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Gerhard Wettig

Gorbatschow Reformpolitik und Warschauer Pakt

Kriegsfolgenforschung

Wissenschaftliche Veröffentlichungen des

Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs Begründet von Stefan Karner

Herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx

Sonderband 25

Advisory Board der Wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung

Vorsitz Stefan Karner

Jörg Baberowski, Humboldt-Universität, Berlin

Beáta Katrebová Blehová, Institut für das Gedächtnis der Nation, Bratislava

Csaba Békés, Ungarische Akademie der Wissenschaften, Budapest

Günter Bischof, University of New Orleans

Stefan Creuzberger, Universität Rostock

Thomas Wegener Friis, Süddänische Universität, Odense

Marcus Gräser, Johannes Kepler Universität Linz

Andreas Hilger, Deutsches Historisches Institut Moskau

Kerstin Jobst, Universität Wien

Rainer Karlsch, Berlin

Mark Kramer, Harvard University

Hannes Leidinger, Universität Wien, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

Peter Lieb, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Ulrich Mählert, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin

Horst Möller, München

Verena Moritz, Universität Wien

Bogdan Musial, Universität Warschau

Ol’ga Pavlenko, Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, Moskau

Dieter Pohl, Universität Klagenfurt

Pavel Polian, Universität Freiburg

Peter Ruggenthaler, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung

Roman Sandgruber, Johannes Kepler Universität Linz

Erwin Schmidl, Landesverteidigungsakademie, Wien

Daniel Marc Segesser, Universität Bern

Ottmar Traşcã, Universität Cluj-Napoca

Stefan Troebst, Universität Leipzig

Oldřich Tůma, Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag

Alexander Vatlin, Moskauer Staatliche Universität

Gerhard Wettig, Kommen/Deutschland

Vladislav Zubok, London School of Economics

Gerhard Wettig

Gorbatschow

Reformpolitik und Warschauer Pakt 1985–1991


Inhalt

Einleitung

Entwicklungen vor Gorbatschow

Fragestellung

Entwicklung der Politik Gorbatschows

Grundlegende Entscheidung für kooperative Sicherheit mit dem Gegner

Revision der offensiven Militärdoktrin

Verzicht auf konventionell-militärische Überlegenheit

Abschied von der „Brežnev-Doktrin“

Beginnender Systemwandel in der UdSSR

Veränderte Prioritäten in Deutschland

Politische Wende in Polen

Politische Entwicklung in Ungarn

Öffnung der ungarischen Grenze für Flüchtlinge aus der DDR

Streit unter den Warschauer-Pakt-Staaten im Herbst 1989

Entscheidung in der DDR

Öffnung der Berliner Mauer

Auseinandersetzung über die Wiedervereinigung Deutschlands

Gorbatschows Bemühen um eine sicherheitspolitische Alternative

Auseinandersetzung um die NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands

Zerfall des sozialistischen Lagers

Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostmitteleuropa

Auflösung des Warschauer Pakts

Rückblick und Ausblick

Vorgeschichte der Gorbatschow-Zeit

Gorbatschow, die NATO und der Warschauer Pakt

Gorbatschow und die Systemfrage

Auswirkungen

Literaturverzeichnis

Dokumente

Erinnerungen

Darstellungen

Personenregister

Ortsregister

Einleitung

Forschungsstand und ausgewählte Publikationen

Die Folgen der Reformen für den Warschauer Pakt sind im Gesamtzusammenhang und im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte im ehemaligen Ostblock noch nicht thematisiert worden. Untersuchungen liegen nur über Gorbatschows generelles politisches Wirken, sein außen- und sicherheitspolitisches Vorgehen in bestimmten Hinsichten, die sukzessive Auflösung des sowjetischen Imperiums, das Ende des Kalten Kriegs und einzelne Vorgänge, die für das östliche Bündnis von großer, zuletzt fataler Bedeutung waren, vor. Außer Dokumentenveröffentlichungen zu Gorbatschows Politik und den ihr zugrundeliegenden Motiven sind vor allem auf Primärquellen gestützte Darstellungen seiner Entscheidungen wichtig.

Das gilt besonders für die Monographien von Stephen Kotkin. In seinen Ausführungen über die „Implosion des kommunistischen Establishments“, den mit der Auflösung des Warschauer Pakts verbundenen Zusammenbruch der UdSSR, führt er aus, dass die Reformen in der UdSSR einer auf den Machtapparaten Partei, Staatssicherheit und Militär beruhenden Anti-Zivilgesellschaft einen Umsturz von oben darstellten, den zusammen mit Gorbatschow Teile der kommunistischen Herrschaftskreise in Gang setzten, während die Opposition von unten schwach gewesen sei und sich weder als Gesellschaft konstituiert noch als politische Kraft organisiert habe. Mangels handlungsfähiger Organe habe sie keinen bestimmenden Einfluss ausgeübt, sei inkompetent gewesen und habe damit Anteil am Scheitern der Reformen. Mithin liege diesem Zusammenbruch nicht nur Gorbatschows Verzicht auf den Gebrauch von Gewalt zugrunde.1 Diese Ansicht vertreten auch Gerhard und Nadja Simon in ihrem Buch über den „Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums“. Sie machen weiterhin geltend, die auf Enttäuschung beruhende Abkehr der Bevölkerung vom Sozialismus habe als Bewusstseinswandel weithin den Boden für Gorbatschow bereitet.2

Kotkin erörtert, wieso die Weltkatastrophe, das Armageddon der biblischen Apokalypse, nicht eingetreten ist, und kommt zu dem Schluss, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der schon zwei Jahrzehnte vorher begonnen hatte und bis zu Putins Machtübernahme weiterging, eine Lage entstanden war, die es nicht zum Krieg zwischen den Blöcken kommen ließ. Aufgrund der Lähmung der Führung im Kreml durch innere Konflikte konnten die spannungsträchtigen, auf Gewalt beruhenden sowjetischen Positionen im Osten Europas beseitigt werden, ohne dass es zum Krieg kam. Der herrschende Parteiapparat habe sich fortlaufend selbst zerlegt. Die Reformen, die Gorbatschow in Gang setzte, seien wegen Halbherzigkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Weigerung, eine Marktwirtschaft zuzulassen, habe zum ökonomischen Ruin geführt. Seine Innenpolitik sei in jeder Hinsicht inkonsequent gewesen. Die eingeführten parlamentarischen Gremien hätten keine klaren Funktionen erhalten; seiner Präsidentschaft habe der administrative Unterbau gefehlt; die Justiz sei unentwickelt und oft auch abhängig geblieben; die Strukturen des überentwickelten Sicherheitsapparats hätten ohne Änderung überdauert. Insgesamt seien Liberalisierung und Demokratisierung Fremdkörper in den alten Institutionen gewesen. In dem Maße, wie die „ideologische Selbstzerstörung“ des Sowjetregimes fortgeschritten sei, habe sich völlige Rechtlosigkeit verbreitet. Demgemäß, so stellt Kotkin fest, sei das Staatseigentum Anfang der 1990er-Jahre zur Beute privaten Raubes geworden. Das abschließende Fazit lautet, dass Gorbatschow zwar selbst seinem humanitären Ideal treu blieb, aber mit dem Versuch scheiterte, Staat und Gesellschaft daran auszurichten.3

Die Gorbatschow-Biographie von William Taubman stützt sich auf besonders umfangreiche sowjetische wie amerikanische Quellen und zeichnet auf dieser Grundlage ein überzeugendes Bild der politischen Persönlichkeit.4 Kristina Spohr rückt in ihrer Darstellung der Wende ab 1989 die Charaktere und Einstellungen in den Mittelpunkt.5 Die Vorgänge in der UdSSR und die damit verknüpften internationalen Beziehungen im Umbruchjahr 1989 wurden von Helmut Altrichter umfassend behandelt.6 Die exzellente Darstellung der Interaktion mit dem Kreml in der Ära Bush von Robert Hutchings beruht zum einen auf der persönlichen Kenntnis vieler Washingtoner und Moskauer Interna, die er als Sowjetunion-Experte im National Security Council erhielt, und zum anderen auf den umfangreichen Unterlagen, die er bei seinen folgenden Recherchen einsehen konnte.7 Jeffrey Engel zeigt aufgrund amerikanischer und sowjetischer Quellen, wie US-Präsident Bush und Gorbatschow 1989/90 zusammenwirkten.8 Mark Kramer stützt seine sehr substanziellen, weit gespannten Ausführungen über den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der sowjetischen Macht in Osteuropa unter anderem auf Materialien des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte in Moskau (RGANI).9

Die Entwicklungen in den einzelnen „Bruderstaaten“ der UdSSR werden in den Sammelbänden von Wolfgang Mueller, Michael Gehler und Arnold Suppan10 sowie Vladimir Tismăneanu11 dargestellt. Dieser hat auch zusammen mit Bogdan C. Iakob einen weiteren Band mit Beiträgen herausgegeben, die das osteuropäische Geschehen in den historischen Kontext stellen.12 Die Politik Gorbatschows bezüglich der – für das Schicksal des östlichen Bündnisses entscheidenden – Vereinigung Deutschlands und ihrer Folgewirkungen 1989/90 behandeln aufgrund westlicher, vor allem bundesdeutscher Quellen die Veröffentlichungen von Rafael Biermann,13 Andreas Rödder,14 Karl-Rudolf Korte,15 Hanns Jürgen Küsters,16 Werner Weidenfeld17 und Gareth Dale.18 Als Anhänger der Solidarność in Polen hat Artur Hajnicz herausgearbeitet, wie wichtig der Umschwung in seinem Land für die Herstellung der deutschen Einheit war.19 Alexander von Plato, dem die Dokumente der Gorbatschow-Stiftung zur Verfügung standen, wirft dem Kremlchef eine falsche, nämlich den eigenen außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen zuwiderlaufende Ausrichtung vor. Insbesondere habe Gorbatschow, statt gegen alle Widerstände und Hindernisse auf der Schaffung eines die beiden Bündnisse ersetzenden kollektiven Sicherheitssystems zu bestehen, Deutschland der NATO überantwortet.20

Große Bedeutung kommt den veröffentlichten Dokumenten zu. Besonders hervorzuheben sind die zwei von Stefan Karner, Mark Kramer, Peter Ruggenthaler und Manfred Wilke edierten Bände mit internen sowjetischen Analysen während der Wende 1989 und im Kontext der deutschen Wiedervereinigung 1990.21 Die Zusammenhänge und Hintergründe der Außen- und Sicherheitspolitik Gorbatschows und ihre Auswirkungen auf den Warschauer Pakt sind auch das Thema der russischen Unterlagen, die Michail Prozumenščikov zusammen mit Irina Kazarina, Tatjana Kuz’mičeva und Peter Ruggenthaler über den politischen Wandel im Warschauer Pakt und dessen einzelnen Mitgliedsstaaten am „Epochenende“ 1989/90 herausgegeben hat.22

Von der Gorbatschow-Stiftung in Auszügen publizierte Aufzeichnungen von Anatolij Černjaev, Vadim Medvedev und Georgij Šachnazarov über Beratungen des Moskauer Politbüros geben Einblick in interne Entscheidungen zu wichtigen Fragen.23 Svetlana Savranskaya, Thomas Blanton und Vladislav Zubok haben in englischer Sprache einen Band mit sowjetischen und westlichen Dokumenten über das Ende des Kalten Krieges publiziert.24 Von Aleksandr Galkin und Anatolij Černjaev liegt als russischer Originaltext und in deutscher Übersetzung eine Sammlung sowjetischer Archivalien zu Gorbatschows Politik in der deutschen Frage von 1986 bis 1991 vor.25 Auf die Vereinigung Deutschlands 1989/90 beziehen sich eine Auswahl von Akten aus dem Bonner Bundeskanzleramt von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann,26 eine von Andreas Hilger edierte Sammlung von Unterlagen aus dem Auswärtigen Amt27 sowie ein Band, dessen aus den Außenministerien der Bundesrepublik und der DDR stammende Materialien von Horst Möller, Ilse Dorothee Pautsch, Gregor Schöllgen, Hermann Wentker und Andreas Wirsching ausgewählt wurden.28

Auf sowjetischer Seite haben, neben Gorbatschow29 selbst, seine Mitarbeiter Anatolij Černjaev30 und Georgij Šachnazarov31 sowie Außenminister Ėduard Ševardnadze32 und Stellvertreter Georgij Kornienko, zusammen mit Marschall Sergej Achromeev,33 ebenso wie der im Verlauf des Geschehens zunehmend oppositionell gestimmte Nikolaj Ryžkov34 Erinnerungen verfasst. Als Akteure der zweiten Reihe haben aufschlussreiche Rückblicke auf ihre Tätigkeit veröffentlicht: der KGB-Resident in Ost-Berlin, Ivan Kuz’min,35 der Leiter der Internationalen Abteilung beim ZK der KPdSU, Valentin Falin,36 die Botschafter in Bonn, Julij Kvicinskij,37 und Ost-Berlin, Vjačeslav Kočemasov38 und sein Stellvertreter, Igor’ Maksimyčev, der sich auch gemeinsam mit dem letzten SED-Regierungschef, Hans Modrow, geäußert hat.39 Wichtige Einblicke in die Entwicklung des Verhältnisses zur UdSSR bietet der Bericht des letzten Botschafters der DDR in Moskau, Gerd König.40 Wie sich Markus Wolf erinnert, versuchte er nach seinem Rücktritt als Leiter der DDR-Auslandsspionage 1986 vergeblich, über seine KGB-Kontakte Gorbatschow zur moralischen Unterstützung der innerparteilichen Fronde zu veranlassen, die Modrow statt Honecker an die Spitze stellen wollte.41

Auf westlicher Seite blicken als oberste Führungspersönlichkeiten Bundeskanzler Helmut Kohl42 und US-Präsident George H. W. Bush43 auf die Zeit der großen Wende im Verhältnis zur UdSSR zurück. Auch dessen politische Berater Philip Zelikow und Condoleezza Rice44 sowie Robert Blackwill,45 Außenminister James Baker46 und der amerikanische Botschafter in Bonn, Vernon Walters,47 haben Erinnerungen veröffentlicht. Weiterhin geäußert haben sich Kohls außenpolitischer Mitarbeiter Horst Teltschik48 und der in Moskau tätige Diplomat Joachim von Arnim, der zu ihm in einem kritischen Moment Verbindung aufnahm.49 Als britischer Botschafter beobachtete Rodric Braithwaite aufmerksam die Umwälzungen in der UdSSR und ihre Auswirkungen auf die internationalen Verhältnisse.50

Neben diesen und weiteren Veröffentlichungen, die im Publikationsverzeichnis aufgeführt werden, liegen dieser Untersuchung Dokumente aus folgenden Archiven zugrunde: aus dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte in Moskau (RGANI) und aus der Stiftung Archiv Parteien und Massenorganisationen [der DDR] im Bundesarchiv [Berlin] (SAPMO).

Entwicklungen vor Gorbatschow

Seit dem Ausbruch des Kalten Krieges stützte sich die UdSSR primär auf ihre Militärmacht, die darauf abzielte, Westeuropa im Kriegsfall mit der Perspektive eines raschen Vorstoßes bis zum Atlantik zu konfrontieren, ohne dass das eigene Gebiet dem Risiko der Einbeziehung in die Kampfhandlungen ausgesetzt wurde. Dieses Vorgehen sollte die Präsenz der US-Truppen in Europa beenden. Deshalb sah die Planung für den Fall eines Krieges, der nur als Angriff der „imperialistischen“ Mächte im Westen denkbar erschien, den sofortigen Beginn einer (Gegen-)Offensive vor. Als Stoßkeil standen in der DDR riesige Panzerverbände bereit. Die damit beabsichtigte Einschüchterung sollte die Gegenseite von dem Versuch abhalten, der Sowjetunion durch Ausnutzung bestehender Schwächen, etwa im wirtschaftlichen Bereich, eine Niederlage zuzufügen, sowie eine „Zügelung“ der Aggressivität herbeiführen, die dem „imperialistischen“ System des Westens prinzipiell zugeschrieben wurde. Als Führungsmacht des „sozialistischen Friedenslagers“ erklärte es die UdSSR zu ihrem Auftrag, die Gegenseite durch ein möglichst einseitiges Risiko an der Entfesselung eines Krieges zu hindern.51 Wie Chruschtschow formulierte, sollte die Geiselnahme Westeuropas kriegerische Akte der USA verhindern.52 Die NATO hatte für den Fall, dass ihre Verteidigung ins Wanken geraten sollte, deren Stabilisierung durch einen nuklearen Erstschlag vorgesehen, was den Kreml nicht abzusehende Probleme befürchten ließ. Zwar entzog 1963 Kennedys Entschluss, die „vorne stationierten“ Raketen aus der Türkei abzuziehen, der Maßnahme eine wichtige Grundlage,53 doch die Sorge in Moskau war damit nicht völlig ausgeräumt.

Mit der Stationierung der SS 20 (RS 10 „Pionier“) ab 1975/76 suchte die sowjetische Führung endlich ihr Ziel der unanfechtbaren militärischen Überlegenheit in Europa zu erreichen. Mit einer hinreichenden Anzahl dieser Raketen ließ sich die Verteidigung der NATO sofort ausschalten, ohne dass die – durch diese Kernwaffe von vornherein nicht bedrohten – USA Gelegenheit zum Eingreifen hatten.54 Das lief auf die Abkopplung Westeuropas von dem die atlantische Allianz konstituierenden Schutz der amerikanischen Macht und auf die Schaffung einer hoffnungslos unterlegenen Position gegenüber der Sowjetunion hinaus. Es war zwar nicht zu erwarten, dass man im Kreml Interesse an der Vernichtung und Verstrahlung des westlichen Kontinents hatte, doch ließ sich mutmaßlich mit Androhungen politischer Druck zur Erreichung von Machtzielen ausüben. Aus sowjetischer Perspektive ging es vermutlich vor allem darum, die schwache Position in Bezug auf die wirtschaftliche Produktivität, technische Innovation und soziale Attraktivität zu neutralisieren. Das hieß, der Westen sollte durch eine prekäre Situation zu Zurückhaltung und Entgegenkommen, also zur Unterstützung der UdSSR beim Bemühen um die Lösung ihrer Probleme, zumindest aber zum Verzicht auf die Ausnutzung seiner Überlegenheiten veranlasst werden. Die Grenze zwischen solchen Erwartungen und direkten Pressionen war fließend. Die westliche Seite sah sich daher auch bei dieser defensiven Interpretation der SS-20-Rüstung einer gravierenden Bedrohung ausgesetzt.

Der ungewöhnlich hohe Aufwand für das Militär belastete die UdSSR in extremem Ausmaß. Das wirkte sich auch auf die Beziehungen zu den Verbündeten aus. Diese hatten vielfach vor dem Hintergrund der Ost-West-Entspannung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern größere Aufmerksamkeit zugewandt, um mehr Zustimmung zu gewinnen. Die Kosten überstiegen jedoch die beschränkte Kraft der sozialistischen Wirtschaft. Als man sich daraufhin in Moskau um Hilfe bemühte, sah man sich dort dazu wegen eigener materieller Bedrängnis außerstande. Als Ausweg blieb den Partnern die Verstärkung der ökonomischen Zusammenarbeit mit dem Westen und – zumeist in weit größerem Umfang – die Aufnahme von Krediten bei dortigen Banken. Das politische Ergebnis war wechselseitige Frustration. Während die Verbündeten sich in ihren Nöten von ihrer Führungsmacht alleingelassen sahen, warf diese ihnen ständig vor, sich von der Gegenseite abhängig zu machen, was das östliche Bündnis untergrabe. Da die UdSSR aber keine Alternative bieten konnte, änderte sich daran nichts. Noch schwerer wog, dass die DDR als unverzichtbarer Teil des Warschauer Pakts55 nicht nur auf die hohen finanziellen Zuflüsse aus der Bundesrepublik angewiesen war, die sie aufgrund der Berlin-Vereinbarungen und weiterer Arrangements erhielt, sondern sich zudem noch so sehr im Westen verschuldete, dass sie Anfang der 1980er-Jahre insolvent geworden wäre, wenn ihr nicht Bonner Unterstützung aus der Patsche geholfen hätte. Auch Polen und Ungarn mussten sich vom Kreml ihre hohen Westkredite vorhalten lassen.

Gegenüber dem Westen führte die immer schwerer zu tragende Bürde der Militärausgaben dazu, dass die UdSSR in den Verhandlungen über die KSZE-Folgetreffen die „militärische Entspannung und Abrüstung“ in den Mittelpunkt zu rücken suchte, um angesichts des Abbaus angeblicher Überkapazitäten der NATO den Kostenanstieg auf der eigenen Seite bremsen zu können. Ab 1979/80 geriet die Sowjetunion durch die Finanzhilfen für die antiwestlichen Bewegungen in der Dritten Welt und für Fidel Castros Kuba sowie durch den Krieg in Afghanistan zusätzlich unter Druck. Deswegen sah man sich im Kreml außerstande, auf die Bedrohung des kommunistischen Regimes in Polen durch die Gewerkschaft Solidarność mit militärischer Intervention und der damit verbundenen Übernahme der vollen Verantwortung zu reagieren. Wiederholte Bekundungen der Bereitschaft dazu sollten Warschau zum Einsatz der eigenen Sicherheitskräfte bewegen. Als General Jaruzelski nach eineinhalb Jahren schließlich dazu bereit war, erzielte er trotz ausgebliebener sowjetischer Mithilfe Erfolg. Dennoch war die UdSSR die Last nicht völlig los: Es wurde nötig, das polnische Regime vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu retten. Im Kreml sah man sich aber je länger, desto weniger zu ausreichender Hilfe in der Lage. Jaruzelski blieb nichts anderes übrig, als im Westen, auch in den USA, finanzielle Unterstützung zu erbitten. Er sah sich daher genötigt, die Repression abzuschwächen und gefangengesetzte Solidarność-Aktivisten freizulassen.

Die Politiker im Kreml sahen mit Unwillen, dass die Verbündeten, von Rüstung und Raumfahrt abgesehen, der UdSSR im wirtschaftlichen und technischen Bereich keine Führungsrolle zubilligten. Sie bezogen zwar gerne die von ihr gelieferte Energie und viele Rohstoffe, doch wenn es um Industriegüter des zivilen Bedarfs ging, waren ihnen die Erzeugnisse aus dem Westen lieber. Diese Präferenz hatte Folgen, die weiter reichten als ein Imagedefizit und Mindereinnahmen beim Export. Es entstanden Lieferketten, mit denen Warschauer-Pakt-Staaten dem östlichen Wirtschaftsverbund RGW den Rücken kehrten und ihrerseits benötigte Produkte in westliche Länder ausführten. Käufe im Westen erhielten Vorrang; den dafür benötigten Devisen wurde ein vielfacher Wert dessen beigemessen, was östlichen Währungen zugestanden wurde. Als die UdSSR an der Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren wieder einmal Getreideimporte aus dem Westen benötigte, bezahlte sie mit Erdöllieferungen, weswegen die Kontingente der Verbündeten, insbesondere auch der DDR, eingeschränkt wurden. Das zog Spannungen nach sich: Die Führungsmacht begann, auf die Interessen der anderen Paktmitglieder weniger Rücksicht zu nehmen.

Die Entspannungspolitik, welche die Sowjetunion seit den späten 1960er-Jahren betrieb, schuf weitere Probleme. Es ließ sich nicht verhindern, dass außer der benötigten wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen auch Kontakt, Kommunikation und Informationskanäle über die Systemgrenze hinweg zunahmen. Das galt ganz besonders für das Verhältnis der DDR zur Bundesrepublik. Seit 1970–72 deren Moskauer Vertrag mit der UdSSR, die Regelung des Berlin-Problems und die Neugestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen Breschen in ihre „Abgrenzung“ geschlagen hatten, entwickelten sich enge Verflechtungen zwischen beiden Staaten. Das lag außer an ihrer nationalen Gemeinsamkeit, der die DDR mit der These der „sozialistischen Nation“ vergeblich die Wirkung zu nehmen suchte, an der finanziellen Bedürftigkeit des SED-Regimes. Dessen Chef, Erich Honecker, suchte die Bevölkerung durch Subventionen für Waren des täglichen Gebrauchs politisch zu gewinnen, verfügte aber, als der erwartete Produktivitätsanstieg ausblieb, nicht über die notwendigen Mittel und sah keine andere Möglichkeit als die Inanspruchnahme der materiellen Vorteile, die das neue Verhältnis zur Bundesrepublik bot, wofür er auf deren Verlangen nach „menschlichen Erleichterungen“ eingehen musste. Der stetig wachsende Aufwand seiner Konsumpolitik machte ihn, anders als zunächst gedacht, permanent von dem Geld aus Bonn abhängig. Er war ständig bemüht, den Zufluss durch ökonomische Kooperation und politisches Entgegenkommen zu mehren.

Zugleich jedoch achtete Honecker darauf, die Schleusen des Kontakts, der Kommunikation und der Migration, nicht zu weit zu öffnen. Dabei stützte er sich sowohl auf den fortlaufend ausgebauten Staatssicherheitsdienst, der seine Methoden verfeinerte, um sein Wirken nach außen hin nicht gar zu krass hervortreten zu lassen, als auch auf die bewaffnete, nach innen gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Grenze (mit der „Berliner Mauer“ als öffentlich sichtbarem Kernstück), mit der die DDR sich sowie die anderen Warschauer-Pakt-Staaten vor der Attraktivität des Westens schützte. Die nach innen gerichtete Abwehrfunktion der Grenze war für sie wegen familiärer und sonstiger Bindungen zwischen den Menschen auf beiden Seiten sogar besonders wichtig. Das galt umso mehr, als die Bundesrepublik ihre Staatsbürgerschaft den Ostdeutschen automatisch zuzubilligen bereit war und deswegen alle „Republikflüchtigen“ sofort aufnahm und ihnen alle erforderliche Unterstützung gewährte, was den Entschluss zur Übersiedlung sehr erleichterte. Auf das Verlangen, diesen Standpunkt aufzugeben, ging man in Bonn nicht ein, war doch der Wille, durch die Aufnahme speziell „innerdeutscher“ Beziehungen die Einheit der Nation im Zustand der Zweistaatlichkeit zu bewahren, ein wesentliches Motiv der „neuen Ostpolitik“.

Angesichts der Entspannung begannen viele KP-Funktionäre dem Systemgegensatz zum Westen weniger Gewicht beizumessen. Die Tatsache, dass die Sicherheit der Warschauer-Pakt-Staaten durch Übereinkünfte mit westlichen Vertragspartnern gefestigt wurde, rückte stärker ins Bewusstsein. Ein Symptom des Wandels war die Bereitschaft, Sicherheitsprobleme mit sozialdemokratischen Politikern zu erörtern, die man stets des Verrats am Sozialismus bezichtigt hatte. Hochrangige sowjetische Funktionäre beteiligten sich an der Independent Commission on Disarmament and Security des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und wirkten an deren Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ mit. Auf Anregung von Kadern an der DDR-Akademie der Wissenschaften kam es von Februar 1984 bis Juni 1989 zu einem „Dialog“ mit der Grundwertekommission der SPD über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Das Ergebnis waren eine bedeutsame politische wie persönliche Annäherung und ein darauf beruhender Bericht, der von Honecker unterzeichnet wurde, aber nur wenig Eingang in seine Vorstellungswelt fand.

Seit Anfang der 1980er-Jahre stand die UdSSR sogar auf militärischem Felde vor wachsenden Herausforderungen. US-Präsident Ronald Reagan drängte sie in der Dritten Welt zurück und leitete einen Rüstungswettlauf ein, den sie selbst mit größter, stark belastender Anstrengung nicht gewinnen konnte. Besonders gravierend war seine Entscheidung, die Kernwaffen der amerikanischen Truppen in Europa mit Neutronensprengköpfen zu bestücken, die den östlichen Panzerkeilen ihren Wert zu nehmen drohten und damit das Offensivkonzept infrage stellten.56 Geradezu Entsetzen rief im Kreml seine Strategic Defense Initiative hervor. Es war zwar zweifelhaft, ob das erklärte Ziel, durch weltraumgestützte Waffensysteme die USA vor allen Nuklearschlägen zu schützen, zu erreichen sei, doch war mit wehrtechnischen Innovationen zu rechnen, denen die UdSSR nichts entgegenzusetzen hatte. Zudem zeichnete sich im Westen die Entwicklung nicht-nuklearer Kampfmittel ab, die ebenso wirksam wie Kernwaffen waren und daher bei einem bewaffneten Konflikt ohne Verstrahlungssorgen sofort eingesetzt werden konnten. Vor diesem Hintergrund begannen sich die Militärs in Moskau darauf einzustellen, dass der vorgesehene Vorstoß bis zum Atlantik zunehmend illusorisch wurde.

Im Kreml setzte man alle Hoffnung darauf, dass der Druck der SS 20 auf Westeuropa einen sicherheitspolitischen Ausgleich herstellen würde. Nicht zuletzt deshalb erschien es nötig, der NATO die Durchführung ihres Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 unmöglich zu machen. Dieser sah vor, dass entweder die UdSSR ihr SS-20-Konzept aufgeben müsse, oder man mit einer „Nachrüstung“ reagieren werde. Im Blick darauf begannen die USA Mittelstreckenraketen für die Stationierung jenseits des Atlantiks, vor allem in der Bundesrepublik, zu entwickeln und zu produzieren. Diese waren dazu bestimmt, Ziele in weiten Gebieten der UdSSR zu treffen und damit die Bedrohung Westeuropas durch eine Gegenbedrohung der Sowjetunion zu neutralisieren. Die sowjetische Führung erwartete zuversichtlich, vor allem die – seit dem Krefelder Appell vom November 1980 sich formierenden – westdeutschen „Friedenskämpfer“ würden das verhindern.57 In der Tat erschien dies überaus wahrscheinlich angesichts der zunehmenden Massenproteste im ganzen Land, die den Eindruck allgemeiner Ablehnung der westlichen Raketen erweckten, und der unzähligen Widerstandsaktionen, die seit Sommer 1983 nahezu überall durchgeführt wurden.

Als dennoch in Bonn am 24. November die Stationierung beschlossen wurde, suchten dies „Friedenskämpfer“ aktiv vor allem dadurch zu verhindern, dass Großaufgebote von Protestierenden den Zugang zu den Aufstellungsorten und zum Verteidigungsministerium blockierten. Das veranlasste die Regierung jedoch nicht zum Nachgeben, sondern zum Einsatz von Hubschraubern zum Transport von Personen und Raketen. Das bot der Friedensbewegung Paroli – und kurz danach zerbrach ihre Einheit. Damit scheiterte sie endgültig. Der Kreml brauchte viele Wochen, bis er sich auf die neue Lage einstellte. Nach einer Phase des Schwankens fasste er schließlich den Entschluss, die Bundesrepublik mit heftiger Ablehnung zu bestrafen. Die DDR beteiligte sich nicht und rechtfertigte das mit der Parole einer „Koalition der Vernunft“. Dem lag zugrunde, dass die finanziellen Bedürfnisse Honeckers durch die vertraglich festgelegten Zahlungen nicht befriedigt wurden und dass er sich von einem Zusammenwirken mit Bonn noch weitere Devisenzuflüsse versprach. Die UdSSR sah sich außerstande, die Lücke zu schließen. Als Gorbatschow am 10. März 1985 an die Spitze der UdSSR trat, hatte ihr die „Nachrüstung“ der NATO die langfristig angestrebte Option genommen, ihre vielen Schwächen durch militärische Überlegenheit auszugleichen.

Fragestellung

Als Michail Gorbatschow am 10. März 1985 vom Politbüro zum Generalsekretär der KPdSU gekürt wurde, hatten sich in einer langen Phase der politischen Stagnation (wie es in maßgebenden Kreisen hieß) gravierende Probleme im Lande, im Warschauer Pakt und gegenüber dem Westen aufgestaut. Sein Bemühen um Korrekturen konnte daher nicht überraschen. Der Verlauf, die Ausrichtung und die Ergebnisse der Reformen, die den Warschauer Pakt betrafen oder sich auf ihn auswirkten, sind das Thema des zweiten Hauptteils. Bei diesem Vorgehen stützte sich Gorbatschow zu Anfang auf eine unangefochtene Machtposition, geriet dann aber zunehmend unter den Druck ungewollter Folgewirkungen und stand zum Schluss dem Geschehen ohnmächtig gegenüber, als sich 1991 zuerst der Warschauer Pakt (das „äußere Imperium“) und dann auch die UdSSR (das „innere Imperium“) auflösten. Die in diesem Teil des Buches vorgelegte Darstellung wurde verfasst, ohne dabei zunächst die Frage nach der generellen Logik des fortgesetzten, sich vor allem ab 1989 beschleunigenden Machtverfalls zu stellen. Erst nachdem ohne diese Überlegung die Darstellung der sukzessiven Entscheidungen Gorbatschows, ihrer Voraussetzungen, Motive und Konsequenzen formuliert worden war, wurde im Anschluss das zugrundeliegende Problem ins Auge gefasst, wieso die Reformpolitik nicht zur Festigung der sowjetischen Macht und zur Stärkung des sozialistischen Systems, sondern zu deren Auflösung geführt hat. Diese Logik des Geschehens herauszuarbeiten, ist das Ziel des nachträglich verfassten dritten Hauptteils.

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9783706561518
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