Читать книгу: «Kleinstadt-Hyänen», страница 2
Ein beeindrucktes Raunen erhebt sich am Tisch.
„Dann bist du dort vermutlich für die Buchhaltung zuständig?“, rät Thekla.
Entsetzt blickt Miriam sie an. „Um Himmels willen, nein! Ich habe genug mit der Erziehung unserer Kinder zu tun. Die Zwillinge sollen schließlich in ordentlichen Verhältnissen aufwachsen. Außerdem kümmere ich mich natürlich um die Hunde, das Haus und den Garten.“
Die anderen Frauen werfen sich belustigte Blicke zu. Miriam bemerkt es und kontert: „Wie ich schon sagte, wirft die Klinik genug ab. Es ist nicht nötig, dass ich arbeiten gehe. Aber selbstverständlich engagiere ich mich für wohltätige Zwecke.“
Für diese Aussage erntet sie gespielt beeindruckte Blicke.
Julia will es genauer wissen. „Und was sind das für Wohltätigkeiten, mit denen du die Welt beglückst?“
„Ich bin im Kirchenvorstand unserer Gemeinde aktiv“, antwortet Miriam geziert. „Da gibt es immer etwas zu tun. Einen Wohltätigkeitsbazar zu organisieren, einen Spendenaufruf für Menschen in Not zu verschicken, ein Senioren-Kaffeetrinken zu veranstalten … na, ihr wisst schon. Was man halt so tut.“
Danielas Augen sind bei Miriams Ausführungen immer größer geworden. Ungläubig schüttelt sie den Kopf. Miriam bemerkt es und wirft ihr einen ungeduldigen Blick zu.
„Ist das alles?“, fragt Daniela verwundert. „Das kann dich doch unmöglich ausfüllen! Was machst du denn sonst noch so?“
Die anderen drei brechen in wieherndes Gelächter aus. Das ist Daniela gar nicht recht, denn sie hatte überhaupt nicht vor, sich über Miriam lustig zu machen. Bevor die zu einer scharfen Erwiderung ansetzen kann, greift Julia ein, um einen neuerlichen Angriff auf Daniela zu verhindern.
„Ich wette, ihr seid nun alle furchtbar neugierig darauf zu erfahren, was ich in den letzten zwanzig Jahren gemacht habe?“, fragt sie in die Runde.
„Und wie“, ruft Nephele, woraufhin alle lachen müssen. Schließlich haben sie bereits mitbekommen, dass sich die Wege der Bürgermeisterin und der Gastronomin, deren Arbeitsplätze nur einen Katzensprung voneinander entfernt liegen, des Öfteren kreuzen. Nichtsdestotrotz berichtet Julia von ihrem Studium in Berlin und wie sie anschließend eigentlich nur für die Zeit, bis sie einen Job findet, in die Kleinstadt zurückkehrte. Dann jedoch, erzählt sie, erhielt sie von einem nahen Autobauer ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte und fand schließlich eher zufällig den Weg in die Kommunalpolitik.
„Zufällig? Das war doch klar, dass du irgendwann auf die schiefe Bahn gerätst!“, widerspricht Thekla. „Du musstest dich doch schon in der Schule in alles einmischen. Warst du nicht Jahrgangssprecherin und später sogar Schulsprecherin?“
Nephele ergänzt: „Nicht nur das! Wir waren bereits auf der Grundschule in derselben Klasse. Schon damals hat sie sich zur Klassensprecherin wählen lassen.“
„Aber nur, um zu verhindern, dass der blöde Thomas das Amt bekam, der uns immer Juckpulver in den Kragen gesteckt hat“, verteidigt sich Julia.
Alle lachen. Anschließend fragt Daniela: „Und wie sieht es privat bei dir aus?“
Bevor Julia darauf antworten kann, mischt sich Miriam ein. „Das weiß doch jeder, dass Julia mit Björn Hemker, dem Kaufhaus-Inhaber verlobt ist. Liest man bei euch im Langenklint keine Zeitung?“, fragt sie bissig.
„Dauerverlobt“, fügt Nephele mit einem anzüglichen Blick in Julias Richtung hinzu, um von dem neuerlichen Giftpfeil Miriams auf die arme Daniela abzulenken. „Der Zustand dauert jetzt schon mindestens vier Jahre an. Findest du nicht, du solltest den armen Kerl endlich mal erlösen und heiraten?“, fragt sie Julia.
„Erlösen und heiraten? Wie soll das gehen?“, wirft Thekla spöttisch ein.
Julia bedenkt sie mit einem strafenden Blick und kontert: „Erzähl du uns lieber, wie es in Hollywood war und was dich zurück nach Gifhorn verschlagen hat. Ich glaube, das interessiert uns alle viel mehr“, wechselt sie geschmeidig das Thema, verschränkt die Arme vor der Brust und blickt Thekla erwartungsvoll an.
„Oh ja!“, ruft Daniela mit leuchtenden Augen. „Wie war‘s da drüben? Mit wem hast du gedreht? Stimmt es eigentlich, dass du ein Verhältnis mit diesem Game-of-Thrones-Star hattest? Wie hieß er noch gleich …“
Thekla unterbricht sie mit süffisantem Grinsen. „Keine Namen, bitte! Seine Frau fand die medialen Spekulationen über die Fehltritte ihres Ehegatten gar nicht lustig. Die bringt es fertig und verklagt dich wegen Verleumdung!“
Daniela lässt sich nicht entmutigen. „Dann erzähl‘ uns wenigstens etwas über die Dinge, über die du reden darfst! Zum Beispiel über die Filme, in denen du mitgespielt hast. Darüber weiß ich gar nichts. Ich habe dich noch in keinem Streifen gesehen!“
Die drei übrigen Frauen werfen sich pikierte Blicke zu. Daniela jedoch scheint das Fettnäpfchen gar nicht zu bemerken, in dem sie bereits knietief steht. Mit leuchtenden Augen und voller Vorfreude auf spannende Neuigkeiten aus der Welt der Stars und Sternchen sieht sie ihre alte Schulfreundin abwartend an.
Thekla reagiert gelassen. „Nun, besonders spektakulär waren meine Engagements bislang nicht. Mit international erfolgreichen Produktionen kann ich nicht dienen. Ein paar Nebenrollen in amerikanischen Fernsehserien, einige Bühnenengagements und auch eine Rolle in einer Broadway-Produktion – das war’s dann schon mehr oder weniger“, erklärt sie vage.
„Und mit wem hast du so gedreht?“, hakt Daniela neugierig nach.
„Vermutlich mit niemanden, den du kennst“, wirft Miriam bissig ein. „Mann, Daniela! Thekla hat es doch gerade gesagt! So großartig ist es für sie da drüben nicht gelaufen. Deshalb wird sie Filmgrößen wie George Clooney, Brad Pitt, Tom Hanks oder Tom Cruise wohl kaum persönlich kennengelernt haben.“
Thekla bläst die Backen auf und wiegt den Kopf hin und her. „Ganz so würde ich das nicht formulieren. Hollywood ist ein Dorf und es gibt jede Menge Partys, in die man sich hineinmogeln kann.“ Sie grinst spitzbübisch, winkt jedoch schon im nächsten Moment ab. „Aber ich glaube tatsächlich, es gibt Spannenderes, als über solche Dinge zu reden. Und vor allem Wichtigeres! Sind wir nicht hier, um unser Abi-Jubiläum vorzubereiten?“
„Sehr richtig!“, pflichtet Julia ihr bei. „Und ich finde, damit sollten wir jetzt auch beginnen, bevor euch der Prosecco zu sehr in den Kopf steigt.“
Als sich am Tisch lautstarker Protest regt, hebt sie beschwichtigend die Hände. Dabei macht sie den Eindruck, als führe sie den Vorsitz bei einer turbulenten Ratssitzung und müsse für Ordnung sorgen, weil sich die Ratsmitglieder wegen irgendeiner Sache in die Haare geraten sind. Natürlich ist auch das wieder ein Anlass zur Erheiterung.
Anschließend fragt Thekla: „Ich habe da gleich mal eine Frage: Feiert man ein Jubiläum nicht eigentlich erst nach fünfundzwanzig Jahren? Warum begehen wir unseres schon nach zwanzig?“
Julia verzieht spöttisch das Gesicht. „Weil das damalige Abi-Feier-Veranstaltungskomitee davon überzeugt war, dass nach 25 Jahren schon zu viele von uns unter der Erde liegen würden. Deshalb hatten wir beschlossen, unser erstes Treffen bereits nach zwanzig Jahren abzuhalten. Meine Güte, wir haben geglaubt, mit vierzig müsse man wenigstens scheintot sein. Erinnert ihr euch an Herrn Hecht, unseren Geschichtslehrer? Der war zu unserer Zeit erst Ende dreißig und wir dachten, der würde kurz vor der Rente stehen. So griesgrämig und vertrocknet, wie der aussah!“
Dem können die anderen nur beipflichten.
„Ich bin jedenfalls jetzt schon mächtig gespannt darauf zu erfahren, was aus den Leuten geworden ist, und muss nicht fünf weitere Jahre warten“, meint Daniela.
„Stimmt“, ruft Nephele und ihre Augen beginnen zu leuchten. „Erinnert ihr euch noch an den ‚schönsten Mann zwischen Harz und Heide‘, wie wir ihn damals nannten?“
Lautes Gejohle beantwortet ihre Frage.
„Er war der Schwarm aller Mädchen unseres Jahrgangs“, erinnert sich Daniela.
„Und aller anderen Jahrgänge auch!“, ergänzt Thekla lachend. Sie wendet sich an Julia. „Was meinst du? Wird er bei unserer Jubiläumsfeier erscheinen?“
„Keine Ahnung“, antwortet die Angesprochene und zuckt die Schultern. „Bislang habe ich nur Kontaktdaten recherchiert und allen eine Terminabfrage geschickt. Von ihm habe ich bislang nicht einmal eine E-Mail-Adresse, weiß aber wenigstens von seiner Mutter, wo er wohnt.“
„Wie hieß der Typ eigentlich? Andi? Oder Andreas?“, will Miriam wissen.
„André Tetzlaff“, antwortet Nephele hingebungsvoll seufzend und richtet den Blick mit einem dramatischen Augenaufschlag gen Himmel. „Wisst ihr noch, wie er sich immer mit den Fingern durch die halblangen blonden Haare fuhr? Er sah damals aus wie Brad Pitt.“
Ein zustimmendes Raunen geht durch die Runde.
„Warst du nicht mal mit ihm zusammen, Thekla?“, fragt Julia.
Die Angesprochene nickt langsam, als würden die Erinnerungen an diese ferne Zeit erst nach und nach zu ihr zurückkehren. „Jahaaa“, sagt sie gedehnt, „aber ich habe ihn auch schnell wieder entsorgt“, erinnert sie sich dann. „Er sah zwar gut aus, war aber innerlich ziemlich hohl.“
„Ich habe auch mal mit ihm herumgeknutscht. Das war kurz vor dem Abi“, schwärmt Nephele mit verträumtem Blick. „Mann, war ich verknallt! Ich war überzeugt davon, dass wir irgendwann heiraten würden.“ Sie seufzt und zuckt die Schultern. „Doch daraus wurde nichts“, fügt sie betrübt hinzu.
Ein vielstimmiges, bedauerndes „Oooh“ erfüllt die Runde am Tisch.
„Und warum wurde nichts daraus?“, will Daniela wissen.
Nepheles Miene verfinstert sich. „Irgend so eine Schlampe hat sich auf dem Abiball an ihn `rangewanzt, einen Joint mit ihm geteilt und ihn dann auf dem Damenklo im Kulturzentrum durchgevögelt. So wurde es mir jedenfalls zugetragen.“
Julia gniggert in sich hinein. Nephele schaut sie empört an. „Du lachst darüber?“
Nun kann Julia nicht mehr an sich halten. Sie prustet lauthals los und schlägt sich auf die Schenkel. Als sie sich ein bisschen erholt hat, beteuert sie: „Es tut mir leid, Nephele, wirklich! Aber ich erinnere mich an die Szene. Und es war wirklich zu komisch!“ Wieder bricht sie in wieherndes Gelächter aus.
Thekla fällt mit ein. „Meine Güte, natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Ich war ja auch dabei!“ Die beiden biegen sich über den Tisch vor Lachen. „‘Tschuldigung, Nephele, aber es war wirklich ein Bild für die Götter!“, erklärt Thekla, während sie mühsam versucht, sich zu beherrschen. Als ihr das gelingt, teilt sie ihre Erinnerungen mit den anderen. „Wir standen im Foyer vor dem Ballsaal. Eine Frau kam an uns vorbei – vermutlich eine der Mütter. Sie war leichenblass und ihre Lippen zitterten vor Empörung. Julia fragte besorgt, ob sie helfen könne. ‚Irgendwer vergisst sich auf der Damentoilette. Unmöglich sowas!‘, stammelte die Dame. Wir wussten gar nicht, was sie meint! Aber Julia und ich wurden neugierig und gingen aufs Mädchenklo. Dort hatte sich bereits eine Traube von Schülern, auch ein paar Jungs waren darunter, feixend vor einer der Kabinen versammelt, um dem, was da drinnen vor sich ging, zu lauschen. Ein besonders vorwitziger Bengel probierte die Klinke und tatsächlich: Die Tür sprang auf! Diejenigen, die da drinnen zugange waren, hatten es entweder nicht für nötig befunden oder im Eifer des Gefechts vergessen abzuschließen.“ Erneut wird sie von einer Lachsalve geschüttelt und kann nicht weitersprechen.
Das übernimmt Julia für sie. „André stand auf dem Klo und hielt sich am Wasserkasten unter der Decke fest. Vor ihm stand eine Frau und blies ihm mit Leidenschaft ein Ständchen. Wir haben gebrüllt vor Lachen!“
Das tun nun auch die anderen am Tisch. Sogar Nephele wird davon angesteckt. Schließlich lacht sie selbst am lautesten von allen. „Weiß eigentlich jemand, wer diese kleine Schlampe war? Ich habe ihren Namen nie erfahren“, will sie wissen, während sie sich die Lachtränen aus den Augen wischt.
Daniela schüttelt bedauernd den Kopf. „Tut mir leid – ich war nicht dabei. Ich höre heute zum ersten Mal davon!“
Julia und Thekla schauen sich fragend an, Letztere zuckt die Schultern. „So weit reichen meine Erinnerungen nicht. Es muss wohl jemand aus unserer Penne gewesen sein. Irgendeine, bei der es niemanden überrascht hat, dass sie sich so ungeniert gibt. Andernfalls hätten wir vermutlich im Gedächtnis behalten, wer sich dort um Andrés Wohl bemühte.“
„Demnach kann es keine der Mütter gewesen sein, denn daran hätten wir uns erinnert!“, stimmt Julia zu. Sofort brüllen wieder alle vor Lachen.
Als sie sich von diesem neuerlichen Heiterkeitsausbruch erholt haben, meint Miriam: „Es ist so lange her. Eigentlich ist es doch auch gar nicht mehr wichtig.“
„Für mich schon!“, widerspricht Nephele halb im Ernst, halb im Scherz. „Schließlich haben André und ich deswegen nicht geheiratet. Niemals hätte ich mich an einen Kerl verschwendet, der mich betrügt!“, erklärt sie mit Nachdruck.
„Oooohh“, raunen die vier anderen gespielt betroffen im Chor.
„Miriam hat recht. Sei froh, dass dir diese Frau, wer immer sie auch war, die Augen über Andrés vielseitiges Interesse an der Damenwelt geöffnet hat, und …“ Thekla stockt. Entgeistert starrt sie die Arztgattin an. Die senkt den Blick, zieht ihre Chanel-Tasche auf ihren Schoß und beginnt darin herumzukramen. Die Augen der anderen sind auf Thekla gerichtet in der Erwartung, dass sie ihren Satz beenden wird, doch sie schweigt.
Auf einmal werden auch Julias Augen groß wie Untertassen. Erschrocken blickt sie erst zu Miriam, dann zu Thekla. Einen Moment später hat sie sich wieder im Griff. „Gibt’s noch Prosecco?“, fragt sie beiläufig. Doch ihr Ablenkungsmanöver kommt zu spät.
Statt Julia zu antworten, fährt Nephele wie von der Tarantel gestochen zu Miriam herum: „Du warst das?“
Miriam kramt immer noch in ihrer Tasche. „Daran kann ich mich nun wirklich nicht erinnern“, antwortet sie ausweichend.
Nephele glaubt ihr kein Wort. „Aber natürlich!“, platzt sie heraus. „Wer hätte es sonst sein können? Du warst doch die Jahrgangsmatratze! Du hast mit jedem `rumgemacht, der nicht bei drei auf dem Baum war! Und jeder wusste das!“
Empört hebt Miriam den Kopf. „Ich muss doch sehr bitten!“
Nepheles Augen verengen sich zu Schlitzen. „Gib es wenigstens zu!“, zischt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
Julia schreitet ein. „Mädels, das alles ist Jahrzehnte her. Ihr werdet euch doch jetzt nicht wegen so einer Sache in die Haare kriegen?“
„Und warum nicht?“, kontert Nephele aggressiv, ohne Miriam auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. „Wir waren damals schließlich befreundet! Jedenfalls habe ich das geglaubt.“
Miriam scheint indessen entschieden zu haben, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Energisch klappt sie ihre Tasche zu und stellt sie beiseite. Hochmütig wirft sie den Kopf in den Nacken. „Du liebe Güte! Willst du deswegen jetzt tatsächlich einen solchen Aufstand machen?“, sagt sie von oben herab.
Nepheles Augen beginnen gefährlich zu funkeln. „Bis eben hätte ich darauf verzichten können, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher“, knurrt sie.
„Mädels, beruhigt euch!“, ermahnt Julia sie erneut. „Nephele, du wirst in deinem eigenen Lokal doch keine Schlägerei anzetteln wollen?“
Die Wirtin denkt über diese Worte nach, ohne jedoch ihren Blick von Miriam zu wenden. Schließlich nickt sie mit dem Kopf in Richtung der Tür. „Raus!“, zischt sie Miriam an.
„Bist du verrückt geworden?“, empört die sich. „Julia hat vollkommen recht. Denk an den Ruf deines Lokals!“
„Das tue ich!“, faucht Nephele. „Deshalb dulde ich hier drinnen keine Schlägerei. Draußen schon. Also Abmarsch! Oder muss ich nachhelfen?“ Blitzschnell schnellt sie von ihrem Platz in die Höhe, langt über den Tisch und packt Miriam an deren langen roten Haaren.
„Geht’s noch?“, empört die sich.
Ihr Protest prallt an Nephele ab. Immer noch hält sie Miriams Haar fest umklammert. Entgeistert verfolgen die drei anderen die Szene. Julia fängt sich als Erste wieder und redet beschwörend auf die Wirtin ein.
„Nephele, Liebes, hältst du das für klug? Willst du wirklich wegen dieser alten Geschichte den Ruf deines Restaurants ruinieren? Das ist sie doch nicht wert!“
„Ich muss doch sehr bitten!“, empört sich Miriam und funkelt Julia böse an.
Julia schnalzt ungeduldig mit der Zunge. „Ich meine die Geschichte“, korrigiert sie sich schnell.
„Ich denke nicht daran, sie einfach so davonkommen zu lassen!“, faucht Nephele, ohne den Griff um Miriams Haar zu lockern.
Julia zuckt die Schultern. „Na gut“, sagt sie und wendet sich Miriam zu. „Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als dich zu entschuldigen.“
„Ich wüsste nicht wofür!“, erwidert Miriam böse, woraufhin Nephele kräftig an ihren Haaren zieht.
„Au!“, kreischt Miriam auf.
Thekla lehnt sich entspannt zurück und verschränkt ihre Arme vor der Brust. „Also, ich habe nichts gegen einen handfesten Skandal, wenn’s gut fürs Geschäft ist. In L.A. hat es so manchem abgehalfterten Star geholfen, wieder ins Gespräch zu kommen. Ob das allerdings auch für eine Restaurant-Besitzerin und eine Gifhorner Arztgattin die richtige Marketingstrategie ist, wage ich zu bezweifeln.“ Sie lässt ihren Blick vielsagend durch den Gastraum des Lokals schweifen. Längst sind die Leute an den umliegenden Tischen auf die Szene aufmerksam geworden.
Nephele schüttelt den Kopf und schnauft verächtlich. „Das ist mir sowas von egal! Diesen Verrat werde ich nicht auf sich beruhen lassen!“ Dann leuchten ihre Augen plötzlich auf und sie verzieht ihren Mund zu einem boshaften Lächeln. „Und wer weiß? Vielleicht finden die Leute das gar nicht verkehrt, wenn sie erfahren, dass es bei mir ab und zu ein bisschen Action zum Zugucken gibt.“
„Nicht auf meine Kosten!“, faucht Miriam.
„Und warum nicht?“, kontert Nephele kämpferisch.
„Mädels, hört auf, euch zu streiten!“, bittet Daniela. Sie scheint als Einzige wirklich besorgt über den Ausgang der Angelegenheit zu sein, doch niemand hört auf sie.
„Raus jetzt!“, befiehlt Nephele, während sie versucht, Miriam an den Haaren aus der Sitzecke zu ziehen.
„Lass sofort los, sonst kriegst du es mit meinem Anwalt zu tun!“, droht die andere.
„Pah!“, schnaubt Nephele. „Entschuldige dich oder ich kann für nichts garantieren!“
„Niemals!“, kreischt Miriam.
„Bitte, Miriam“, mischt sich Daniela mit flehender Stimme ein. „Nenn‘ mich harmoniesüchtig, wenn du willst. Aber ich kann so etwas nicht ertragen!“
„Du ahnst nicht, wie egal mir das im Moment ist!“, blafft Miriam sie an und versucht nun ihrerseits Nephele am Schopf zu packen. Allerdings ist das Unterfangen chancenlos, denn Nephele weicht ihr geschickt aus.
Auch Thekla versucht, die beiden Streithähne zur Vernunft zu bringen. „Mädels, es gucken schon alle her!“, raunt sie den beiden mit verschwörerischer Stimme zu.
Daraufhin blickt sich Julia im Lokal um. Sie richtet ihren Blick auf die Eingangstür und stutzt. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat soeben die örtliche Presse den Ziegenstall betreten“, warnt sie.
Nephele lacht boshaft auf, lässt Miriam jedoch nicht aus den Augen. „Großartig! Ich darf gespannt sein, ob das mit den Skandalen in Gifhorn ähnlich gut funktioniert wie in Hollywood.“
„Ich aber nicht!“, zischt Miriam, während sie vergeblich versucht, Nepheles Finger aus ihrem Haar zu lösen.
Nephele zuckt die Schultern. „Das liegt ganz an dir“, antwortet sie ungerührt.
„Er guckt schon“, flüstert Julia eindringlich.
Nephele lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie grinst Miriam nur boshaft an. Julia zuckt die Schultern. „Was wohl der Kirchenvorstand dazu sagt, wenn er morgen von dieser Szene in der Zeitung liest?“, überlegt sie laut.
Diese Bemerkung endlich erreicht Miriam. Ein letztes Mal versucht sie verzweifelt, ihr Haar Nepheles Zugriff zu entziehen, doch die denkt gar nicht daran, sie freizugeben. Schließlich gibt sich Miriam geschlagen. „Meinetwegen. Entschuldige bitte!“, knurrt sie genervt.
Nephele hebt überrascht die Augenbrauen. „Geht doch“, sagt sie anerkennend. Einen Moment später lässt sie Miriams Haar tatsächlich los und setzt sich – mit einem Mal wieder seelenruhig – auf ihren Platz, als sei nichts geschehen. Miriam braucht ein bisschen länger, bis sie realisiert hat, dass sie sich wieder frei bewegen kann. Während sie zurück auf die Bank neben Julia rutscht, fährt sie sich mit den Fingern durchs Haar, um es in Ordnung zu bringen.
„Puh, da bin ich aber wirklich froh, dass die Presse genau im richtigen Moment aufgetaucht ist“, sagt Daniela und wirkt ehrlich erleichtert. Neugierig schaut sie in Richtung des Eingangs, kann dort jedoch niemanden stehen sehen. Verwirrt runzelt sie die Stirn. „Wo ist denn der Journalist? Ich sehe keinen“, fragt sie Julia.
Die folgt ihrem Blick und sieht sich scheinbar suchend im Lokal um. Dann zuckt sie die Schultern. „Hm, vermutlich habe ich mich getäuscht“, meint sie leichthin.
Thekla grinst. Sie wirft Julia einen anerkennenden Blick zu: „Respekt, meine Liebe. Andere haben schon für weit weniger überzeugende Vorstellungen einen Oscar erhalten!“