Читать книгу: «Die goldene Harfe»
Gerhart Hauptmann
Inhaltsverzeichnis
Dramatis Personae
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Vierte Szene
Fünfte Szene
Sechste Szene
Siebente Szene
Achte Szene
Neunte Szene
Zehnte Szene
Elfte Szene
Zwölfte Szene
Dreizehnte Szene
Vierzehnte Szene
Fünfzehnte Szene
Impressum
Die goldene Harfe
Dramatis Personae
Reichsgraf Waldemar, Erlaucht Reichsgräfin Anna Komtess Juliane Adelaide, beider Tochter Graf Friedrich-Alexis von Saltern, Graf Friedrich-Günther von Saltern, Zwillingsbrüder Gräfin Ludmilla, Freundin und Hausdame der Reichsgräfin Gherardini, Musikus, Organist der Schloßkirche Jutta, seine Tochter Sulzer, erster Diener im reichsgräflichen Schloß Zeit: drittes Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts. |
Erste Szene
Musiksälchen zu ebener Erde in einem alten reichsgräflichen Schloß. Türen ins Innere, Glastür und Fenster auf die Parkterrasse. Schöner Frühsommertag Mitte Juni.
Bereits vor Enthüllung der Szene hört man Harfenspiel: Beethovens »Ruinen von Athen«.
Komteß Juliane beendet das Spiel an einer goldenen Harfe. Jutta sitzt mit lässigen Händen am Pianoforte.
Komtess Juliane legt die Hände in den Schoß. Glaube mir, ich habe, seit ich denken kann, keine so große Freude gehabt. Wie mögen nur Papa und Mama meinen Wunsch erkannt haben: diese herrliche Erardsche Pedalharfe?! Ich könnte das Essen, Trinken und Schlafen vergessen über dem göttlichen Instrument.
Jutta. Sie leben ja schon meistens von nichts, Komteß, und die Nächte verbringen Sie auch mit Lesen.
Komtess Juliane. Maestro Gherardini, dein Vater, sagt, nicht nur in Irland und England, sondern auch im alten Germanien war die Harfe ein Heiligtum. Man belegte den mit den schwersten Strafen, der die Hand eines Harfenspielers verletzt hatte.
Jutta. Haben Sie gehört, Komteß Juliane, daß drüben zwei Gäste angekommen sind?
Komtess Juliane. Es ist mir, als ob ich ein Posthorn gehört hätte. Aber was hat das auch zu bedeuten, da ja doch täglich bei Papa und Mama Gäste aus und ein gehen. Der Adel ist aus den Städten auf die Schlösser zurückgekehrt, da gibt es ein ewiges Hin- und Herschwärmen. Du weißt ja, ich habe bei den Eltern meine Freiheit von diesem zeitraubenden Treiben längst durchgesetzt. – Aber zeige mir bitte nun endlich, wie man hier die Pedale behandelt.
Jutta. Geselligkeit, sagen Sie, ist zeitraubend. Doch darf man sich wohl, wie Sie es tun, so von aller Gesellschaft ausschließen?
Komtess Juliane. Schon gut – dein altes Lied, mein Kind.
Jutta. Eine Lieblichkeit, eine Schönheit, eine Anmut, in holder Jugend blühend wie Sie: ist es da nicht fast sündhaft, der Welt ihren Anteil daran hart und fühllos vorzuenthalten?
Komtess Juliane. Was ist denn geschehen? was ist dir passiert, Jutta? ich meine, daß du heut gar nicht recht bei der Sache bist.
Jutta. Das wüßte ich eigentlich selber nicht. Oder es müßte das Posthorn sein und der Postwagen, der vor der großen Freitreppe hielt, als ich vorüberging, und die beiden Kavaliere, die ausstiegen. Es könnte schon sein, daß zwei solche Gestalten das Herz eines armen Mädchens höher schlagen zu machen imstande sind.
Komtess Juliane. Dummchen, kommen wir trotzdem zur Sache. Schöne Männer sind bei unserem Landadel keine Seltenheit. – Sind das die Noten, die du bestellt hattest? Sie berührt ein Notenpaket.
Jutta. Cherubini, Gravon, Bach, Kurtenbergh, Rameau, Maestosi – was das Herz begehrt.
Komtess Juliane. Jutta, ich werde fortan nichts anderes tun – der Himmel möge es mir vergeben! – als mit dieser Harfe Abgötterei treiben: Haß ist eine neue Empfindung für mich, doch fürchte ich fast, sie könnte auftauchen, wenn jemand den Versuch machen würde, mich von meiner Harfe abzulenken.
Jutta. Hassen Sie mich nur nicht, meine angebetete süße Komteß, wenn ich, bevor wir unsere Übungen gewissenhaft fortsetzen, nur diese Frage noch an Sie richte: Haben Sie eine Vermutung, wer diese beiden zum Verlieben schönen Männer sein könnten?
Komtess Juliane legt hilflos die Hände in den Schoß. Lauf hin und frage, frage, wenn du es wissen willst. Lauf, und dann komm gesammelt wieder.
Jutta. Ich möchte es wirklich tun, Komteß. Wenn Ihr Auge die beiden Herren auch nur gestreift hätte, Sie wären ebenso außer dem Häuschen wie ich. So möchte ich mir Ihren Bruder, den Grafen Heinz-Herbert, vorstellen.
Komtess Juliane. Höre: versuche nur nie, dir vorzustellen, was mir dereinst der Inbegriff allen Lichtes und des ewigen Frühlings gewesen ist. Seine Bilder sind nur des Schattens Schatten.
Jutta. Sie widmen sich in rührender Andacht dem Andenken Ihres Bruders, Komteß: soll man sich aber deshalb für blind erklären, wenn man einmal die Sonne gesehen hat?
Komtess Juliane. Heinz hat mich auf seinen Knien gewiegt. Er ist mir alles in allem gewesen – du weißt ja, wie Papa und Mama von tausend anderen Sorgen beansprucht sind.
Jutta. Mag sein ... doch kann ihn nicht Träne noch Trauer zurückrufen. Verharschte Wunden immer wieder zum Bluten bringen ist vielleicht kein Tun, das Gott gefällig ist.
Komtess Juliane. Meine kleine kluge Freundin Jutta, die fast stündlich um mich ist, kennt mich, wie es scheint, trotzdem nicht.
Jutta. Sie sind sehr fromm. Mein Vater sagt, es sei keine echte Frömmigkeit, die traurig macht und gegen die Freuden der Welt verschließt, und zwar, da Gott selbst ganz Freude wäre.
Komtess Juliane. Ich habe mich vor der Welt nicht verschlossen, sondern nur vor der mir fremden Welt. Ich bin heiter und keineswegs traurig, Jutta, wobei mir allerdings das Erdenleben nur ein Tor zum höchsten Ziele ist. Ich wünsche mir nicht einmal den Bruder zurück, der den Heldentod auf dem Schlachtfeld gefunden hat: es kann kein schöneres Ende geben. Und wenn er mir durch die Pforte des Ruhmes ins Jenseits vorangegangen ist: einst werd' ich ihm sicher dorthin nachfolgen. – Heben wir also die Unterrichtsstunde auf, wenn du heute dazu nicht in der rechten Stimmung bist.
Jutta. Erlaucht der Herr Reichsgraf sind auf der Terrasse, ich glaube, Komteß, auf dem Wege hierher.
Komtess Juliane. Papa kommt sicher die Harfe betrachten, die er noch nicht gesehen hat.
Reichsgraf Waldemar tritt ein.
Reichsgraf Waldemar. Weißt du, wer da ist, mein gutes Kind?
Komtess Juliane. Nein. Jutta sagt, die Postkutsche habe zwei Herren gebracht, allerdings.
Reichsgraf Waldemar. Sie hat recht gesehn. Und wer sind wohl die Herren?
Komtess Juliane. Du fragst mich zuviel. Ich wüßte nicht, wann sich mein Gedächtnis mit zwei besonderen Kavalieren beschäftigt hätte.
Reichsgraf Waldemar. O doch, Juliane, sinne nach.
Komtess Juliane. Meinst du, daß ich diesen beiden irgendwo schon begegnet bin? Dann müßte das wohl recht weit zurückliegen.
Reichsgraf Waldemar. Du meinst, bevor dein eingezogenes Leben begann. Allerdings, du bist noch ein Kind gewesen. Und doch haben dir diese beiden Jünglinge damals den tiefsten Eindruck gemacht. Du hast bitterlich um sie geweint und geklagt, Juliane: du mußtest noch einmal aus dem Bett genommen und zu deiner Mutter gebracht werden.
Komtess Juliane wird bleich, faßt nach dem Herzen. Dann können es nur die beiden Grafen von Saltern gewesen sein, bevor sie zusammen mit Heinz-Herbert ins Feld zogen.
Reichsgraf Waldemar. Ja, ebendie. Zwei schöne sporenklirrende Jünglinge, kühn wie dein Bruder und todgeweiht. Sie waren Lützows Freischar verschworen.
Komtess Juliane. Friedrich-Alexis! Friedrich-Günther! und Bruder Heinz!
Reichsgraf Waldemar. Du kannst dir denken, daß Mama glücklich ist.
Komtess Juliane. Und mich, Papa, macht dieser Besuch, der mich vollkommen überrascht, fassungslos. Irgendwie waren die beiden für mich nur, wie Heinz-Herbert, als längst Dahingeschiedene vorhanden.
Reichsgraf Waldemar. Du wirst dich sogleich überzeugen, wie sprühend heiter, wie sprühend lebendig sie sind.
Komtess Juliane. Erst muß ich mich sammeln. Ihr müßt mir Zeit lassen. Nämlich, Papa, – sie geht unruhig auf und ab – gerade weil du sagst, daß sie sprühend lebendig sind, empfinde ich den Verlust Heinz-Herberts, als ob du erst eben die Nachricht davon gebracht hättest.
Reichsgraf Waldemar. Ich wollte dir ganz gewiß einen Schmerz nicht zufügen. Im Gegenteil wollte ich dich erfreuen, denn die beiden Freunde unseres geliebten Toten sind wirklich die allererfreulichste Gegenwart. Du wirst dich sammeln, du wirst dich ermannen – es tut mir unendlich leid, wenn ich vielleicht ein wenig unüberlegt in das Heiligtum deiner still versponnenen Welt eingedrungen bin.
Komtess Juliane, wie vorher. Sieben Jahre und mehr sind durch deine Worte hinweggenommen. Ich sehe vor mir drei heiter lachende, sporenklirrende Jünglinge und weiß zugleich, daß sie Opfer sind, weiß, sie reiten davon, in die Schlacht, in den Tod. Und nun – Heinz-Herbert hebt mich zuerst empor – ich schluchze und weine unter glühenden Küssen. Der zweite, der dritte tut ebenso, und ich weine und schluchze am Halse des einen, am Halse des andern, wie ich am Halse des Bruders geschluchzt habe. Und dann sind sie fort und bleiben fort und – »Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen«, singt ein Gärtner, der unter meinem Fenster Rosen okuliert ...
Reichsgraf Waldemar nimmt sie an sich, streichelt sie. Sei ruhig, beruhige dich, mein Kind: ich werde dich vorderhand entschuldigen. Er küßt sie auf die Stirn und geht ab. Komteß Juliane erliegt fassungslosem Weinen.
Jutta, indem sie zu ihr fliegt. Es ist eine heilsame Krise, Komteß. Glauben Sie mir, die Wiederkehr dieser beiden Brüder ... ich ahne, wieviel sie für Ihr Gemüt bedeuten wird. Hat nicht Ihr Bruder, haben nicht diese Männer kühn dem Tod ins Gesicht gesehn? – Tun Sie das gleiche mit dem Leben!
Komtess Juliane. Kleine Jutta, ich fürchte mich ...
Zweite Szene
Ein Saal im gleichen Schloß. Zweiflügelige, weitgeöffnete Glastüren verbinden mit einer Terrasse. Bemooste Sandsteinplastiken, Barockstil, schmücken die Balustrade. Dahinter die Baumwelt des alten Parks.
An einem Pianoforte sitzt Gherardini. Ihm zur Seite steht Graf Friedrich-Alexis. Reichsgräfin Anna lehnt in einem Sessel am Teetisch. Graf Friedrich-Günther hat in formeller Art in ihrer Nähe Platz genommen. Gräfin Ludmilla besorgt den Teetisch. Sulzer dienstbereit im Hintergrund.
Graf Friedrich-Alexis, von Gherardini auf dem Pianoforte begleitet, singt mit schönem Bariton das Lied.
Du Schwert an meiner Linken,
was soll dein heitres Blinken?
Reichsgräfin Anna, nach Beendigung des Vortrags. Sie nennen eine wirklich herrliche Stimme Ihr eigen, teurer Graf.
Gherardini. Und diese Schule und Verve zugleich! Nur der Freiheitskämpfer von einst kann diese Körnerschen Schlachtengesänge so vortragen.
Reichsgräfin Anna, indem sie Tee schlürft. Ist nicht der arme Dichter auch gefallen?
Graf Friedrich-Günther. Bei einem Dorfe unweit Gadebusch, und wahrscheinlich durch eine deutsche Kugel.
Reichsgräfin Anna. Armes Deutschland – nicht wahr, meine liebe Ludmilla? –, wie zersplittert, wie zerrissen, wie zerfallen es doch noch immer ist! Wofür haben wir unsre Kinder geopfert, unsre Söhne dahingegeben, diesen korsischen Usurpator verjagt, wenn Bruderkriege Deutscher gegen Deutsche noch immer drohen, noch immer möglich sind?! – Wann sahen Sie Heinz-Herbert zum letztenmal?
Graf Friedrich-Günther. Neben mir, mit gezücktem Säbel, zu Pferde. Es war in. der gleichen Gegend, bei Gadebusch. Dann verlor ich ihn aus den Augen.
Gherardini rezitiert pathetisch.
Vater, ich rufe dich!
Brüllend umwölkt mich der Dampf der Geschütze ...
Reichsgräfin Anna. Können Sie mir sagen, liebe Gräfin, wo der Reichsgraf bleibt?
Gräfin Ludmilla. Ich glaube, Seine Erlaucht wollten Komteß Juliane persönlich von dem Besuch unterrichten, der gekommen ist.
Graf Friedrich-Alexis, mit Frische. Wir sind Philosophen, mein Bruder und ich. Wir haben einander das Wort gegeben, uns dem Leben mit entschlossenem, ja mit heiterem Mut zu stellen, wie und wo es immer ist. So trauern wir auch nicht um Kameraden, die dem Leben den Zoll des Todes gezahlt haben. Aber wir leben mit ihnen in der Erinnerung. Wir wollen Ihnen erzählen, Erlaucht, und immer wieder Ihnen erzählen, wie viele frohe und glückliche Stunden wir mit Heinz-Herbert verbracht haben. Damit leisten wir seiner Mutter, der Mutter eines Helden, und diesem selbst am besten den Zoll der Dankbarkeit.
Graf Friedrich-Günther. Wir sind drei Jahre fern von der Heimat gewesen: seit wir wieder deutschen Boden unter den Füßen haben, ist unser Kamerad mehr als sonst um uns. Als die Extrapost uns durch das badische Ländchen trug, in der Ferne zur Linken das Vogesenblau, unter uns die Rheinebene, der Frühling und diese unendlichen Wiesen, darüber das weiße Gewölk der Obstblüte, da fühlte ich, fühlten wir: jeder Grashalm spricht deutsch, jeder Grashalm ist eine deutsche Zunge! Und da spürten wir wieder doppelt, was die große und bunte Welt da draußen vielleicht ein wenig übertäubt haben mochte: warum und wofür wir uns eingesetzt hatten.
Graf Friedrich-Alexis. Günther hat recht, es ist ein Mysterium. Die Seele ... es ist nicht wahr! sie ist nicht Luft: sie hat nicht nur Flügel, sie hat auch Wurzeln. Es klingt paradox, aber sie verlernt das Fliegen, Erlaucht, wenn sie ihre Wurzeln aus der Muttererde nimmt.
Gherardini, mit Klavierbegleitung, forsch. Und darum sangen wir damals, als man uns diese Muttererde geraubt hatte und wir sie zurückerobern wollten – singt.
Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!
ins Feld, in die Freiheit gezogen.
Reichsgraf Waldemar tritt ein und erhebt, das laute Wesen beschwichtigend, die Hand.
Reichsgräfin Anna, in die entstandene Stille. Was ist mit Juliane?
Reichsgraf Waldemar. Ich fand sie bei ihrer goldenen Harfe, die ja im Augenblick, wie du weißt, ihr ein und alles ist.
Reichsgräfin Anna. Ich dachte, Liebling, du würdest sie mitbringen.
Reichsgraf Waldemar. Ich bekenne, ich habe das gleiche gedacht. Er wendet sich zu den Grafen. Aber unsere Tochter, müssen Sie wissen, ist ein Wesen von unendlicher Güte zwar, doch zugleich von einer Empfindsamkeit, der nicht immer ganz leicht zu begegnen ist.
Graf Friedrich-Alexis. Mir scheint, wie bei allen echten Frauen.
Reichsgraf Waldemar. Sie haben meine Tochter als Kind in Erinnerung: sie hat damals im zwölften Jahre gestanden.
Graf Friedrich-Alexis. Sie war ein Engel Gottes, Erlaucht, ein kindlicher, süßer Engel Gottes, der uns drei verschworenen, sporenklirrenden Kämpen die Weihe für Schlacht und Tod gegeben hat. »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus ...«, und jeder von ihnen hat eine Locke von diesem Engel als Talisman auf der Brust getragen.
Reichsgräfin Anna. Hat Juliane davon gewußt?
Graf Friedrich-Alexis. Sicher hat sie davon gewußt. Wir haben getollt, gelacht und mit ihr gescherzt, als wir ihr die Locken abtrennten. Uns steht Juliane überhaupt als ein Wildfang in Erinnerung.
Reichsgraf Waldemar. Wenn Sie diese Juliane wiederzufinden hoffen, täuschen Sie sich. Gerade die Augenblicke, von denen Sie reden, verbunden mit dem Heldentod ihres geliebten Bruders, unseres Sohnes, haben einen ernsten, in sich gekehrten Menschen aus ihr gemacht, dem nahezukommen nur einem ganz intimen Kreise von Freunden möglich wird.
Gherardini. Und dennoch, Erlaucht, wer das Glück hat, wie ich, öfters um die gnädige Komteß zu sein, kann immer wieder erleben, daß das lebensfrohe Kind von einst zwar in die Hintergründe ihres Wesens zurückgewichen, jedoch Gott sei Dank noch vorhanden ist. Wenn der Himmel mir gnädig ist, so gelingt es mir manchmal, unter dem Musizieren ihr durch irgendeine trockene Bemerkung ein unwiderstehliches Lachen abzugewinnen, das wahrhaft erquickend ist.
Graf Friedrich-Günther. Wir werden also Komteß Juliane jetzt nicht sehen?
Reichsgraf Waldemar. Vielleicht zum Abend, vielleicht auch jetzt – ich weiß es nicht. Für jeden Fall möchte ich einen Wink geben: vermeiden wir alles, Lieder aus »Leier und Schwert« und dergleichen, was die Erinnerungen an jene Abschiedsstunden vor Jahren allzu lebendig machen kann. Juliane treibt einen Kult mit dem Andenken ihres Bruders.
Sulzer ist unauffällig an den Reichsgrafen herangetreten. Mit Verlaub, Erlaucht: die gnäd'ge Komteß.
Unbemerkt ist Komteß Juliane eingetreten. Einen Schritt von der Tür stehengeblieben, hält sie die Hände im Schoß gefaltet und blickt fest und mit geschlossenen Lippen jetzt den einen, jetzt den andern der beiden Zwillingsgrafen an. Jutta ist hinter Komteß Juliane hereingeschlüpft und macht sich neben Gherardini am Piano zu schaffen.
Reichsgraf Waldemar. Wie lieb, daß du doch noch gekommen bist.
Komtess Juliane. Dachtest du, ich wollte nicht kommen?
Reichsgräfin Anna. Setze dich zu mir, Juliane. Du wirst eine große Freude haben über den Besuch, der eingetroffen ist.
Die Zwillingsgrafen sind emporgeschnellt, stehen abwartend und betrachten Komteß Juliane mit funkelnden Augen.
Komtess Juliane, abwechselnd die Zwillinge betrachtend, wie abwesend. Eine Freude, sagst du – welcher Besuch?
Reichsgräfin Anna. Hier, trink eine Tasse Tee, Juliane – Ludmilla wird dir ein Täßchen einschenken. Nun, sieh dir die beiden schönen Kavaliere einmal genauer an: solltest du sie nicht wiedererkennen?
Komtess Juliane, wie erwachend, mit Bestimmtheit. Sie will auf den Grafen Friedrich-Günther zugehen, stockt, wendet sich dann Graf Friedrich-Alexis zu und gibt ihm die Hand. Graf Alexis, gewiß. Sie blickt ihm ins Auge, macht sich dann frei, geht zu Graf Friedrich-Günther, ihm ebenfalls die Hand reichend. Und das ist Graf Günther.
Reichsgräfin Anna. Lohnt es nun oder nicht, Juliane? ich meine die kleine Unterbrechung in den Arpeggien deiner goldenen Harfe, Kind.
Komtess Juliane, sanft. Wie hätte ich das zu verstehen, maman?
Reichsgraf Waldemar. Juliane, die Herren haben eine Reise beinahe rings um die Erde hinter sich. Sie verstehen wunderbar zu erzählen: Kopenhagen, Plymouth, Teneriffa, Brasilien, Chile, Kamtschatka, die Osterinsel und so fort und so fort. Wir werden diese seltenen Zugvögel so lange bei uns auf Schloß Ulmenweiler festhalten, bis uns zumute sein wird, als hätten wir selbst die Reise gemacht.
Graf Friedrich-Günther. Ja, ja, es ist seltsam genug, Komteß, nach so vielen Erlebnissen fremder Zonen wieder hier und vor Ihnen zu stehn.
Graf Friedrich-Alexis. Wir fanden auf einem aus weißem Alabaster errichteten Säulentempel in Indien, der von ummauerten künstlichen Gärten eingeschlossen war, die Worte leuchten: »Schließ aus den rauhen Odem der Wirklichkeit, und nur dem Duft der Träume gib Dach und Fach!« Man braucht nicht nach Indien gehen, um diesen schönen Imperativ verwirklicht zu finden. Unsere alten verwunschenen Schlösser und Parke mit Weihern, Schwänen, Äolsharfen und Einsiedeleien sind Beweis dafür.
Reichsgraf Waldemar. Man sollte meinen, Sie, und nicht der Bruder, seien der Dichter-Graf, während Sie doch, wie ich weiß, in der großen Welt als Musik-Graf geführt werden.
Graf Friedrich-Alexis. Sind wohl Musik und Poesie zu trennen, Erlaucht?
Reichsgraf Waldemar. Sie haben recht: sie sind nicht zu trennen. Ebensowenig wie die beiden Zwillinge Alexis und Günther zu trennen sind.
Gherardini. Kastor und Pollux! – Wie Kastor und Pollux, die eigeborenen Kinder der Leda und des Zeus, zu sein ... nein, geradezu Kastor und Pollux zu sein: dieser herrliche Ruf geht nun einmal den beiden berühmten Grafen voraus.
Komtess Juliane hatte ihre Hände ineinandergelegt, sie sozusagen nach unten gerungen und geschlossenen Mundes mit sich gekämpft, ob sie einen gewissen Gedanken aussprechen soll oder nicht. So beginnt sie mit Überwindung. Wir haben sogar einen ähnlichen Tempel wie den von Graf Friedrich-Alexis in fernster Ferne angetroffenen hier mitten im Park.
Graf Friedrich-Alexis. So? der war aber früher nicht vorhanden.
Komtess Juliane. Noch nicht, Graf Alexis, damals nicht. – Und es schweben um ihn, wenn auch ungeschrieben, genau diese Worte.
Graf Friedrich-Alexis. »Schließ aus den rauhen Odem der Wirklichkeit ...«?
Komtess Juliane, den Kopf langsam neigend, zur Bestätigung. »... und nur dem Duft der Träume gib Dach und Fach!«
Reichsgräfin Anna. Sie denkt wohl an ihre goldene Harfe und die musikalische Welt der Träumereien, der sie so ergeben ist.
Gherardini. Worauf die Komteß mit ihren Worten hinauswill, Erlaucht, ist, wenn ich sie recht verstehe, nicht zweifelhaft.
Komtess Juliane. Ich hoffe, nein. Sogar bin ich gewiß, man wird mir beipflichten, wenn ich anrege, ob wir nicht dort an jenem geheiligten Ort, eh wir irgend anderes zu beginnen uns entschließen, frischgebrochene Eichenzweige darbringen.
Reichsgraf Waldemar, zur Reichsgräfin. Unsere Tochter meint Heinz-Herberts Grabtempel.
Graf Friedrich-Günther. Komteß Adelaide erfüllt sogleich den Wunsch, den wir, ich möchte sagen, vor allen anderen mit uns getragen haben, solange wir wieder auf deutschem Boden sind. Das war mit der Grund: wir mußten hierherkommen. Denn ich glaube und meine, es gibt Berührungen, ähnlich einem Wiedersehen: am Grabe über das Grab hinaus.
Komtess Juliane. Wie kommt das – Sie nennen mich Adelaide?
Graf Friedrich-Günther. Hat Sie Heinz-Herbert nicht so genannt?
Komtess Juliane. Es ist in der Tat mein zweiter Name.
Reichsgraf Waldemar legt seinen Arm sanft um Juliane. So laßt uns die kleine Wallfahrt antreten.
Komtess Juliane. Verzeih, Papa, diesmal hatte ich einen besonderen Gedanken – ist's eine Geisterstimme, die es mir zuflüstert? –, ich möchte Arm in Arm mit den liebsten Freunden Heinz-Herberts vor ihn hintreten.
Gherardini improvisiert während des Folgenden eine leise Musik. Komteß Juliane nimmt den Arm Graf Friedrich-Günthers, auf dem ihr Auge bei dessen letzten Worten mit besonderer Innigkeit ruhte, fügt dann ihre freie Hand leise auch in Graf Friedrich-Alexis' Arm. Und so gehen die drei, gefolgt vom Reichsgrafen Waldemar, über die Terrasse ab.
Reichsgraf Waldemar, noch sichtbar, macht seiner Gemahlin Zeichen der Beruhigung. Es ist gut so, Anna, wenn ihr Gemüt sich gleich zum Anfang entlastet: sie wird vielleicht um so eher befreit werden.
Reichsgräfin Anna, Gherardini, Gräfin Ludmilla, Jutta und der Diener Sulzer sind zurückgeblieben.
Gherardini steigert sein Spiel vom Lyrischen ins Dramatische, vom Piano ins Forte und bricht plötzlich ab. Seinen musikalisch-männlichen Aufstieg gleichsam in Worten fortsetzend, rezitiert er.
Beglückt, wen dieses Ports Umschirmung birgt,
wo der Orkane Wüten ewig schweigt.
Reichsgräfin Anna. Es ist ein gar nicht so leichter Fall mit unserem Kinde, lieber Meister.
Gherardini. Die Ankunft gerade dieser beiden Menschen mußte naturgemäß in das freilich etwas labile Gemütsleben der Komteß tief eingreifen. Dagegen sind es nun wieder zwei junge Männer und Kavaliere von einem Format, wie es selten zu finden ist. Da Seine Erlaucht sie nun ganz gewiß eine Weile bei uns festhalten werden, wird von ihrer sieghaft glanzvollen Männlichkeit und Ritterlichkeit vielleicht Ausschlaggebendes für die Komteß zu erwarten sein.
Reichsgräfin Anna, zu Jutta. Warum kam die Komteß nicht gleich, liebes Mädchen?
Jutta. Die Ankunft der Grafen hatte sie ganz außer Fassung gebracht. Erst traute sie sich nicht zu, dem Besuch mit Ruhe entgegenzutreten, – leiser – dann hat sie gebetet in der Kapelle. Als sie wiederkam, schien sie entschlossen und frei, und alle Befangenheit war verschwunden.
Reichsgräfin Anna. Eine goldlautre Natur, eine schöne Seele, eine Heilige fast, aber ein schwieriges Kind.
Gherardini. Mit gnädiger Erlaubnis, Erlaucht: mir scheint, diese Zwillinge, diese Enakskinder, haben hier eine Mission.
Reichsgräfin Anna. Wirklich, Meister? Und was für eine?
Gherardini. Ich weiß, ich habe den Freibrief der gnädigen Herrschaft; meiner natürlichen Schwäche gemäß offenherzig zu sein. Das Wasser in unseren Weihern steht still, es hat kaum Zuflüsse. Es spiegelt den Park mit schwarzen Spiegeln und trägt zur Not einmal einen geisterhaften schwarzen oder weißen Schwan. Es birgt stumme Goldfische, stumme Karpfen unter ebenso stummen Seerosen. Schließlich werden wir alle noch selber zu Seerosen, – lustig – eia popeia, eia popeia ... Aber fort mit dem Eia popeia! Die Zwillinge werden die Mäntel schütteln und Sturmwind in die Parkbäume bringen. Sie werden uns das Drama der Kontinente, den Lärm der Weltstädte auf den Tisch schütten. Man soll keine Asphodelosblumen züchten unter der Sonne! Dieses Schloß, es ist in Musik getaucht. Musik ist gut, aber ein Ersatz für alles andere ist sie nicht. Gewiß, ich bin Musikus durch und durch, aber nur der Starke soll musizieren, der mit beiden Füßen fest und gesund auf der Erde steht. Frische Luft tut uns not! Er küßt die Hand der Reichsgräfin Anna. Damit Gott befohlen, Erlaucht! Er geht ab.
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