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GERHARD STADELMAIER

Regisseurstheater

Auf den Bühnen des Zeitgeists


Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Gerhard Stadelmaier, geboren 1950, studierte Germanistik und Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Von 1978 bis 1989 war er Redakteur der »Stuttgarter Zeitung«, wechselte dann zur »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, wo er bis 2015 das Ressort Theater und Theaterkritik leitete. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Parkett, Reihe 6, Mitte. Meine Theatergeschichte« (2010) und »Liebeserklärungen. Große Schauspieler, große Figuren« (2012).

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Zitate

Kopf hoch! Aber plötzlich! Das ist ein Überfall!

Und schier in Zähren wir ersaufen

Sentimentales Zwischenspiel mit Aylan, Angela, Nathan, Hamlet und anderen Flüchtlingskindern

Immer mehr Kultur, immer weniger Kritik

Szene mit Chefredakteur

Und was ist mit der Kritik? Was hat sie dabei noch verloren?

Türen und Toren

Der schöne Traum vom autonomen Kopf

Die Bühne als Zeitgeistmaschine

Was ist überhaupt und zu welchem Ende erdulden wir Regietheater?

Unter Pestbeulen

Auf einer Probebühne

Wunder aber gibt es immer wieder

Nennen wir es lieber Regisseurstheater

Nachspiel

Theatralische Zeitgeisterfahrt in einem Zug

Impressum

Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.

Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.

Aber dann auf einmal,

da spürt man nichts als sie.

Hugo von Hofmannsthal, »Der Rosenkavalier«, 1. Akt

Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt,

dann weiß ich es; soll ich es aber einem Frager klarmachen,

dann weiß ich es nicht; trotzdem aber behaupte ich voller

Selbstvertrauen, ich wüsste, dass es keine Vergangenheit gäbe,

wenn die Zeit nicht abliefe, und keine Zukunft, wenn nichts herankäme,

und keine Gegenwart, wenn nichts gegenwärtig wäre.

Aurelius Augustinus, »Confessiones«, XI. Buch

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,

Wir ziehen durch sie hin;

Sie ist ein Karawanserei,

Wir sind die Pilger drin.

Ein Etwas, form- und farbenlos,

Das nur Gestalt gewinnt,

Wo ihr drin auf und nieder taucht,

Bis wieder ihr zerrinnt.

Gottfried Keller, Sämtl. Werke und Briefe, 3. Band

Theater. Wenn ich bedenke, dass Gott,

der alles sieht, sich das hier auch ansehen muss!

Jules Renard, »Tagebuch«

Kopf hoch! Aber plötzlich! Das ist ein Überfall!

ZEITGEIST. Das sagt oder schreibt sich so leicht hin. Aber was für ein Geist ist er? Wo steckt er? Wie zeigt er sich? Wie hat man ihn sich vorzustellen? Man stelle ihn sich bitte nicht als Dramatiker vor. Denn »die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden«, wie Gotthold Ephraim Lessing in der »Ankündigung« seiner »Hamburgischen Dramaturgie« (1769) schreibt. Der Witz des Zeitgeists besteht aber gerade darin, dass er weder zu rechtfertigen ist noch »immer wieder vor die Augen gelegt« werden kann. Er ist sowohl reine Willkür wie reine Flüchtigkeit. Heute hier, morgen schon wieder fort. Und übermorgen ganz woanders. Also stellen wir uns ihn lieber als Schauspieler vor. Dessen Kunst, so Lessing am selben wunderkritischen polemischen Ort, ist ja »in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.« Der Zeitgeist also benötigt, um zu wirken, zu wabern und zu wesen, notwendig die Launen, Modenlüste, Sentiments, Schwindeleien und Wechselwindigkeiten derer, die ihm gestatten, dass er auf sie wirkt. Und vor allem: Er trägt Masken. Sie stellen sein stärkstes Wirkungsmittel dar. Nicht nur indem sie sein Gesicht verbergen, das nicht einmal ein wahres Gesicht sein muss, um sich seines Versteckens sicher sein zu können – sondern indem sie in demjenigen, der auf sie schaut, eine seltsam paradoxe Begierde erzeugen, die sich in einem Glückserfüllungsgefühl staut.

Ob nun ganze Gesellschaften und Völker sich freiweillig zu Sklaven machen und wie gebannt auf die kleinen, glasummantelten, handschweißverschmierten viereckigen Geräte starren, die ihnen stets und ständig Signale übermitteln, denen sie offenbar derart trauen, dass sie sich und ihre Körper fast nur noch als Anhängsel dieser Geräte zu spüren scheinen, wie in Trance fremdgesteuert und seltsam vor sich hin brabbelnd in Bussen und Bahnen sitzend oder durch Straßen und Büros taumelnd, oder ob sich ganze Gesellschaften und Völker wie auf Kommando weltweit, ob in Fabriken, in Wüsten oder Dschungeln oder in Theatern oder einfach im häuslichen Rahmen, in die gleichen grobstoffigen, vernieteten Hosen zwängen – immer liegt dem kollektiven Wahn ein höchst individuelles Versprechen zugrunde: Es ist alles nur für dich – und nur für dich allein! Obwohl es Millionen so empfinden, fühlen und handhaben. Auch hier ist das Vergleichsbild des Schauspielers schlagend: Auch er, der für die große Masse spielt (sonst würde er die Bühne gar nicht erst betreten wollen), suggeriert jedem einzelnen Zuschauer das große, überwältigende Nur-für-dich!-Gefühl. Zugleich mit dem so dringlichen wie naturgemäß vergeblichen, aber ungemein gefühlsfördernden Appell: Halt mich fest! Greif zu! Denn im nächsten Moment bin ich schon wieder weg!

Der tiefste Wirkungsgrund des Zeitgeists aber liegt genau hier: im schlechten Gewissen beziehungsweise in der Angst der gerade Lebenden, von gestern zu sein und das große, bedeutende Jetzt zu verpassen. Die Angst vor der Dauer. Die Sucht nach dem Augenblick. Zeitgeisthändler sind nichts anderes als die Dealer des Augenblicks. Es gibt eine Ur-Szene, ein Ur-Motto dieser Angst vorm Gestern, vorgetragen von einem notorisch Morgigen namens Tancredi Falconeri, dem Neffen des Fürsten von Salina in Tomasi di Lampedusas Roman »Der Leopard«. Tancredis Zeitgeistmotto lautet: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich ändert.« Das ist natürlich eine Lüge: Man verändert sich nicht, um sich gleichbleiben zu können. Man wird anders. Und geht – im Falle Tancredis – dafür auch über Leichen. Die Genossen, die er sich zeitgeist- und gegenwartsgemäß erwählt, als er das Motto ausgibt, sind die Kämpfer Garibaldis für ein noch zu einigendes Italien. Wenig später, als diese Kämpfer sich nicht ändern und der neuen bürgerlich oligarchischen Herrschaftsschicht und ihrer zeitgeistgemäßen Machtsicherung parieren wollen, sondern auf ihrem Condottieretum beharren, lässt Tancredi sie kühl liquidieren. Der Ton, den er jetzt anschlägt, gehorcht einer anderen Opportunität als zuvor. So ändern sich die Tancredis. Und gehen dabei gesellschaftlich zugrunde – obwohl sie gerade dieses Zugrundegehen mit ihrer Anpassungslust vermeiden wollten. Denn wer mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Das ist das eiserne Gesetz, das der Zeitgeist seinen Mitläufern und Gehorsamen gleichsam als vorauseilend institutionalisierten Tritt in den Allerwertesten als gnadenloses Geschenk mitgibt. Denn es spielt im Zeitgeistgewerbe, das im wesentlichen ein Schaugewerbe ist, eine große Rolle, wer gerade Regie führt und den Ton angibt. Der Zeitgeist weht nicht, wie er will. Er wird auch gemacht. Er hat einen Markt, der von ihm profitiert (und umgekehrt). Auf seiner Bühne wechselt das Licht ständig. Und die Auftritte und Abgänge sind absehbar. Der Zeitgeist ist zwar schon Schauspieler, aber ein Schauspieler im Regietheater, das naturgemäß ein Regisseurstheater ist (worauf wir noch zurückkommen).

Ihm gerät immer das, was gerade ist, zum Fetisch. Er befeuert die große Allestilgerin Gegenwart, die das, was noch eben gerade war, ausradiert. Und sie herrscht fast absolut. Und schlägt alles, von dem zu erben wäre, aus. Was war, gilt nicht. Tradition wird gelöscht. Vergangenheit umfasst gerade noch die letzte Woche. Und die Gegenwartsreize werden nach »Gefällt mir«, »Gefällt mir nicht«, Daumen rauf, Daumen runter, gehandelt. Der junge Dramatiker Philipp Weiss, vor ein paar Jahren Hausautor am Wiener Schauspielhaus, einer kleinen Experimentalbühne, die sich kurioserweise exakt der reinen, traditionslosen Gegenwart verschrieben hat, bekennt in einer »Hausautorenkolumne« seine diesbezügliche, geradezu sensationell zu nennende Unzeitgemäßheit: »Ich denke und schreibe in einer Kultur, die nichts mehr zu erben meint. Es ist eine Zeit, die sich der gesellschaftlichen In-vitro-Fertilisation verschrieben hat und mithilfe einer Pränataldiagnostik alle Erbkrankheiten im Labor auszumerzen gedenkt. Alles Vergangene wird so zum Pool, ohne Zusammenhang, ohne Bedeutung und ohne Geschichte. Das Erbe wird zum puren Recht, sich an den Toten frei zu bedienen. Und sich den Nachfolgenden aufzudrängen. Verbindlichkeiten werden ausgeschlagen. Schulden nur gemacht. Ich erbe eine Klon- und Samplingkultur, in der ebenso alles möglich wie nivelliert ist.«

Das Leben in und mit der Kultur erlebt dieser junge Autor, der die Dreißig noch nicht erreicht hat und, wenn er bei seiner Haltung bleibt, es im Theater wohl ziemlich schwer haben dürfte, als Tabula rasa, die jeden Moment zum Nullpunkt macht. Als habe Nietzsche seine Zeitpeitsche aus der »Götzendämmerung« über ihn geschwungen: »Es steht niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts.« Der nächste Auftritt des Schauspielers Zeitgeist in ganz anderem Kostüm und anderer Kulisse wartet bereits: die große Betrügerin Aktualität, die schon morgen sich als solche herausstellen und entlarvt wird, wenn ihre noch unentlarvte Nachfolgerin die Szene betritt. Es herrscht dabei die Panik vor der Zeit, die stillsteht. »Was ihr den Geist der Zeiten heißt,/​Das ist im Grund der Herren eigner Geist,/​In dem die Zeiten sich bespiegeln«, sagt Faust in Goethes Tragödie erstem Teil gleich am Anfang in der Szene »Nacht« zu seinem Famulus Wagner (dem »trockenen Schleicher«) – und trifft als dann großer Zeitenüberspringer und -durchwanderer den Zeitgeist-Punkt ins Herz: Was man den Geist der Zeiten heißt, wird gemacht. Er ist eine Fabrikation: von vorübergehender Gegenwart. Goethe definiert an anderer Stelle das Wesen der Gegenwartstyrannei: »Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.«

Das Auskotzen der Gegenwart verträgt in seinem Präsentismus keinen Ruhepunkt. Wer sich dabei der Würde des Altmodischen, also leider Vergangenen versicherte und der Frechheit vertraute, die aus den Hinterbeinen kommt, auf die man sich stellt und still stehen bleibt und die Welt weiterrasen lässt – der würde erleben, dass die rasende Welt irgendwann wieder an ihm vorbeikommt. Wobei die Welt den Stehenbleiber eventuell als seltenes Exemplar und kostbare Erscheinung wahrnähme, wenn sie nicht so mit Rasen beschäftigt wäre, also mit dem Auf- und Zuziehen des Vorhangs für den Zeitgeist. Das Kommando aber seines Auftretens kommt vom Inspizientenpult des Zeitgeisttheaters und lautet: »Plötzlichkeit!« Es geschieht im Gestus eines Überfalls, der die Überfallenen die Köpfe aufmerkend hochreißen, sie aber das Nachdenken meistens sofort einstellen lässt. Man ergibt sich drein. Man findet in allen Bereichen dafür die lächerlichsten, beliebigsten, aber wirksamen Beispiele. So klein sie sein mögen, sie verändern die Verhältnisse. Für jeweils unterschiedlich lange Zeitgeistspannen. Plötzlich zum Beispiel tragen alle die Haare lang, die Schläfen-Koteletten bis zum Kinn herabgezogen, den Schnauzer buschig, die Röcke kurz, die Revers der Sakkos und Hemden überdimensional breit, die Schuhsohlen dick, die Hosen mit Schlag, die Farben bunt schreiend (am liebsten orange). Und was noch gestern die psychedelische Ausstattung von aufsässig die Gitarren schlagenden Jugendlichen aus dem wie immer gearteten drogenumnebelten Underground war, wird heute zur bekifften Mode der Bürger. Zum absoluten Muss. Und wer bart- und kotelettenlos im Kleiderladen nach schmalen Hosenbeinen und normalen Hemden verlangt, steht kurz vor der Ausweisung ins Reich des Unmöglichen, ja fast Asozialen. Die Antikonvention von gestern wird zur Konvention von heute. Und verlangt unbedingten Gehorsam, der sich naturgemäß profitabel in Geldeswert umrechnen lässt und ganze Wirtschaftszweige blühen lässt, die im Mitmachen und Mitlaufen, wenn nicht gar im Vorauseilen ihrer Ökonomie erst innewerden: Man muss dem Kunden suggerieren, dass er auf der Höhe der Zeit sein muss, wenn er ein ernstzunehmender und gesellschaftlich anerkannter Mensch bleiben möchte. Das war ums Jahr 1970 herum die gesellschaftliche Zeitgeist-Erfahrung. Gemacht und gesponsort von einer Industrie.

Die Basis für alle diese Erfahrungen durch die Zeiten hindurch aber lautet immer: »Das tut man nicht« oder »Das geht nicht«. Und wer zuvor sich noch, als womöglich ein anderer Zeitgeist im Kurzlebensschwange war, gegen die einschränkende Moral einer »Das tut man nicht«-Floskel zu Recht mit der Gegenfrage »Und wer ist denn: man?« empört und aufgelehnt hätte – der wird jetzt, da sie ihm in den ideologischen Kram passt, zu derem eifrigsten Regieassistenten. Es werden die Listen der Peinlichkeiten und der komplementären Ansprüche erstellt, also dessen, was man zu tun und zu lassen habe. Das entsprechende Wort hierfür ist »angesagt«. Und was angesagt ist, zieht alle mit.

Plötzlich ist Bio angesagt. Und alle machen mit beim Natürlichkeitsschmaus. Als hülfe es der Natur, wenn Unmengen von Getreide weltweit dafür monokulturell angebaut werden, damit sie als Bio-Diesel in umweltfreundlich scheinenden Autos verfahren werden. Plötzlich ist angesagt, bestimmte Wörter nicht mehr zu sagen, weil sie »unkorrekt« sind. Als habe man mit dem Sageverbot den schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen das jetzt »korrekt« benannte Objekt immer noch lebt, schon das Wasser abgegraben. Als hülfe es den wirtschaftlich ausgegrenzten oder juristisch benachteiligten Schwarzen, wenn man sie nicht mehr »Neger« nennt. Oder plötzlich geht man Fußball auf sogenannten Fanmeilen gucken, im Verein mit Tausenden anderen. Wo man früher ins Stadion ging, um leibhaftig anwesenden Mannschaften beim Kampf um Sieg und Niederlage zuzuschauen, geht man heute (auch) dorthin, um Mannschaften zu erleben, die über eine Leinwand rennen, auf die sie als Fernsehbild projiziert werden. So verwandelt sich das Wohnzimmer zum Marktplatz, das persönliche Erleben zur kameragelenkten und durch endlose Wiederholungen den Idiotien einer TV-Regie unterworfenen Massenhysterie. Man hat da mitzuschreien, mitzujubeln. Es ist eine Erfahrung wohliger, frivol sozialverträglicher passiver Haltlosigkeit, die sich »aufgeschlossen« gibt und als »weltoffen« empfindet. (Dabei mag einem beim Heimfahren, käme man an einem Gotteshaus vorbei, durchaus ketzerisch einfallen, dass zum Beispiel der katholischen Kirche, je mehr sie die Türen zur Welt hin offen und weit gemacht hat, die Leute nicht durch diese Türen hereingeströmt, sondern eher davongelaufen sind. Von der noch leereren, weil noch weltoffeneren evangelischen Kirche ganz zu schweigen.)

Der Plötzlichkeiten aber ist überhaupt kein Ende. Plötzlich spielen zum Beispiel alle ohne Vibrato auf dürren Darmsaiten und klirrenden Hammerklavieren die Musik des Barock und der Klassik. Kein Symphonieorchester traut sich mehr, Bach zu spielen. Die Ensembles, die einen »Originalklang« pflegen und so tun, als könnten sie die alte Musik so spielen, wie sie zu ihrer Zeit erklungen ist, schießen wie Pilze aus dem Konzertboden. Die »historisch informierte Aufführungspraxis« wird zum Muss, die sogenannte Klangrede, das heißt das partout dramatisch-rhetorische Aufladen auch undramatischer Musik, zum Schroffheiten-Credo. Man muss Radio-Moderatoren nur zuhören, wie sie derartige Konzerte mit den immer gleichen Verbalgirlanden ankündigen, die sich vor allem ums Wort »Lebendigkeit« oder »Frische« herumkringeln, um sich über die Leblosigkeit und Stumpfheit der entsprechenden Darbietung nicht mehr zu wundern.

Geht man in einen Schallplatten- beziehungsweise CD-Laden und verlangt nach der Einspielung einer Matthäus-Passion mit großem Chor und großem Orchester – wird man gerne vom Verkäufer im Ton einer Strafpredigt belehrt, dass es sich »herumgesprochen« habe, dass man »das« heute nur noch im Originalklang zu hören habe (fast hätte er noch den Historischen-Aufführungspraxis-Blockwart gerufen). Auf den Einwand, dass ja heutigentags kein Mensch mehr die Ohren von damals habe und auch die Konzertsäle andere seien und Bach womöglich sich an einem modernen Steinway durchaus erfreut hätte, hätte er denn einen gekannt, wird entgegnet, dass das jetzt eben »Standard« sei. Dieser Standard hält nun schon seit Jahren an. Und ist im musikalischen Zeitgeistregiegewerbe einer der hartnäckigsten Durchhalter. Weil er die scheinbare Verkehrung der Verhältnisse zum Grunde hat: Nicht der abgeschnittene Zopf von vorgestern oder gestern zeigt, was der Zeitgeist geschlagen hat, sondern gerade dessen Entdeckung und Wiederanflechtung.

Das längst Vergangene und eigentlich im instrumententechnischen Orkus der Vergangenheit Verschwundene wird im Fall der »historisch informierten Aufführungspraxis« zum aktuellen Gebot, das sich absolut setzt und eine ewige Gültigkeit für sich reklamiert, die es dem Wandel entzieht. Der Zeitgeist der Zeitlosigkeit. Es ergeben sich da kuriose Paarungen. Musiker wie Nikolaus Harnoncourt (um den Urvater dieser Bewegung stellvertretend zu nennen, von der er sich aber inzwischen links oder auch rechts überholt fühlt) oder Eliot Gardiner, die noch mit den Saiten und Bögen von 1810 spielen lassen würden, wenn sie diese noch auftreiben könnten, denen das absolut historisch Treue in der Musik eine Unabdingbarkeit ist und die das Fortgeschrittensein im Instrumentenbau durch die Zeiten als Verlust an Ursprünglichkeit betrachten und in Autographen nach dem unbedingten Partitur-Notat-Willen des Komponisten forschen, lassen sich durchaus für Opern-Inszenierungen einspannen, die mit Stoff und Handlung völlig beliebig verfahren und sie gerne in einem »Theater der Verleger« dorthin verlegen, wo es gerade Zeitgeist- und Gegenwartsmode ist (Tankstelle, Fitness-Studio, Swimming-Pool, Kaffeehaus). So ergibt sich ein paradoxes Doppel auf dem Zeitgeistmusikalienmarkt: der Ewigkeitsstand der »historisch informierten Aufführungspraxis« im Einwickelpapier des Regietheaters. Sie versteinerte sozusagen in der Verpackung der flutschenden Plötzlichkeit. Verlangt aber nach Mitgefühl und Einverstandensein, vom Hörer wird ein Berührtsein erwartet, das den kritischen Einwand überwältigt und gar nicht erst zum Aufflackern kommen lässt. Gefühltes tritt in den Zustand des Gewussten. Man rechnet nicht mit Distanzen. Man hofft auf Überwältigungen. Und Tränen dürfen ruhig auch mit im Spiel sein.

Und schier in Zähren wir ersaufen

Sentimentales Zwischenspiel mit Aylan, Angela, Nathan, Hamlet und anderen Flüchtlingskindern

EIN Bild geht um die Welt. Und verändert sie. So sehr, dass selbst Wahlkämpfe in ganz fernen Ländern von diesem Bild beeinflusst werden. Es ist das Bild eines kleinen Jungen, drei Jahre alt, der in blauen kurzen Hosen, rotem T-Shirt und Turnschuhen am Strand des türkischen Badeortes Bodrum liegt. Tot. Der kleine Aylan Kurdi ertrank auf der Flucht von der türkischen Küste übers Meer in Richtung einer ägäischen Insel, die auch seine Mutter und sein älterer Bruder nicht überlebten. Die Familie, die nach Kanada zur dort schon seit zwanzig Jahren wohnenden Schwester des Vaters fliehen wollte, war im Jahr zuvor aus der syrischen Stadt Kobane vor der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« geflohen. Aylan und seine Familie (von der nur der Vater überlebte) saßen wohl in einem von zwei Flüchtlingsbooten, die auf dem Weg von der Küste in Richtung Ägäis sanken. Zwölf tote Flüchtlinge aus Syrien, darunter fünf Kinder, wurden Agenturmeldungen zufolge von der türkischen Küstenwache geborgen.

Aber nur der kleine Aylan gab ihnen ein Gesicht, einen Körper. Er rührte die Welt, will sagen: die mit Bildern operierende und auf Bilder reagierende Öffentlichkeit. Die Tausende Toten, Ertrunkenen, Verschwundenen, Ermordeten, Verhungerten, Verdursteten, die in den Zehnerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf den abenteuerlichsten, gefährlichsten Fluchtwegen aus Afrika oder Kleinasien übers Mittelmeer um ihr Leben kamen, weil sie es retten wollten, hatten nie die Chance, als Individuen, die man beim Namen nennt, in ein Bild hineinzukommen. Die Hunderte von Särgen, die an einem Frühsommertag auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa sich türmten, führten nicht zu allgemeiner, wirkungsmächtiger Rührung. Die Politik und die Politiker blieben ruhig und geschäftig. Nur der Papst erregte sich. Die Regierungen der europäischen wie der überseeischen Nationen verlegten sich auf das, worauf sie sich immer verlegen: aufs Administrative. Was Hilflosigkeiten und Ohnmächtigkeiten einschloss. Es ging um Fragen wie den Einsatz von mehr Schiffen, den Kampf gegen Schlepper, die Registrierung der Flüchtlinge, ihre Weiterreise, die Definition dessen, was ein »sicheres Land« sei, die Regulierung dessen, was sich schon damals nicht mehr regulieren ließ und im Wort »Strom« seine absolute Unregulierbarkeit schon offenbarte, schon gar im »Flüchtlingsstrom«. Man dachte, man könne durch Denken und Überlegen dem, was über alle Ufer zu treten beziehungsweise an ihnen zu stranden drohte, wenn nicht Herr, so doch irgendwie gerecht werden. In aller dürftigen Rationalität.

Das Bild des einen kleinen toten Aylan am Ferienstrand von Bodrum änderte vieles, wenn nicht alles. Wo vorher nur Gedanken waren, kamen jetzt Gefühle ins Spiel. Wo vorher Verwaltungs- und Taktikfragen die Diskussion beherrschten, ergriffen jetzt Sentiments das Ruder. »Ein Foto, um die Welt zum Schweigen zu bringen«, kommentierte die italienische Zeitung »La Repubblica« das Bild. »Was, wenn nicht dieses Bild eines an den Strand gespülten syrischen Kindes, wird die europäische Haltung gegenüber Flüchtlingen ändern?« fragte die englische Zeitung »The Independent«. Und der französische Ministerpräsident Manuel Valls brachte unfreiwillig das Problem auf den Bild-Punkt: »Er hatte einen Namen: Aylan. Wir müssen dringend etwas tun.« Ganz abgesehen davon, dass Frankreich seit dem 3. September 2015, als Aylans Bild um die Welt ging, wenig bis nichts in der Flüchtlingsfrage unternahm (allerdings von einem Terroranschlag sondergleichen heimgesucht wurde, bei dem wahllos, aber gezielt um sich schießende muslimische Angreifer hundertdreißig Menschen in Konzerthallen, Cafés und auf den Straßen töteten) – wo Millionen von Schicksalen kein Herz bewegten, griff das finale Bild dieses einen Kinder-Schicksals so sehr ans Herz, dass wahlkämpfende kanadische Parteien ihre Regierung aufforderten, ihre Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik zu ändern. Es fand Eingang in Debatten im britischen Unterhaus.

In seinem Buch »Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid« (München, 2004) hat der grandiose philosophische Journalist Henning Ritter den paradoxen Grundmechanismus der Mitleidserregung anhand historischer Beispiele beschrieben und auf den Punkt gebracht: dass nahes und fernes Leiden einem nicht gleichermaßen nahegehen, dass Mitleid immer auch eine Form von Selbstmitleid sei, indem man fremdes Leid auf sich selber übertrage – aber nur, wenn es einem nahegehe. Die große Masse verschluckt sozusagen die Möglichkeit zum Mitfühlen, um so mehr, als sie in großer räumlicher Entfernung zu einem selber leidet. Man kann schwerlich mit »der Menschheit« oder »den Menschen« mitleiden. Selbst wenn sie zu Dutzenden an den Strand von Bodrum gespült werden. Aber das eine nahe beziehungsweise nahegebrachte Bild des einen kleinen Jungen schafft diese Nähe: durch den Anblick eines Unheils, in das man zwar nicht selber eingreifen konnte, das aber nun zu Regungen führt, die völlig reflexionsfrei scheinen. So öffnete am 5. September die deutsche Bundeskanzlerin, von Haus aus ein Muster an Nüchternheit und kalter, zögerlicher, gefühlsfreier, emotionsabholder Überlegung und Abwarterei, übermannt beziehungsweise überfraut von einer nie gekannten Plötzlichkeit ihr Herz und alle deutschen Grenzen, über die von nun an alle Flüchtlinge, die dies wollten (und die meisten wollten), ungeachtet ihrer nach dem Dubliner Abkommen sogenannten sicheren Erstaufnahmeländer (wie Ungarn oder Österreich) eingelassen wurden. Außerdem erklärte sie, dass es für Flüchtlingsströme »keine Obergrenze« gebe, dass die Zehntausend, die da pro Tag, nicht abgehalten von ungarischen Grenzzäunen und unglaublichen Zuständen in Bahnhöfen und auf schlammigen Wegen, ins Land wollten, willkommen seien. Das Wort der Kanzlerin: »Wir schaffen das!«, das sie zeitgleich mit der weltweiten Verbreitung des Fotos des kleinen toten Aylan in die Welt sandte, hatte nichts mehr mit, wenn auch ohnmächtigem, vernunftgeleitetem politischen Denken zu tun und auch nichts mit der ganz praktischen Überlegung, wie viele Hunderttausende oder gar die Millionengrenze übersteigende Flüchtlingsmassen die deutschen Kommunen und Länder verkraften, wie sie die Geflohenen würdig unterbringen, ernähren, beschäftigen, über den Winter bringen könnten – sondern mit übermächtigen Gefühlen. Die Kanzlerin erlag einem der mächtigsten Zeitgeistmittel: der Rührung.

Dabei schwindelt, wer von ihr redet. »Ich bin gerührt«, ist nichts als eine Floskel, die zu allem möglichen passt, zu einem Gänsebraten so gut wie zu einem guten Blatt im Skat oder zu einer schönen Abendstimmung mit Goldrand. Wer so redet, der plaudert so dahin. Wer aber wirklich gerührt ist, kann nicht mehr reden. Er kommt nicht mehr zu Wort. Die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Es meldet sich etwas, das in keine Grammatik passt. Man spricht nicht mehr. Es spricht. Subjekt, Objekt und Prädikat ändern ihren Aggregatzustand: Sie verflüssigen sich zu Tränen. Das Sentiment überschwemmt die Ratio. Das Nachdenken über die Folgen des Gerührtseins würde dieses womöglich in Frage stellen, wenn nicht unmöglich machen. Insofern ist Rührung schon etwas Echtes. Sie kommt als Überwältigung über einen. An ihr haftet ein Moment des Kontrollverlusts, einer hilflosen Unwillkürlichkeit. Sie lässt sich auch kaum spielen. Gerührte Schauspieler, die nicht mehr, wie es ihr Gewerbe verlangt, nur wirklich so täten, was in Wirklichkeit nicht ist (so, wie sie auch auf der Bühne wirklich Sterbende spielen, ohne in Wirklichkeit zu sterben), wären keine mehr. Sie würden den Text nicht mehr bewältigen. Vielmehr überwältigte er sie. Das berühmteste Beispiel davon ist im berühmtesten Drama William Shakespeares zu bestaunen.

Da wird ein alter Schauspieler von einem sehr jungen, sehr verzweifelten und zornigen Mann engagiert, um eine Rede vorzutragen, die er von ihm schon einmal hörte, »es war des Äneas Erzählung an Dido; besonders da herum, wo er von der Ermordung Priams spricht«. Der alte Mime legt los, und wie er zur Stelle kommt, wo die »schlotterichte Königin« Hekuba mit ansehen muss, wie Pyrrhus »argen Hohn« treibt, »zerfetzend mit dem Schwert des Gatten Leib«, kommentiert ein Zuschauer halb amüsiert, halb entsetzt: »Seht doch, hat er nicht die Farbe verändert und Tränen in den Augen? Bitte, halt inne.« Der junge Mann, Hamlet natürlich, ist zutiefst verstört – und angesteckt. Er hat einen großen Zorn, eine Welt-Wut, denn sein Vater ist tot, ermordet vom Bruder, und die Mutter hat den Mörder, ihren Schwager, »blutschänderisch« geheiratet. Hamlet hat alles, was zu einer Katastrophe taugt, das schönste Material, aber bisher hatte er keine Tränen, keine Rührung. Sein Kopf und sein Verstand waren in heftigst grübelnder und reflektierender Tätigkeit. Bis jetzt, wo er den alten Schauspieler erlebt hat, der um Hekuba – »um nichts!« – hat weinen müssen. »Hätte er das Merkwort und den Ruf zur Leidenschaft wie ich: was würd’ er tun? Die Bühn’ in Tränen ertränken und das allgemeine Ohr mit grauser Red’ erschüttern; bis zum Wahnwitz den Schuld’gen treiben und den Freien schrecken, Unwissende verwirren, ja betäuben die Fassungskraft des Auges und des Ohrs.« Und genau das tut Hamlet dann ja auch – bis in den Tod aller Schuldigen und Unschuldigen.

Worum der alte Schauspieler hat weinen müssen, wovon er bis in seine ungeschauspielerten Grundfesten erschüttert und überwältigt war, ist natürlich nicht nur nichts. Hekuba, die große alte Frau Trojas, ist zwar Literatur, eine Figur aus und auf Papier. Sie ist aber zugleich die auf kein Papier und keine Kuhhaut gehende Frau, Opfer eines Krieges. Sie muss zuschauen, wie ihr Enkelkind von einer Mauer in den Tod gestürzt wird. Ihre Töchter werden geschändet und entführt, ihre Söhne ermordet, ihr Mann wird gemeuchelt. Hekubas Schrecken und Schreie sind unfassbar und unspielbar, weil sie unerledigt, unbewältigt sind – und sich durch die Jahrhunderte fortpflanzen, in anderen Umständen, mit anderen Figuren, zu anderen Anlässen, aber mit derselben Grundgewalt. Das große Unerledigte, die unfassbare Wahrheit über Hekuba, und das große Erledigte, die fassbare literarische Hekuba, treffen sich im richtig falschen hamletschen Bühnenmoment: Das Unendliche überschwemmt das Endliche, das Unfertige das Fertige, das Unsagbare das Sagbare. So kommt es zur Rührung. Es gibt keine Formel, kein Ritual, keine Liturgie, keine Konvention, die das auffangen, kanalisieren und kontrollieren könnten. Sie legt sich dem Gerührten wie eine unbegriffene Last aufs Gemüt.

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23 декабря 2023
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