier. Während ich auf diesen David Rottmann oder wie er hieß wartete, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Warum war ich nicht traurig? Ich war tot, ich würde meine Familie, meine Freunde vielleicht nie wiedersehen und dennoch war ich nicht traurig. Dieser Ort hier war eigenartig. Ich dachte daran wie beruhigend es für die Menschen wäre zu wissen, dass es den Toten hier gut ging. Dass dieser Ort glücklich machte, ob man es wollte oder nicht. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es auf der Erde nicht so war. Auf der Erde spürte man alle diese negativen Gefühle, die Trauer, die Verzweiflung, Angst, Ungewissheit und Schmerzen. All das fühlten die Menschen. Und ich wollte nicht, dass meine Familie oder Freunde das fühlten. Sie sollten nicht um mich trauern. Sie sollten nicht weinen oder verzweifeln. Ich wünschte sie wüssten, dass es mir gut ging. Dass es in Ordnung war, dass ich gestorben bin. Es war seltsam, dass ich so etwas dachte, wo ich doch immer Angst vor dem Tod hatte. Doch ich fühlte mich einfach gut. Eigenartig gut.

Mit einem Mal stand ein Mann vor mir. Ich vermutete, dass es sich um diesen David Rottmann, von dem Lucrezia Eisbein gesprochen hatte, handeln musste. Und tatsächlich, wie sich herausstellte hatte ich vollkommen Recht.

„Hallo, ich bin David Rottmann“, begrüßte er mich freundlich und schüttelte mir die Hand, „Es tut mir leid, dass ich erst jetzt zu dir komme, da muss ein Fehler passiert sein.“

Aha. Ein Fehler also. Fehler sind menschlich. Aber war David das auch? Ich hatte noch immer nicht die geringste Ahnung was hier vor sich ging. Langsam könnte man mich echt einmal aufklären.

„Du fragst dich sicher wo du hier bist und was als nächstes mit dir passiert“, fuhr David fort, „Du bist hier direkt vor dem Paradies. Paradies, Himmel, Djanna, Jenseits, wie du es nun mal gerne bezeichnen möchtest. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, bist du tot. Doch dies ist kein Grund traurig zu sein oder zu verzweifeln! Und selbst wenn du doch der Meinung bist, dass es ein Grund dafür wäre, muss ich dich leider enttäuschen, negative Gefühle gibt es hier nicht. Somit kann ich dich genau genommen doch nicht enttäuschen. Ist das nicht der Wahnsinn?“

Sprachlos starrte ich David an. Er redete wie ein Wasserfall und mit seiner übertrieben fröhlichen Art ging er mir jetzt schon auf die Nerven. Aber zumindest wirkte er freundlicher als die nette Dame von vorhin.

„Wie ich sehe hat es dir die Sprache verschlagen. Daraus schließe ich, dass es tatsächlich der Wahnsinn ist. Ich meine wie sollte es auch anders sein, du bist immerhin kurz vor dem Ort an dem ALLES möglich ist! Außerdem hast du gerade erfahren, dass du nie wieder unglücklich sein wirst! Ach, ist das Leben nicht schön? Oder vielmehr der Tod. Oder das Leben nach dem Tod. Oder der nächste Abschnitt auf einer unendlichen Reise voller Geheimnisse. Das klang ja sogar fast poetisch! Ich habe ja schon immer gesagt, dass an mir ein großer Dichter verloren gegangen ist! Aber meine Eltern hielten nicht viel von meiner Kreativität, stattdessen sollte ich an einer Universität Jura studieren. Welch eine bitterböse Ironie, dass ich ausgerechnet auf dem Weg zu dieser Uni mit dem Auto tödlich verunglückte und dass- “

„Was mache ich hier?“, unterbrach ich David, der gar nicht mehr aufhören wollte zu reden, „Ich meine, was passiert jetzt als nächstes?“

„Oh“, unterbrach David seinen Redefluss und wirkte ein wenig gekränkt darüber, dass ich mich für seine Geschichte nicht sonderlich interessierte, „Wie gesagt, du bist hier direkt vor dem Paradies. Als nächstes kommst du in das Paradies. Und dann bist du glücklich bis in alle Ewigkeit. Wie genau wirst du schon noch merken. Doch zuvor, also bevor du durch dieses riesige Tor ins Paradies schreiten darfst, hast du noch einen Wunsch frei.“

„Einen Wunsch?“, fragte ich noch immer verwundert darüber, dass ich mir tatsächlich etwas wünschen sollte.

„Ja, du hast richtig gehört, einen Wunsch! Wir haben dies vor einigen Jahren eingeführt, um den Menschen den Abschied von ihrer alten Welt zu erleichtern. Schließlich werden sie ihre Familie und all ihre Freunde NIE WIEDER sehen!“

„Nie wieder?“, fragte ich erschrocken.

„Nein, das war bloß ein Scherz“, David begann zu kichern, „Natürlich wirst du sie wiedersehen. Die sind schließlich auch nicht unsterblich. Trotzdem ist es vorerst Zeit Abschied zu nehmen. Und um dir diesen Abschied leichter zu machen und weil wir es nun mal können, erfüllen wir dir einen Wunsch! Um ehrlich zu sein, das mit dem Wunsch war damals meine Idee! Ist das nicht der Wahnsinn?“

David schien ziemlich viele Dinge wahnsinnig toll zu finden. Aber die Sache mit dem Wunsch klang in der Tat nicht schlecht. Doch ich hatte absolut keine Idee was ich mir wünschen sollte. Viel lieber wollte ich sehen wie es meiner Familie und wie es Laura ging.

„Ich möchte, bevor ich sage was ich mir wünsche, sehen was gerade auf der Erde passiert!“

„Du willst sehen was auf der Erde passiert?“, fragte David zögerlich. Mit einem Mal schien seine Heiterkeit verflogen zu sein.

„Ja!“, antwortete ich bestimmt.

„Aber das geht nicht so einfach!“, protestierte David.

„Ich dachte das hier sei der Ort der unbegrenzten Möglichkeiten! Es muss einfach gehen!“, erwiderte ich.

„Erstens befinden wir uns hier VOR dem Ort der unbegrenzten Möglichkeiten und zweitens halte ich das einfach für eine nicht so gute Idee! Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?“

„Ja, das bin ich!“, antwortete ich fest überzeugt. Ich musste meine Familie und Laura einfach ein letztes Mal noch sehen können.

„Ich nehme an du willst deine Eltern sehen?“, fragte David. Er klang plötzlich ganz schön ernst. Ich schluckte und nickte. Ich musste einfach!

Mit einem Mal erschien vor mir ein riesiger Bildschirm. Er erinnerte mich an den mega Fernseher, den mein Vater sich immer gewünscht hatte, sich aber nie hatte leisten können.

Ich sah meine Mutter. Oder besser gesagt eine blasse, traurige, kleine Frau die meiner Mutter ähnlich sah. Sie sah so kaputt aus. Erst auf den zweiten Blick, erkannte ich wo sie war. In der Gerichtsmedizin, vermutlich um meine Leiche zu identifizieren. Meine Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Tisch auf dem vermutlich eine Leiche lag. Der Tisch war zum Glück abgedeckt. Ich war froh mich dort nicht liegen sehen zu müssen. Aber meine Mutter hatte mich dort liegen sehen. Tot! Jetzt starrte meine Mutter einfach nur noch geradeaus. Ihr Blick war leer. Sie war immer eine hübsche Frau gewesen, wenn sie lachte, dann lachten auch ihre Augen. Jetzt sah sie alt aus. Eine Träne kullerte ihr über ihre Wange, doch ihr Blick blieb ausdruckslos. Dann bemerkte ich meinen Vater. Er stand hinter meiner Mutter und seine Hand lag auf ihrer Schulter. Jetzt reichte er ihr ein Taschentuch. Auf den ersten Blick sah er aus wie immer, dann sah ich, dass seine Augen gerötet waren. Er hatte geweint. Mein Vater weinte nie! Zumindest nicht der Mann, den ich als meinen Vater kannte. Es war schockierend. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen mir das hier anzuschauen, aber jetzt war es zu spät.

„Was ist mit meinem Bruder?“, fragte ich unsicher. Wollte ich das wirklich noch sehen? Ja. Ja, das wollte ich.

David sah mich zögerlich an, dann wechselte das Bild auf dem Bildschirm. Mein Bruder war in seinem Zimmer, oder besser gesagt in den Bruchstücken die von seinem Zimmer noch übrig geblieben waren. Das Wort Chaos war maßlos untertrieben, um das zu beschreiben was ich sah. Ich hörte zwar keinen Ton, aber ich konnte sehen, dass die Musikanlage voll aufgedreht war. Die Art und Weise wie mein Bruder wie ein Wahnsinniger durch sein Zimmer tänzelte und dabei mit seinem Baseballschläger immer und immer wieder auf alles Mögliche eindrosch, lies darauf schließen, dass er wohl kaum One Direction hörte. Naja, One Direction hätte wohl ähnliche Aggressionen in ihm hervorgerufen. Dennoch vermutete ich, dass eher Bands wie Morbid Angel oder Cannibal Corpse dahinter steckten. Alles in dem Zimmer meines Bruders war kaputt. Sogar er war kaputt. Nie hätte ich erwartet, dass ihm mein Tod so nahe ginge. Gerne hätte ich ihn jetzt in den Arm genommen, aber es war zu spät.

Noch immer war es mir nicht möglich traurig zu sein, doch mein Verstand wusste, dass ich es jetzt normalerweise wäre.

„Was ist mit Laura?“, wollte ich nun wissen.

„Bist du dir sicher, dass du das auch noch sehen willst?“, fragte David. Er schien nun ernsthaft besorgt um mich.

Ich nickte. Laura und ich kannten uns seit drei Jahren. Wir lernten uns kennen, als ich in der siebten Klasse vom Gymnasium auf die Realschule wechselte und so in ihre Klasse kam. Laura hatte kaum Freunde. Ich hatte nie verstanden warum. Sie war so unglaublich nett, witzig und einfach immer für mich da! Sie war so ein fröhlicher Mensch. Weshalb sie mit den anderen nicht so gut klar kam, hatte sie mir nie erzählt. Jetzt war es zu spät. Ich musste sie einfach noch einmal sehen. Abschied nehmen. Unsere Freundschaft hatte viel zu früh enden müssen. Irgendwie wusste ich, dass mir das was ich jetzt sehen würde nicht gefallen würde und dennoch hoffte ich so sehr, dass es ihr gut ging.

Zunächst einmal sah ich gar nichts. Oder zumindest kaum etwas. Das Bild war annähernd schwarz. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass Laura in ihrem Zimmer zusammengekauert auf ihrem Bett lag. Alles war dunkel, das Licht war aus und nur ein schwacher Lichtschimmer drang durch die zugezogenen Vorhänge. Laura lag da wie ein kleines Baby im Bauch seiner Mutter. Fest in ihren Armen hielt sie einen Pullover. Meinen Pullover. Ich hatte ihn ihr vor mehreren Wochen geliehen und sie hatte ihn bist jetzt behalten. Ich konnte sie nicht hören, aber ich konnte daran wie ihr Körper zuckte sehen, dass sie bitterlich weinte. Sie hörte überhaupt nicht mehr auf zu weinen. Wie lange sie wohl schon so da lag? Laura machte ihre Nachttischlampe an. Es wurde kaum heller aber jetzt erkannte ich, dass überall auf dem Boden verstreut benutzte Taschentücher lagen. Lauras Gesicht war verquollen, ihre Augen und ihre Nase gerötet. Laura griff nach einem Notizbuch und einem Stift, dann schrieb sie etwas auf. Jetzt bin ich wieder alleine. Wieso musste ihr so etwas passieren? Wieso nicht mir? Dann warf sie das Notizbuch gegen die Wand und fing wieder an unkontrolliert zu weinen. Sie machte das Licht aus und zog die Decke über ihren Kopf.

„Stopp!“, rief ich, „Das alles muss aufhören!“ Der Bildschirm verschwand.

„Ich habe doch gesagt, dass das keine gute Idee sei“, sagte David kleinlaut.

„Das mein ich nicht! Ich meine, sie sollen aufhören so traurig zu sein. Sie sollen alle aufhören so durchzudrehen. Ich will das es ihnen gut geht!“, erklärte ich aufgebracht.

„Das liegt nicht in unserer Hand“, antwortete David.

„Wie lange wird es ihnen so gehen?“

„Das kann ich nicht sagen. Niemand kann in die Zukunft sehen. Menschen haben einen freien Willen, das bedeutet, dass sie selbst entscheiden wie es weitergehen wird.“

„Dann wünsche ich mir, dass ich ihnen sagen kann, dass es mir gut geht!“, sagte ich fest überzeugt.

„Das geht auch nicht“ Man merkte wie unangenehm es David war, mir ständig widersprechen zu müssen.

„Aber wieso?“

„Du kannst dir gar nicht vorstellen was das für ein Chaos geben würde! Es gab bereits einmal einen Menschen der zurückgekehrt ist auf die Erde. Ich glaube ihr nennt ihn Jesus oder auch Menschensohn oder so ähnlich. Auf jeden Fall wollte man den Menschen so Hoffnungen schenken, ihnen zeigen, dass der Tod nicht das Ende ist. Doch worauf lief das ganze hinaus? Wie viele Kriege gab es aufgrund von Religion? Wie viele Menschen mussten wegen ihres Glaubens sterben? Glaube mir, es wäre keine gute Idee wenn du zu deiner Familie reden würdest. Was glaubst du würde man von ihnen halten, wenn sie erzählen, dass du von den Toten zurückgekehrt seist? Du weißt doch wie die Menschen sind!“

Ich nickte. Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Aber es musste doch irgendetwas geben was ich tun konnte!

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9783738078121
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