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Von beiden Eltern habe ich wichtige Stücke meines Wesens übernommen. Von der Mutter eine bescheidene Lebensklugheit, ein Stück Gottvertrauen und ein stilles, wenig redendes Wesen. Vom Vater hingegen eine Ängstlichkeit vor festen Entschließungen, die Unfähigkeit mit Geld zu wirtschaften und die Kunst viel und mit Überlegung zu trinken. Letzteres zeigte sich aber an mir in jenem zarten Alter noch nicht. Äußerlich hab ich vom Vater die Augen und den Mund, von der Mutter den schweren, dauerhaften Gang und Körperbau und die zähe Muskelkraft. Vom Vater und von unserer Rasse überhaupt bekam ich ins Leben zwar einen bauernschlauen Verstand, aber auch das trübe Wesen und den Hang zu grundloser Schwermut mit. Da mir bestimmt war mich lange außerhalb der Heimat bei Fremden herumzuschlagen, wäre es schon besser gewesen, statt dessen einige Beweglichkeit und etlichen frohen Leichtsinn mitzubringen.
So ausgestattet und mit einem neuen Kleide versorgt trat ich die Reise ins Leben an. Die elterlichen Gaben haben sich bewährt, denn ich ging und stand in der Welt seither auf eigenen Füßen. Dennoch muß irgend etwas gefehlt haben, das auch die Wissenschaft und das Weltleben mir nimmer einbrachte. Denn ich kann heute noch wie je einen Berg zwingen, zehn Stunden marschieren oder rudern und nötigenfalls einen Mann freihändig erschlagen, zum Lebenskünstler aber fehlt mir heute noch so viel wie damals. Der frühe einseitige Umgang mit der Erde und ihren Pflanzen und Tieren hatte wenig soziale Fähigkeiten in mir aufkommen lassen und noch jetzt sind meine Träume ein merkwürdiger Beweis dafür, wie sehr ich leider einem rein animalischen Leben zuneige. Ich träume nämlich sehr oft, ich liege am Meeresstrand als Tier, zumeist als Seehund, und empfinde dabei ein so gewaltiges Wohlbehagen, daß ich beim Erwachen den Wiederbesitz meiner Menschenwürde keineswegs freudig oder mit Stolz, sondern lediglich mit Bedauern wahrnehme.
Ich ward in üblicher Weise mit Freiplatz und Freitisch an einem Gymnasium erzogen und war zum Philologen bestimmt. Niemand weiß, warum. Es gibt kein unnützeres und langweiligeres Fach und keines, das mir ferner lag.
Die Schülerjahre gingen mir rasch dahin. Zwischen Balgereien und Schule kamen Stunden voll Heimweh, Stunden voll frecher Zukunftsträume, Stunden voll ehrfürchtiger Anbetung der Wissenschaft. Zwischenein trat auch hier meine angeborene Trägheit hervor, trug mir allerlei Ärger und Strafen ein und wich dann irgend einem neuen Enthusiasmus.
„Peter Camenzind,“ sprach mein Griechischlehrer, „du bist ein Trotzkopf und Einspänner und wirst dir noch einmal den harten Schädel einrennen.“ Ich betrachtete den feisten Brillenträger, hörte seine Rede an und fand ihn komisch.
„Peter Camenzind,“ sprach der Mathematiklehrer, „du bist ein Genie im Faullenzen und ich bedaure, daß es kein niedrigeres Zeugnis gibt als Null. Ich schätze deine heutige Leistung auf minus zweieinhalb.“ Ich sah ihn an, bedauerte ihn da er schielte, und fand ihn sehr langweilig.
„Peter Camenzind,“ sagte einmal der Geschichtsprofessor, „du bist kein guter Schüler, aber du wirst trotzdem einmal ein guter Historiker werden. Du bist faul, aber du weißt Großes und Kleines zu unterscheiden.“
Auch das war mir nicht extra wichtig. Dennoch hatte ich vor den Lehrern Respekt, denn ich dachte sie seien im Besitze der Wissenschaft, und vor der Wissenschaft empfand ich eine dunkle, gewaltige Ehrfurcht. Und obschon über meine Faulheit alle Lehrer einig waren, kam ich doch vorwärts und hatte meinen Platz über der Mitte. Daß die Schule und die Schulwissenschaft ein unzulängliches Stückwerk war, merkte ich wohl; aber ich wartete auf später. Hinter diesen Vorbereitungen und Schulfuchsereien vermutete ich das reine Geistige, eine zweifellose, sichere Wissenschaft des Wahren. Dort würde ich erfahren, was die dunkle Wirrnis der Geschichte, die Kämpfe der Völker und die bange Frage in jeder einzelnen Seele bedeute.
Noch stärker und lebendiger war eine andere Sehnsucht in mir. Ich wollte gern einen Freund haben.
Da war ein braunhaariger, ernsthafter Knabe, zwei Jahre älter als ich, namens Kaspar Hauri. Er hatte eine sichere und stille Art zu gehen und dazusein, trug den Kopf männlich fest und ernst und sprach nicht viel mit seinen Kameraden. An ihm blickte ich monatelang mit großer Verehrung empor, hielt mich auf der Straße hinter ihm her und hoffte sehnlich von ihm bemerkt zu werden. Ich war auf jeden Spießbürger eifersüchtig, den er grüßte, und auf jedes Haus, in das ich ihn eintreten oder aus dem ich ihn kommen sah. Aber ich war zwei Klassen hinter ihm zurück und er fühlte sich vermutlich der seinigen schon überlegen. Es ist nie ein Wort zwischen uns gewechselt worden. Statt seiner schloß sich ohne mein Zutun ein kleiner, kränklicher Knabe an mich an. Er war jünger als ich, schüchtern und unbegabt, hatte aber schöne, leidende Augen und Gesichtszüge. Weil er schwächlich und ein wenig verwachsen war, stand er in seiner Klasse viel Unbilden aus und suchte an mir, der ich stark und angesehen war, einen Beschützer. Bald ward er so krank, daß er die Schule nicht mehr besuchen konnte. Er fehlte mir nicht und ich vergaß ihn rasch.
Nun war in unserer Klasse ein ausgelassener Blondkopf, ein Tausendkünstler, Musiker, Mime und Hanswurst. Ich gewann seine Freundschaft nicht ohne Mühe und der flotte kleine Altersgenosse benahm sich stets ein klein wenig gönnerhaft gegen mich. Immerhin hatte ich nun einen Freund. Ich suchte ihn in seinem Stüblein auf, las ein paar Bücher mit ihm, machte ihm die griechischen Aufgaben und ließ mir dafür im Rechnen helfen. Auch gingen wir manchmal miteinander spazieren und müssen dann wie Bär und Wiesel ausgesehen haben. Er war immer der Sprecher, der Lustige, Witzige, nie Verlegene, und ich hörte zu, lachte und war froh einen so burschikosen Freund zu haben.
Eines Nachmittags aber kam ich unversehens dazu, wie der kleine Charlatan im Schulhausgang einigen Kameraden eine von seinen beliebten komischen Aufführungen zum Besten gab. Soeben hatte er einen Lehrer nachgemacht, nun rief er: „Ratet wer das ist!“ und begann laut ein paar Homerverse zu lesen. Dabei kopierte er mich sehr getreu, meine verlegene Haltung, mein ängstliches Lesen, meine oberländisch rauhe Aussprache, und auch meine ständige Geberde der Aufmerksamkeit, das Blinzeln und das Schließen des linken Auges. Es sah sich sehr komisch an und war so witzig und lieblos als möglich gemacht.
Als er das Buch schloß und den verdienten Beifall einstrich, trat ich von hinten an ihn her und nahm Rache. Worte fand ich nicht, aber ich brachte meine ganze Entrüstung, Scham und Wut in einer einzigen, riesigen Ohrfeige prägnant zum Ausdruck. Gleich darauf begann die Lektion und der Lehrer bemerkte das Wimmern und die rotgeschwollene Backe meines ehemaligen Freundes, welcher obendrein sein Liebling war.
„Wer hat dich so zugerichtet?“
„Der Camenzind.“
„Camenzind vortreten! Ist das wahr?“
„Jawohl.“
„Warum hast du ihn geschlagen?“
Keine Antwort.
„Hast du keinen Grund dazu gehabt?“
„Nein.“
Also wurde ich energisch bestraft und schwelgte stoisch in der Wonne des unschuldig Gemarterten. Da ich aber kein Stoiker noch Heiliger, sondern ein Schulbub war, streckte ich nach erlittener Strafe meinem Feind die Zunge heraus so lang sie war. Entsetzt fuhr der Lehrer auf mich los.
„Schämst du dich nicht? Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, daß der dort ein gemeiner Kerl ist und daß ich ihn verachte. Und ein Feigling ist er auch noch.“
So endete meine Freundschaft mit dem Mimen. Er fand keinen Nachfolger und ich habe die Jahre der reifenden Knabenzeit ohne Freund verbringen müssen. Aber ob auch meine Anschauung des Lebens und der Menschen seither sich einige mal verändert hat, jener Ohrfeige erinnere ich mich nie ohne tiefe Befriedigung. Hoffentlich hat auch der Blonde sie nicht vergessen.
Mit siebzehn Jahren verliebte ich mich in eine Advokatentochter. Sie war schön und ich bin stolz darauf, daß ich mein Leben lang immer nur in sehr schöne Frauenbilder verliebt war. Was ich um sie und um andere litt, erzähle ich ein andermal. Sie hieß Rösi Girtanner und ist heute noch der Liebe ganz anderer Männer, als ich bin, würdig.
Damals brauste mir die ungebrauchte Jugendkraft in allen Gliedern. Ich ließ mich mit meinen Kameraden in tolle Raufhändel ein, fühlte mich stolz als besten Ringer, Ballschläger, Wettläufer und Ruderer, und war nebenher beständig schwermütig. Das hing kaum mit der Liebesgeschichte zusammen. Es war einfach die süße Schwermut des Vorfrühlings, die mich stärker als andere anfaßte, so daß ich Freude an traurigen Vorstellungen, an Todesgedanken und an pessimistischen Ideen hatte. Natürlich fand sich auch der Kamerad, der mir Heines Buch der Lieder in einer billigen Ausgabe zu lesen gab. Es war eigentlich kein Lesen mehr, — ich goß in die leeren Verse mein volles Herz, ich litt mit, dichtete mit und geriet in ein lyrisches Schwärmen hinein, das mir vermutlich zu Gesichte stand wie dem Ferkel die Chemisette. Bis dahin hatte ich von aller „schönen Literatur“ keine Ahnung gehabt. Nun folgte Lenau, Schiller, dann Goethe und Shakespeare, und plötzlich war mir der blasse Schemen Literatur zu einer großen Gottheit geworden.
Mit süßem Schauder fühlte ich aus diesen Büchern mir die würzig kühle Luft eines Lebens entgegen strömen, das nie auf Erden gewesen und doch wahrhaftig war und nun in meinem ergriffenen Herzen seine Wellen schlagen und seine Schicksale erleben wollte. In meinem Lesewinkel auf der Dachbodenkammer, wohin nur das Stundenschlagen vom nahen Turmgestühl und das trockene Klappern der daneben nistenden Störche drang, gingen die Menschen Goethes und Shakespeares bei mir ein und aus. Das Göttliche und Lächerliche alles Menschenwesens ging mir auf: das Rätsel unseres zwiespältigen, unbändigen Herzens, die tiefe Wesenheit der Weltgeschichte und das mächtige Wunder des Geistes, der unsre kurzen Tage verklärt und durch die Kraft des Erkennens unser kleines Dasein in den Kreis des Notwendigen und Ewigen erhebt. Wenn ich den Kopf durch die schmale Fensterluke steckte, sah ich die Sonne auf Dächer und schmale Gassen scheinen, hörte verwundert die kleinen Geräusche der Arbeit und Alltäglichkeit verworren heraufrauschen und fühlte das Einsame und Geheimnisvolle meines von großen Geistern erfüllten Dachwinkels wie ein sonderbar schönes Märchen mich umgeben. Und allmählich, je mehr ich las und je wunderlicher und fremder mich das Hinunterblicken auf Dächer, Gassen und Alltag ergriff, tauchte des öfteren zaghaft und beklemmend das Gefühl in mir auf, auch ich sei vielleicht ein Seher und die vor mir ausgebreitete Welt warte auf mich, daß ich einen Teil ihrer Schätze höbe, den Schleier des Zufälligen und Gemeinen davon löse und das Entdeckte durch Dichterkraft dem Untergang entreiße und verewige.
Schamhaft fing ich an ein wenig zu dichten und es füllten sich allmählich einige Hefte mit Versen, Entwürfen und kleinen Erzählungen an. Sie sind untergegangen und waren vermutlich wenig wert, bereiteten mir aber Herzklopfen und heimliche Wonne genug. Nur langsam folgte diesen Versuchen Kritik und Selbstprüfung nach, und erst im letzten Schuljahr trat die notwendige erste, große Enttäuschung ein. Ich hatte schon begonnen mit meinen Erstlingsgedichten aufzuräumen und meine Schreiberei überhaupt mit Mißtrauen zu betrachten, als mir durch Zufall ein paar Bände Gottfried Keller in die Hände fielen, die ich sogleich zweimal und dreimal hintereinander las. Da sah ich in plötzlicher Erkenntnis, wie fern meine unreifen Träumereien der echten, herben, wahrhaftigen Kunst gewesen waren, verbrannte meine Gedichte und Novellen und blickte nüchtern und traurig mit peinlichen Katzenjammergefühlen in die Welt.
II.
Um von der Liebe zu reden, — darin bin ich zeitlebens ein Knabe geblieben. Für mich ist die Liebe zu Frauen immer ein reinigendes Anbeten gewesen, eine steile Flamme meiner Trübe entlodert, Beterhände zu blauen Himmeln emporgestreckt. Von der Mutter her und auch aus eigenem, undeutlichem Gefühl verehrte ich die Frauen insgesamt als ein fremdes, schönes und rätselhaftes Geschlecht, das uns durch eine angeborene Schönheit und Einheitlichkeit des Wesens überlegen ist und das wir heilig halten müssen, weil es gleich Sternen und blauen Berghöhen uns ferne ist und Gott näher zu sein scheint. Da das rauhe Leben seinen reichlichen Senf dazu gab, hat die Frauenliebe mir soviel Bitteres als Süßes eingebracht; zwar blieben die Frauen auf dem hohen Sockel stehen, mir aber verwandelte sich die feierliche Rolle des anbetenden Priesters allzuleicht in die peinlich-komische des genarrten Narren.
Rösi Girtanner begegnete mir fast jeden Tag, wenn ich zu Tische ging. Eine Jungfer von siebzehn Jahren, fest und biegsam gewachsen. Aus dem schmalen, bräunlich frischen Gesicht sprach die stille beseelte Schönheit, welche ihre Mutter zur Stunde noch besaß und welche vor ihr Ahne und Urahne gehabt hatte. Aus diesem alten, vornehmen und gesegneten Haus war von Geschlecht zu Geschlecht eine große, schmucke Reihe von Frauen ausgegangen, jede still und vornehm, jede frisch, adlig und von fehlerloser Schönheit. Es gibt von einem unbekannten Meister ein Mädchenbildnis aus der Familie der Fugger, im sechzehnten Jahrhundert gemalt und eines der köstlichsten Bilder, die meine Augen gesehen haben. So ähnlich waren die Girtannerschen Frauen und so war auch Rösi.
Das alles wußte ich damals freilich nicht. Ich sah sie nur in ihrer stillen, heiteren Würde schreiten und fühlte das Adelige ihres schlichten Wesens. Dann saß ich Abends nachsinnend in der Dämmerung, bis es mir gelang, ihre Erscheinung mir klar und gegenwärtig vorzustellen, und dann lief ein süßes heimliches Grausen über meine knabenhafte Seele. In Bälde kam es aber, daß diese Augenblicke der Lust sich trübten und mir bittere Schmerzen machten. Ich empfand plötzlich, wie fremd sie mir sei, mich nicht kenne noch mir nachfrage, und daß mein schönes Traumbild ein Diebstahl an ihrem seligen Wesen sei. Und eben wenn ich das so scharf und peinigend fühlte, sah ich ihr Bild immer für Augenblicke so wahr und atmend lebendig vor Augen, daß eine dunkle, warme Woge mein Herz überflutete und mir bis in die fernsten Pulse seltsam wehe tat.
Bei Tage geschah es mitten in einer Lehrstunde oder mitten in einem heftigen Raufen, daß die Woge wiederkam. Dann schloß ich die Augen, ließ die Hände sinken und fühlte mich in einen lauen Abgrund gleiten, bis mich der Aufruf des Lehrers oder der Faustschlag eines Kameraden erweckte. Ich entzog mich, lief ins Freie und staunte mit wunderlicher Träumerei in die Welt. Nun sah ich plötzlich, wie schön und farbig alles war, wie Licht und Atem durch alle Dinge floß, wie klargrün der Fluß und wie rot die Dächer und wie blau die Berge waren. Diese mich umgebende Schönheit zerstreute mich aber nicht, sondern ich genoß sie still und traurig. Je schöner alles war, desto fremder schien es mir, der ich keinen Teil daran hatte und außerhalb stand. Darüber fanden meine dumpfen Gedanken den Weg zu Rösi zurück: Wenn ich in dieser Stunde stürbe, sie würde es nicht wissen, nicht danach fragen, nicht darüber betrübt sein!
Dennoch verlangte mich nicht danach von ihr bemerkt zu werden. Ich hätte gern etwas Unerhörtes für sie getan oder ihr geschenkt, ohne daß sie gewußt hätte von wem es kam.
Und ich tat auch vieles für sie. Es kam eben eine kurze Ferienzeit und ich ward nach Hause geschickt. Dort leistete ich täglich allerlei Kraftstücke, alles in meiner Meinung Rösi zu Ehren. Einen schwierigen Gipfel erstieg ich von der steilsten Seite. Auf dem See machte ich übertriebene Fahrten im Weidling, große Entfernungen in knapper Zeit. Nach einer solchen Fahrt, da ich ausgebrannt und verhungert zurück kam, fiel mir ein, bis zum Abend ohne Speise und Trank zu bleiben. Alles für Rösi Girtanner. Ich trug ihren Namen und Lobpreis auf entlegene Grate und in nie besuchte Klüfte.
Zugleich büßte dabei meine in der Schulstube verhockte Jugend ihre Lust. Die Schultern gingen mir mächtig auseinander, Gesicht und Nacken ward braun und überall dehnten sich und schwollen die Muskeln.
Am vorletzten Ferientag brachte ich meiner Liebe ein mühseliges Blumenopfer. Zwar wußte ich an mehreren verlockenden Hängen auf schmalen Erdbändern Edelweiß stehen, aber diese duft- und farblose, krankhafte Silberblüte war mit stets seelenlos und wenig schön erschienen. Dafür kannte ich ein paar vereinsamte Alpenrosenbüsche, in die Furche einer kühnen Fluh verweht, spätblühend und verlockend schwer zu erreichen. Nun, es mußte gehen. Und da denn der Jugend und Liebe nichts unmöglich ist, gelangte ich mit zerschundenen Händen und krampfigen Schenkeln schließlich zum Ziel. Juchezen konnte ich in meiner bangen Lage nicht, aber das Herz jodelte und lärmte mir vor Lust, als ich vorsichtig die zähen Zweige durchschnitt und die Beute in den Händen hielt. Zurück mußte ich, die Blumen im Mund, rücklings klettern und Gott allein weiß, wie ich frecher Knabe heil den Fuß der Wand erreichte. Am ganzen Berg war die Blüte der Alpenrosen lang vorüber, ich hatte die letzten Zweige des Jahres knospend und zarterblühend in der Hand.
Andern Tags hielt ich die Blumen während der ganzen fünfstündigen Reise in den Händen. Anfangs schlug das Herz mir mächtig der Stadt der schönen Rösi entgegen; je ferner aber das Hochgebirge ward, desto stärker zog die eingeborene Liebe mich zurück. Ich erinnere mich so gut an jene Eisenbahnfahrt! Der Sennalpstock war schon lange unsichtbar, nun sanken aber auch die zackigen Vorberge einer um den andern hinab und jeder löste sich mit feinem Wehgefühl von meinem Herzen. Nun waren alle heimischen Berge versunken und eine breite, niedere, hellgrüne Landschaft drängte sich hervor. Das hatte mich bei meiner ersten Reise gar nicht berührt. Diesmal aber ergriff mich Unruhe, Angst und Trauer, als wäre ich verurteilt weiter in immer flachere Länder hinein zu fahren und die Berge und das Bürgerrecht der Heimat unwiderbringlich zu verlieren. Zugleich sah ich immer das schöne, schmale Gesicht der Rösi vor mir stehen, so fein und fremd und kühl und meiner unbekümmert, daß mir Erbitterung und Schmerz den Atem verhielt. Vor den Fenstern glitten hintereinander die frohen, sauberen Ortschaften mit schlanken Türmen und weißen Giebeln vorüber und Menschen stiegen aus und ein, redeten, grüßten, lachten, rauchten und machten Witze, — lauter fröhliche Unterländer, gewandte, freimütige und polierte Leute, und ich schwerer Bursch vom Oberland saß stumm und traurig und verbissen damitten. Ich fühlte, daß ich nicht mehr heimisch war. Ich empfand, daß ich den Bergen für immer entrissen war und doch nie werden würde wie ein Unterländer, nie so froh, so gewandt, so glatt und sicher. So einer wie diese würde sich immer über mich lustig machen, so einer würde die Girtanner einmal heiraten und so einer würde mir immer im Weg und um einen Schritt voraus sein.
Solche Gedanken brachte ich mit zur Stadt. Dort stieg ich nach der ersten Begrüßung auf den Dachboden, öffnete meine Kiste und entnahm ihr einen großen Bogen Papier. Es war nicht vom feinsten und als ich meine Alpenrosen darein gewickelt und das Paket mit einem extra von Hause mitgebrachten Bindfaden verschnürt hatte, sah es gar nicht wie eine Liebesgabe aus. Ernsthaft trug ich es in die Straße, wo der Advokat Girtanner wohnte, und im ersten günstigen Augenblick trat ich durchs offene Tor, sah mich in der abendlich halblichten Hausflur ein wenig um und legte mein unförmliches Bündel auf der breiten, herrschaftlichen Treppe ab.
Niemand sah mich und ich erfuhr nie, ob Rösi meinen Gruß zu sehen bekommen habe. Aber ich war an Flühen geklettert und hatte mein Leben gewagt, um einen Zweig Rosen auf die Treppe ihres Hauses zu legen, und darin lag etwas Süßes, Traurigfrohes, Poetisches, das mir wohltat und das ich noch heut empfinde. Nur in gottlosen Stunden scheint es mir zuweilen, als sei jenes Rosenabenteuer so gut wie alle meine späteren Liebesgeschichten eine Donquichotterie gewesen.
Diese meine erste Liebe fand nie einen Abschluß, sondern verklang fragend und unerlöst in meine Jugendjahre und lief neben meinen späteren Verliebtheiten wie eine stille ältere Schwester mit. Immer noch kann ich mir nichts nobleres, reineres und schöneres vorstellen als jene junge, wohlgeborene und stillblickende Patrizierin. Und als ich manche Jahre später auf einer historischen Ausstellung in München jenes namenlose, rätselhaft liebliche Bildnis der Fuggertochter sah, erschien mir, es stehe meine ganze schwärmerische, traurige Jugend vor mir und schaue mich aus unergründlichen Augen tief und verloren an.
Indessen häutete ich mich langsam und bedächtig und ward allmählich vollends zum Jüngling. Meine damals angefertigte Photographie zeigt einen knochigen, hochgewachsenen Bauernbuben in schlechten Schülerkleidern, mit etwas matten Augen und unfertigen, lümmelhaften Gliedmaßen. Nur der Kopf hat etwas Frühfertiges und Festes. Mit einer Art von Erstaunen sah ich mich die Manieren der Knabenzeit ablegen und erwartete mit dunkler Vorfreude die Studentenzeit.
Ich sollte in Zürich studieren und für den Fall besonderer Leistungen hatten meine Gönner die Möglichkeit einer Studienreise erwähnt. All das erschien mir wie ein schönes, klassisches Bild: Eine ernst freundliche Laube mit den Büsten Homers und Platos, ich darin sitzend über Folianten gebückt, und auf allen Seiten ein weiter, klarer Blick auf Stadt, See, Berge und schöne Fernen. Mein Wesen war nüchterner und doch schwungvoller geworden und ich freute mich des zukünftigen Glückes mit der festen Zuversicht seiner würdig befunden zu werden.
Im letzten Schuljahr fesselte mich das Studium des Italienischen und die erste Bekanntschaft mit den alten Novellisten, deren gründlicheres Kennenlernen ich mir als erste Liebhaberarbeit für die Zürcher Semester vorbehielt. Dann kam der Tag, da ich meinen Lehrern und dem Hausvater Adieu sagte, meine kleine Kiste packte und vernagelte und mit wohliger Wehmut abschiednehmend um das Haus der Rösi strich.
Die Ferienzeit, die nun folgte, gab mir einen bitteren Vorschmack vom Leben und zerriß mir die schönen Traumflügel schnell und rauh. Zunächst fand ich die Mutter krank. Sie lag zu Bett, redete fast gar nichts und machte auch von meinem Kommen kein Aufhebens. Wehleidig war ich nicht, aber es schmerzte mich doch, meiner Freude und meinem jungen Stolz gar kein Echo zu finden. Alsdann erklärte mir mein Vater, daß er zwar nichts dagegen habe, wenn ich nun studieren wolle, daß er aber nicht vermöge mir Geld dazu zu geben. Wenn das kleine Stipendium nicht reiche, müsse ich eben sehen mir das Nötige zu verdienen. In meinem Alter habe er schon längst eigenes Brot gegessen u. s. w.
Auch mit Wandern, Rudern und Bergsteigen war es diesmal nicht viel, denn ich mußte in Haus und Feld mitarbeiten und an den freien halben Tagen hatte ich zu nichts Lust, nicht einmal zum Lesen. Es empörte und ermüdete mich zu sehen, wie das gemeine tägliche Leben breitmäulig sein Recht forderte und alles fraß, was ich von Überfluß und Übermut mitgebracht hatte. Übrigens war mein Vater, als er die Geldfrage einmal vom Herzen hatte, nach seiner Art zwar rauh und kurz, aber nicht unfreundlich gegen mich, doch hatte ich keine Freude daran. Auch daß meine Schulbildung und meine Bücher ihm einen stillen, halbverächtlichen Respekt einflößten, störte mich und tat mir leid. Und dann dachte ich auch oft an Rösi und hatte wieder das böse, rechthaberische Gefühl meines bauernhaften Unvermögens, je in der „Welt“ einen sicheren und beweglichen Mann abzugeben. Ich besann mich sogar tagelang, ob es nicht besser sei dazubleiben und mein Latein und meine Hoffnungen im zähen, trüben Zwang des armseligen heimischen Lebens zu vergessen. Gequält und verdrossen ging ich umher und fand auch am Bett der kranken Mutter nicht Trost noch Ruhe. Das Bild jener Traumlaube mit der Homerbüste erschien höhnisch wieder und ich zerstörte es und goß allen Grimm und alle Feindseligkeit meines zerplagten Wesens darüber. Die Wochen wurden unausstehlich lang, als sollte ich an diese hoffnungslose Zeit des Ärgers und Zwiespalts meine ganze Jugend verlieren.
War ich erstaunt und empört gewesen, das Leben meine glückliche Träumerei so rasch und gründlich zerstören zu sehen, so kam ich nun in die Lage zu erstaunen, wie plötzlich und mächtig auch der jetzigen Quälerei ein Überwinder erwuchs. Das Leben hatte mir seine graue Werktagsseite gezeigt, nun trat es plötzlich mit seinen ewigen Tiefen vor mein befangenes Auge und belud meine Jugend mit einer schlichten, mächtigen Erfahrung.
Früh am Morgen eines heißen Sommertags litt ich im Bette Durst und stand auf, um in die Küche zu gehen, wo stets eine Kufe frischen Wassers stand. Dabei mußte ich durchs Schlafzimmer der Eltern gehen, wo mir das sonderbare Stöhnen der Mutter auffiel. Ich trat an ihr Bett, doch sah sie mich nicht und gab keine Antwort, sondern stöhnte trocken und angstvoll vor sich hin, zuckte mit den Lidern und war bläulich blaß im Gesicht. Dies erschreckte mich nicht sonderlich, obwohl mir etwas ängstlich wurde. Aber dann sah ich ihre beiden Hände auf den Laken liegen, still und wie schlafende Geschwister. An diesen Händen sah ich, daß meine Mutter im Sterben lag, denn sie waren schon so seltsam todmüde und willenlos, wie sie kein Lebender hat. Ich vergaß meinen Durst, kniete neben dem Lager nieder, legte der Kranken die Hand auf die Stirn und suchte ihren Blick. Da er mich traf, war er gut und ohne Qual, aber nahe am Erlöschen. Es fiel mir nicht ein, daß ich den Vater wecken müsse, der nebenan mit hartem Atmen schlief. So kniete ich denn nahezu zwei Stunden und sah meine Mutter den Tod erleiden. Sie litt ihn stille, ernst und tapfer, wie es ihrer Art zukam, und hat mir ein gutes Vorbild gegeben.
Das Stüblein war stille und füllte sich langsam mit der Helle des heraufsteigenden Morgens; Haus und Dorf lag schlafend und ich hatte Muße, in Gedanken die Seele eines Sterbenden zu begleiten, über Haus und Dorf und See und Schneegipfel hinweg in die kühle Freiheit eines reinen Frühmorgenhimmels hinein. Schmerz fühlte ich wenig, denn ich war voll Staunen und Ehrfurcht zusehen zu dürfen, wie ein großes Rätsel sich löste und wie der Ring eines Lebens sich mit leisem Erzittern schloß. Auch war die klaglose Tapferkeit der Scheidenden so erhaben, daß von ihrer herben Glorie ein kühlend klarer Strahl auch in meine Seele fiel. Daß der Vater daneben schlief, daß kein Priester da war, daß weder Sakrament noch Gebet die heimkehrende Seele heiligend begleitete, empfand ich nicht. Ich spürte nur einen schauernden Hauch der Ewigkeit durch die dämmernde Stube fluten und sich mit meinem Wesen vermischen.
Im letzten Augenblick, die Augen waren schon erloschen, küßte ich zum ersten mal in meinem Leben meiner Mutter kühlen, welken Mund. Dann überlief die fremde Kühle der Berührung mich mit plötzlichem Grausen, ich setzte mich auf den Rand des Bettes und fühlte, daß mir langsam und zögernd eine große Träne um die andere über Wangen, Kinn und Hände lief.
Bald darauf erwachte der Vater, sah mich dasitzen und rief mich schlaftrunken an, was es gäbe. Ich wollte ihm Antwort geben, konnte aber nichts sagen, sondern ging aus der Stube, kam wie im Traum in meine Kammer und zog langsam und unbewußt meine Kleider an. Bald erschien der Alte bei mir.
„Die Mutter ist tot,“ sagte er. „Hast du’s gewußt?“
Ich nickte.
„Warum hast du mich schlafen lassen? Und kein Priester ist dagewesen! Dich soll doch —“ er tat einen schweren Fluch.
Da tat irgend etwas in meinem Kopf mir weh, wie wenn eine Ader gesprungen wäre. Ich trat auf ihn zu und nahm ihn fest bei beiden Händen — er war an Stärke ein Knabe gegen mich, und sah ihm ins Gesicht. Sagen konnte ich nichts, aber er ward still und beklommen und als wir darauf beide zur Mutter hinüber gingen, ergriff auch ihn die Gewalt des Todes und machte sein Gesicht fremd und feierlich. Dann bückte er sich über die Tote und begann ganz leise und kindlich zu klagen, fast wie ein Vogel, in hohen schwachen Tönen. Ich ging weg und brachte den Nachbarn die Nachricht. Sie hörten mich an, stellten keine Fragen, sondern gaben mir die Hand und boten unsrem verwaisten Haushalt ihre Hilfe an. Einer lief den Weg ins Kloster, um einen Pater zu holen, und da ich heimkehrte, war schon eine Nachbarin in unsrem Stall und versorgte die Kuh.
Der Hochwürdige kam, und fast alle Frauen des Orts kamen, alles geschah pünktlich und richtig wie von selber, sogar der Sarg ward ohne unser Zutun besorgt und ich konnte zum erstenmal deutlich sehen, wie gut es in schweren Lagen ist, heimisch zu sein und einer kleinen, sicheren Gemeinschaft anzugehören. Am andern Tage hätte ich mir das vielleicht noch tiefer überlegen sollen
Als nämlich der Sarg gesegnet und versenkt und die wunderliche Schar wehmütig altmodischer, borstiger Cylinderhüte verschwunden war, auch der meines Alten, jeder in seine Schachtel und seinen Schrank, da wandelte meinen armen Vater eine Schwäche an. Er begann plötzlich sich selbst zu bemitleiden und hielt mir in sonderbaren, großenteils biblischen Redewendungen sein Elend vor, daß er nun, da sein Weib begraben sei, auch noch seinen Sohn verlieren und in die Fremde fahren sehen müsse. Es nahm kein Ende, ich hörte erschrocken zu und war beinahe bereit, ihm das Dableiben zu versprechen.
In diesem Augenblick, ich hatte schon zur Antwort angesetzt, geschah mir etwas Merkwürdiges. Es erschien mir plötzlich, in einer einzigen Sekunde, alles das, was ich von klein auf gedacht und erwünscht und sehnlich erhofft hatte, zusammengedrängt vor einem plötzlich aufgetanen innerlichen Auge. Ich sah große, schöne Arbeiten auf mich warten, zu lesende Bücher und zu schreibende Bücher. Ich hörte den Föhn gehen und sah ferne, selige Seeen und Ufer in südlichen Farben erglänzend liegen. Ich sah Menschen mit klugen, geistigen Gesichtern wandeln und schöne, feine Frauen, sah Straßen laufen und Pässe über Alpen führen und Eisenbahnen durch Länder hasten, alles zugleich und jedes doch für sich und deutlich, und hinter allem die unbegrenzte Ferne eines klaren Horizontes, von treibenden Flugwolken durchschnitten. Lernen, schaffen, schauen, wandern — die ganze Fülle des Lebens glänzte in flüchtigem Silberblick vor meinem Auge auf, und wieder wie in Knabenzeiten zitterte etwas in mir mit unbewußt mächtigem Zwang der großen Weite der Welt entgegen.
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