Читать книгу: «DUNKLE SONNE», страница 3

Шрифт:

Der Himmel war mit dunklen Wolken bedeckt, in denen gleißende Entladungen zuckten. Unruhe erfasste mich und lenkte meinen Blick auf die in der Ferne stehende Säule, in der langsam ein glühender Ball gleich einer Sonne aufzusteigen schien. Als wenn er sich für eine Farbe zu entscheiden suchte, flackerte er in den unterschiedlichsten Lichtmustern. Plötzlich verharrte er zwischen Himmel und Erde. Bannte meinen Blick.

Mich überfiel unbändige Angst. Mein Herz begann zu rasen, Schweiß brach mir aus, mein Atem drang laut durch den Luftfilter.

In einer geräuschlosen Entladung sprengte die scheinbare Sonne eine flammende Lichthülle ab. Ich hielt die Hände vor die Augen, aber es nutzte mir nichts. Das Licht jagte auf mich zu, durchdrang meine Hände, meinen Körper und begann mein Selbst aus seiner harten Schale zu lösen. Ich schrie auf und wollte mir den Helm vom Kopf reißen, aber eine innere Stimme warnte mich. Meine Augen erblindeten, die Welt wurde schwarz.

Ich verlor Harlan und war von Lautlosigkeit umgeben. Etwas suchte in meinem Gehirn, berührte die Nervenenden und tastete sich nach innen. Längst vergessene Erinnerungen stiegen in mir auf, eine unaufhaltsame Bilderflut. Einander widersprechende Gefühle durchzuckten mich in einer Geschwindigkeit, die ein genaues Empfinden unmöglich machte. Dann brach etwas in mir, mein körperloses Wesen strömte aus mir heraus.

»Ich kann nicht«, dachte ich Worte in die Stille. »Nein, ich will nicht!«

Hitze durchflutete mich, mein Körperempfinden kehrte zurück. Vergeblich versuchte ich, ein aufkommendes Zittern zu unterdrücken. Mit großer Überwindung öffnete ich die Augen. Vor mir stand die Säule, blaues Licht pulsierte in ihr und stieg in die Höhe. Verzerrte Gestalten waren erkennbar. Etwas, riesigen Augen gleich, tat sich auf und blickte auf mich hernieder.

»Öffne dich! Offenbare dich!«, flüsterte es in mir. Ich spürte, wie mein Fleisch von den Knochen schmolz, empfand aber keinen Schmerz. Die Knochen lösten sich auf, mein Geist wurde körperlos. Wie von einer Strömung angezogen, näherte ich mich der Säule. Flammenzungen liebkosten mich und zauberten farbige Muster in meine Gedanken. Die Hüllen meines Selbst zerfielen und lösten sich auf. Das Zentrum meines Empfindens wurde freigelegt. Die tiefste auslotbare Stelle.

»Nein«, schrie ich auf. »Lass mich! Du hast kein Recht, mich zu zerstören.« Mein Widerstand wuchs. »Und auch nicht die Macht dazu!«

Es gelang mir, mich der fremden Gewalt entgegenzustemmen. Nie hätte ich gedacht, dass es solche Kräfte gab, dass solch eine Erniedrigung möglich war. Was wäre mit mir geschehen, hätte ich nachgegeben?

Da löste sich die Kraft von mir. Ich erhielt meinen Körper zurück und fiel aufs Gesicht. Die Hände im Sand verkrampft, blieb ich liegen. Meine Wärme versickerte im Boden, Übelkeit überfiel mich. Hatte ich es überstanden?

Stoßweise Atemzüge ließen mich den Kopf heben. Nicht weit von mir entdeckte ich Harlan. Er lag mit offenen Augen auf dem Rücken, den Helm neben sich auf dem Boden, und starrte ins Nichts. Von seinem Körper ging ein Leuchten aus, welches mit einem Mal von gleißendem Licht überstrahlt wurde. Einem Stern gleich löste sich das Licht von ihm, beschrieb einen weiten Bogen, raste auf die Energiesäule zu und wurde von ihr verschluckt. Dort, wo Harlans Körper gelegen hatte, befand sich nur noch seine geschwärzte Kleidung. Aus einem ausgeglühten Schädel starrten mir schwarze Augenhöhlen entgegen.

Mir wurde wieder übel. Taumelnd erhob ich mich und wankte den Weg zurück. Ich fühlte mich leer und ausgebrannt. Als ich den wartenden Roboter erblickte, begann ich zu laufen.

Ein Tag körperlicher Erholung lag hinter uns. Der Hafentransporter brachte uns zum Raumschiff, während eine schmutzige Staubfahne hinter ihm zurückblieb. Die Pilger hockten eng beisammen und schwiegen. Der Transporter hielt, und die Roboter forderten uns zum Aussteigen auf. Wir erblickten das Raumschiff, das uns hergebracht hatte – ungepflegt und schmutzig wie zuvor.

Ohne Bedauern verließ ich die windig-schwüle Atmosphäre des Planeten. Das Abenteuer hatte ich überstanden, jetzt ging es um die Auswertung, um meinen Artikel. Ich durchstreifte das Raumschiff, doch wohin ich auch kam, die Pilger hielten sich von mir fern. Im Speiseraum traf ich auf den Pilger mit dem Laptop. Er saß allein an einem Tisch und schien auf jemanden zu warten. Sein Gesicht wirkte ruhig und entspannt.

»Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt«, sprach ich ihn an, »sind Ihre Theorien bestätigt worden?«

»Mehr als das«, erwiderte er. »Meine Speicher wurden zwar alle gelöscht, doch sie wurden mit neuen Informationen gefüllt. Völlig neue Formeln, geradezu überwältigend. Ich muss die fremden Daten nur noch entschlüsseln.«

Ich war überrascht. »Hat Ihr Gerät denn innerhalb des Energiefeldes gearbeitet?«

»Ich hielt mich an seiner Grenze auf, aus guten Gründen«, sagte er. »Von dort hatte ich auch einen besseren Überblick, als wenn ich mich in die riskante Nähe der Lichterscheinung begeben hätte.« Er wies auf einige Pilger, die sich in die Ecken verzogen hatten. »Sehen Sie sich doch um. Jämmerliche Gestalten! Sie trauen sich nicht, einem in die Augen zu sehen.«

»Sie machen einen deprimierten Eindruck«, bestätigte ich. »Haben sie denn nicht die Erfüllung ihres Glaubens gefunden?«

»Glauben?« Er lachte leise. »Sie haben gezweifelt, haben gedacht, sie könnten mit Gott plaudern wie mit dem Nachbarn. Gott hat sie zurückgestoßen, erniedrigt, ihnen ihre Nichtigkeit vor Augen geführt.«

»Sie sehen so aus, als hätten sie etwas Entsetzliches durchgemacht.«

Der Kayriede trat heran. Seine Schädelwulst war blass und eingefallen. »Sie Feigling«, beschimpfte er aufgebracht mein Gegenüber. »Sie waren nicht dabei, sonst würden Sie verstehen. Gott hat tiefer in meine Seele geblickt, als es mir selbst möglich ist, und als er nicht fand, was er suchte, stieß er mich zurück – unwürdig! Unwürdig, der ich mein Leben allein Gott geweiht habe!« Er stockte. »Wie soll ich jetzt vor die gläubigen Seelen treten? Gott …«

»Wer Gottes Größe verkennt«, erwiderte der andere, »der begreift ihn nicht. Ihm mangelt es am Glauben.«

Einige der Pilger, die das Gespräch mitverfolgten, traten näher heran. Keiner von ihnen sagte ein Wort, sie lauschten mit unbewegter Miene.

»Sie sind offensichtlich überzeugt, Gott begegnet zu sein«, wandte ich mich an meinen ersten Gesprächspartner. »Was bringt Sie zu der Überzeugung?«

Er blickte mich verständnislos an und spielte am Verschluss seines Laptops.

»Ihre Speicher wurden gelöscht«, sagte ich, »und mit unverständlichen Formeln gefüllt. Die Pilger, die sich gottesfürchtig der Erscheinung genähert haben, wurden innerlich zutiefst verletzt. Warum machen Sie gerade Gott dafür verantwortlich?«

Er starrte mich an.

»Es gibt für Gott eine negative Entsprechung«, sagte ich. »Nennen Sie es Beelzebub, Scheitan, Diabolus …«

Die Pilger stießen ein Ächzen aus.

Er atmete schwer. »Sie meinen … Sollte etwa …« Ein Aufschrei.

»Luzifer!« Er klappte seinen Koffer auf, fremde Symbole zuckten über den Bildschirm. »Nein!«, rief er. »Das ist nicht Gottes Handschrift. Hebe dich hinweg, Satanas!«, brüllte er, stand auf und schmetterte sein Gerät auf den Boden.

Der Kayriede wandte sich den Pilgern zu. »Fasset Mut, Brüder im Geiste …«

»Ich sage euch, wir haben Satan widerstanden!«, rief der andere und stieß mit dem Fuß seinen zerstörten Laptop zur Seite. »Unser Glaube war so stark, dass kein Teufel uns etwas anhaben konnte. Wir haben Luzifers Höllengestalt durchschaut, mit Gottes Beistand haben wir die Prüfung bestanden und Luzifer zurückgeschlagen!«

»Gott war bei uns, Gott ist in uns, Gott wird bei uns sein, heute und immerdar!«, rief der Kayriede. »Sein Name sei gelobt. Lasset uns beten.«

Die Pilger fielen auf die Knie.

Als das Raumschiff gelandet war, dröhnte eine lautsprecherverstärkte Stimme über das Feld. »Seid gegrüßt, Pilger Gottes. Kniet nieder, empfangt den Segen des unermesslichen Geistes! Wer fest im Glauben ist, den nimmt Gott auf und verzeiht ihm seine Sünden. Ich bringe euch die Gnade, deren ich teilhaftig geworden bin.«

Bernard Pelot entblößte seine gelbfleckigen Zähne und drückte mir die Hand. »Schön, dass du gesund zurück bist. Hast du genügend Material zusammenbekommen? Wir haben kaum Zeit, dein Artikel ist der Aufmacher der nächsten Ausgabe.«

Man erwartete eine gute Story von mir. Außerdem wollte ich weiterkommen. Ich brauchte nur die Wahrheit zu schreiben. Doch schon während des Rückfluges waren mir Zweifel gekommen. An WELT GOTTES verdienten mächtige Banken und Firmen. Wie leicht konnte ein Unbequemer Opfer eines Unfalls werden. Andererseits empfand ich die Vorkommnisse als dermaßen irrsinnig, dass es mich geradezu drängte, mit der Wahrheit herauszurücken. Denn in einem war ich jetzt sicher: Sollte es jemandem gelingen, Gott – oder was immer sich dort befand – gegenüberzutreten, er würde nicht zurückkehren.

Ich wusste es.

Dunkle Sonne

1

Es war dunkel. Nur eine an die Hauslichtanlage angeschlossene Lampe erhellte das Zimmer. Daran gewöhnte man sich. Viel störender war die Tatsache, dass wegen der draußen angebrachten Werbefläche das Fenster nicht mehr zu öffnen war. Leider war Georg auf diese Einnahmequelle angewiesen. Er hätte sonst seine zwanzig Quadratmeter Wohnraum aufgeben müssen.

Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch keinen Grund mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Er hätte die Werbeplatte aus ihrer Verankerung stoßen können, niemand hätte sich daran gestört.

Georg verließ die Wohnung und stieg neun Etagen zu Fuß hinab. Den Lift zu benutzen vermied er wegen der in letzter Zeit häufig auftretenden Stromausfälle. Bunt bedruckte Müllsäcke lehnten, teilweise übereinandergestapelt, am Geländer. Unten öffnete seine Kreditkarte die Tür. Er lief in die Nacht.

Sein Blick wanderte zum Himmel. Er sah ihn sofort: einen gleißenden Stern, der den Dunst der Stadt durchdrang. Ein Licht, das ihm durch die Augen heiß in den Schädel sprang. Seinem Gefühl nach hätte er losschreien, seinen Schmerz hinausbrüllen wollen. Doch Georg stand nur da und starrte in die sternenfunkelnde Finsternis.

Noch zwei Tage, möglicherweise auch drei, und alles würde vorbei sein. Ein gigantischer, durchs All treibender Gesteinsbrocken, durch pures kosmisches Desinteresse geleitet, würde auf die Erde treffen und alles Leben von ihrer Oberfläche tilgen. Die Menschheit war hilflos, ihre Hochtechnologie ein ergebnisloses Schulterzucken.

Das war nicht das Schlimmste. Nicht für Georg. Es gab eine Sache, die ihn viel mehr quälte. Die ihn dazu brachte, nach draußen zu gehen und die Straßen zu durchstreifen.

2

Sabine suchte in ihrer Tasche nach der Kreditkarte, fand sie in dem Täschchen für Kosmetika und führte sie in den Abtastschlitz. Summend öffnete sich die Tür der Wohneinheit.

Ihr Blick fiel auf einen schwarzen Koffer neben dem Flurschrank. Ihr fiel auch der an den Spiegel geheftete Zettel auf. Mit Großbuchstaben stand dort geschrieben:

LIEBE SABINE,

VERZEIH MIR. ICH MÖCHTE DIESE LETZTEN UNS VERBLEIBENDEN TAGE MIT DIR VERBRINGEN.

DEIN ROBERT

Sabine zerknüllte den Zettel und ging ins Wohnzimmer. Was kam Robert in den Sinn, hier aufzutauchen und unerlaubt ihre Wohnung zu betreten?

Sie hatte Robert vor einem halben Jahr vor die Tür gesetzt und bisher nicht daran gedacht, ihn auch nur anzurufen. Es war ihr unangenehm, nur an ihn zu denken.

Sie ging zum Kühlschrank, füllte ein Glas mit Milch, trank es auf einen Zug leer. Auf dem Flur vernahm sie plötzlich Geräusche, der Summer ertönte. Sie lief zur Tür, verharrte einen Augenblick und öffnete.

»Hallo«, sagte Robert leise.

3

Er musste an Vater denken. Schon mit dreizehn war Georg einen Zentimeter größer als er. Wie hatte er sich damals, als stolzes Kind, über diese zehn Millimeter gefreut. Für Vater musste es furchtbar gewesen sein. Dabei war er mehr als froh, dass sein Sohn nicht unter derselben Krankheit litt wie er.

Vater sprach häufig von Mutter. Sie fehlte ihm. Georg hatte nur ein verschwommenes Bild von ihr, nichts, was er sich vor Augen führen konnte. Nur ein Gefühl. Zwei Tage nach seinem vierten Geburtstag war sie gestorben. Sie hatte tot im Bett gelegen, und den Ärzten war es nicht gelungen, eine Todesursache auszumachen. Entgegen ihrem Willen ließ Vater sie einäschern. Es fehlte das Geld für eine richtige Beerdigung. »Sie hatte sich über ihren Tod oft Gedanken gemacht«, pflegte er hin und wieder zu sagen. »Es war vielleicht eine Art Vorahnung. Sie wollte immer richtig begraben werden.«

Ob Vater noch immer allein in der Wohnung lebte, wusste Georg nicht. Die letzte Weihnachtskarte hatte er vor drei Jahren erhalten, die letzte Geburtstagskarte lag noch weiter zurück. Daran war er selber schuld. Er hatte nichts mehr von sich hören lassen.

Ohne Eile ging er den Fußweg entlang. Die Luft war warm und die Stadt für diese Zeit ungewöhnlich ruhig. Vor dem U-Bahn-Eingang am Ende der Straße versammelten sich Leute, die im letzten Augenblick noch irgendwohin wollten. Sie warteten vergeblich. Das städtische Verkehrsnetz lag seit Stunden still.

Georg machte einen Bogen um die Menge und verschwand in einer Seitengasse. Laute Musik tönte über ihm. Sie kam aus einem der wenigen werbefreien Fenster, das weit geöffnet war und hinter dessen Scheiben helles Licht brannte.

Durch die laute Musik drang Geschrei. Eine männliche aggressive Stimme und die erregte Antwort einer Frau.

Da hatte jeder Mensch nur noch wenig mehr als zwei Tage zu leben, und diese Leute wussten nichts Besseres zu tun, als sich anzubrüllen. Aber vielleicht löste dieser besondere Zustand angestaute Aggressionen. Das nie Ausgesprochene, ständig Verdrängte entlud sich in den letzten möglichen Augenblicken.

Georg ging weiter. Der Streit schien beendet, nur das Rumoren der Musik drang noch an sein Ohr. Aus den Augenwinkeln bemerkte er das Aufflammen der Treppenbeleuchtung. Wenige Sekunden später verließ eine mit einem dunklen Mantel bekleidete Frau den Hauseingang. Ihr blondes, halblanges Haar war ein unsteter Lichtfleck in der Finsternis. Georg folgte ihr.

Ein quälender Druck stieg in ihm auf. Ein verzweifeltes Gefühl, das seinen Weg nach oben suchte. Es pochte als heißes Blut in den Schläfen und fand sich als kalter Schweiß auf seinen Handflächen.

Georg näherte sich der Frau, die schnell vor ihm herlief. Ein schwacher Duft erreichte ihn. Ihr Parfum! Drei hastige Schritte, und er packte sie von hinten. Georg fühlte einen warmen, weichen Körper, während sich die Frau heftig wehrte und mit den Ellenbogen nach hinten stieß. Als sie anfing, um Hilfe zu rufen, verschloss er ihr mit einer Hand den Mund. Mühsam zwang er sie auf den Boden und rollte sie herum. Seine Hand wanderte zwischen ihre Beine, riss die Kleidung beiseite. Dann wälzte er sich auf sie, presste seinen Körper auf ihren zitternden Leib, der sich in hilfloser Gegenwehr aufbäumte. Dabei blickte er in ihre weit aufgerissenen Augen, in denen sich winzige Lichtpunkte spiegelten.

Georg spürte ihre Haut auf der seinen und vermochte dennoch nichts zu empfinden. Sein Drängen war ein gefühlloses Aneinanderreiben von Fleisch. Es gab nichts Warmes an dieser Bewegung. Sosehr er sich auch mühte, es ging nicht. Er ließ von ihr ab, fiel zur Seite. Die Frau kroch sofort zur Hauswand und zog die Knie an. Ihr Gesicht zeigte blasse rote Flecken.

4

Die Erstarrung überfiel Sabine in dem Augenblick, als sie die Beine hochzog. Ihr Körper verlor jegliches Gefühl, der Schmerz verwandelte sich in dumpfes Unbehagen. Was hatte ihr der Selbstverteidigungskurs vor einem halben Jahr eingebracht? Ganz automatisch hätten die Reaktionen ablaufen müssen. Eintrainierte Bewegungen. Alles Unsinn! Das funktionierte vielleicht bei anderen.

Doch was war in diesem Augenblick noch wichtig? Auch Robert, dem sie vorhin entflohen war, hatte versucht, sie gegen ihren Willen zu nehmen.

In ihren Gedanken tauchte mit einem Mal Eileen auf. Sie war der wichtigste Halt für sie in den letzten drei Jahren. Wichtiger noch als ihre Eltern oder einer der Männer, die sie kannte. Doch der Kontakt zu Eileen war schon vor Monaten abgebrochen. Ein unsinniger Streit, etwas Belangloses. Der Gedanke schmerzte, dass sie sie nie wiedersehen würde. Doch irgendwie war sie sicher, dass auch Eileen in diesem Augenblick an sie dachte. Dass sie trotz der fehlenden Versöhnung ein Gefühl der Wärme verband.

Sie blickte auf und starrte den Mann an. Fast regungslos hockte er da und rieb seine Finger. Der Anblick ließ seltsame Gefühle in ihr aufkommen.

5

Er hörte, wie sie Beschimpfungen murmelte. Leise und monoton, als wäre sie sich dessen nicht bewusst. Als sie merkte, dass er ihren Blick erwiderte, wich sie ihm aus und zog die Knie noch ein Stück höher.

»Ich wollte das nicht …«, flüsterte er und hatte das Gefühl, nur unverständlich zu stammeln.

»Scheißkerl!«, Ihre Stimme war heiser. »Scheißkerl!«

Georg musterte ihr Gesicht. Trotz des Überfalls strahlte es eine ungewöhnliche Weichheit aus. Es verwirrte ihn.

»Machst du so etwas öfter?«, fragte sie mit gefassterer Stimme.

Georg schüttelte den Kopf.

»Du hast noch nie mit einer Frau geschlafen«, sagte sie so sicher, als wäre es auf seine Stirn geschrieben.

Georg sog die warme Nachtluft durch die fast geschlossenen Lippen. Was konnte ihm das Geständnis angesichts des bevorstehenden Endes noch ausmachen? Sein Nicken war eine kaum merkliche Bewegung.

Er beugte sich nach vorn, um den aufkommenden Schmerz zu dämpfen. Ein Schmerz, der, von den Augen ausgehend, sich über den ganzen Kopf ausbreitete. Wellen quälender Hitze.

»Was hast du?«, hörte er ihre Stimme. Georg blickte auf und sah, wie sie ihm die Hand entgegenstreckte. Als sie ihn berührte, war er erstaunt über die Rauheit ihrer Finger.

6

Lautes Gebrüll war auf einmal zu hören. Georg blickte sich um und sah eine Gruppe Jugendlicher von der Kreuzung her kommen. Sie schlugen mit Eisenstangen auf abgestellte Fahrzeuge ein und warfen Steine gegen Fenster.

»Komm!«, rief er und stand auf. Seit letztem Monat warnte man vor den sich überall bildenden Jugendbanden. Sie durchstreiften ganze Stadtbezirke, verprügelten Passanten oder schossen auf sie und plünderten Geschäfte.

Georg beugte sich zu ihr hinunter. Bewegungslos hockte sie am Boden.

»Wir müssen hier weg«, drängte er. »Die schlagen uns sonst zu Tode.«

»Geh, hau ab!«, erwiderte sie.

Er fasste ihre Hand und versuchte sie hochzuziehen. Als sie sich losreißen wollte, traf ein kleiner Stein ihre Stirn. Sie zuckte zusammen. Er packte ihren widerstrebenden Körper und zog sie empor. Ein Stein traf ihn schmerzhaft auf den Rücken, die Schreie kamen näher. Da begannen sie, zu laufen. Steine und Feuerwerkskörper sausten an ihnen vorbei oder trafen auf die Häuserwände.

Georg war ausdauerndes Laufen nicht gewohnt. Es dauerte nicht lange, und seine Beine wurden langsamer und das Atmen zur quälenden Herausforderung. Die Stelle, an der ihn der Stein getroffen hatte, begann stärker zu schmerzen. Sie hatte mehr Energie in sich, ihr Atem klang ruhig und gleichmäßig.

Als er bemerkte, dass die Schreie leiser wurden, drehte er sich um und sah, wie der Mob in eine andere Straße einbog, einem lohnenderen Ziel entgegen. Er trat zu der Frau, die in einiger Entfernung wartete. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander. Der Gestank nach Verbranntem lag in der Luft. Plötzlich erlosch die Straßenbeleuchtung.

»Fassen Sie mich an«, sagte sie.

Er tastete nach ihr und traf ihre ausgestreckte Hand. Langsam gingen sie im Dunkeln weiter. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, schwach traten die Umrisse der Umgebung hervor. Sie passierten eine Kreuzung und kamen auf einen breiten Fußweg. Rechts von sich hörten sie zwei Männer miteinander reden. Ohne einen Laut schlichen sie an ihnen vorbei und hatten nach etwa hundert Metern die düstere Silhouette einer Parkanlage vor sich.

»Bleiben wir hier!«, sagte sie. »Wir können im Park übernachten. Die Temperatur ist völlig ausreichend.«

7

Wärmende Sonnenstrahlen auf dem Gesicht, erwachten sie mückenzerstochen am nächsten Morgen. Aus einem der ausgeplünderten Läden um das Parkgelände besorgte Georg etwas zum Essen. An mehreren Stellen der Stadt stiegen tiefschwarze Rauchfahnen zum Himmel. Es herrschte eine merkwürdige Stille. Wie ein zum Zerreißen gespanntes Band, das jeden Augenblick die Grenze der Belastbarkeit überschreiten konnte, schwebte sie über der Stadt.

Der Tag verging, während sie den großflächigen Park erkundeten, mit anderen Personen ins Gespräch kamen, sich von einem heftigen Regenschauer durchnässen und von der Sonne wieder trocknen ließen.

Georg hatte schon lange nicht mehr so viel Zeit für sich gehabt. Es gelang ihm sogar, nicht ständig an den die Erde bedrohenden Asteroiden zu denken.

Als es Nacht wurde, durchkämmte eine der Jugendbanden das Gelände. Georg verharrte mit Sabine in dichtem Gebüsch und wartete.

Später, als der letzte Schein der Sonne vom Horizont verschwunden war und der wolkenfreie Himmel eine unendliche Tiefe gewonnen hatte, in der schwach die Sterne funkelten, saß Georg mit ihr auf einem Flecken Gras, umgeben von Büschen und Bäumen. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Nur schwach vermochte er die Umrisse ihres Gesichts auszumachen.

»Mir wird kalt«, sagte sie, umfasste seine Hand und zog ihn zu sich. Er näherte sich langsam ihrem Gesicht, ohne zu begreifen was geschah. »Du verdammter Idiot«, flüsterte sie, bevor sich ihre Lippen vorsichtig berührten. Er spürte Wärme und Weichheit, ertastete zärtlich ihren Körper. In der Nähe fielen plötzlich Schüsse, Leuchtkugeln tauchten die Umgebung in rot-grünes Licht. Irgendwo riefen Leute.

8

Sie schwieg, streichelte sein Gesicht und verwischte die Tränen. Er spürte die Bewegungen ihrer Finger auf seinem Rücken, wie sie seine Haut liebkosten. Seine Hand, die auf ihrem Bauch lag, fühlte die Bewegungen ihres Körpers, sein Auf- und Abschwingen bei jedem Atemzug. Ein Gefühl, das ihn beruhigte und nach einer Weile ganz und gar erfüllte.

Er betrachtete ihr Gesicht. Mit geschlossenen Augen lag sie da, die Arme von sich gestreckt. Nur ihr ruhiger werdender Atem war noch zu hören.

Ringsum herrschte absolute Stille.

Er blickte auf.

Zwischen zwei Bäumen sah er den Stern den Horizont berühren.

Бесплатный фрагмент закончился.

382,08 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
220 стр.
ISBN:
9783957658364
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают