Читать книгу: «Lelia»
George Sand
Lelia
Inhaltsverzeichnis
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
III.
IV.
V.
VI.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
Impressum
Wenn die leichtgläubige Hoffnung einen zuversichtlichen Blick auf die Zweifel eines verlassenen und trostlosen Gemüths wagt, um sie zu prüfen und zu heilen, so schwankt ihr Fuß am Rande des Abgrundes, ihr Auge trübt sich, sie unterliegt dem Schwindel und dem Tode.
Ungedruckte Gedanken eines Einsiedlers.
I.
Wer bist du? und warum kann man dich ohne Schmerz nicht lieben? Es muß ein entsetzliches, von Menschen bisher nicht gekanntes Geheimniß in dir seyn. Keinenfalls bist du aus dem nämlichen Stoffe geformt und mit dem nämlichen Leben beseelt als wir! Du bist ein Engel oder ein Teufel, aber kein menschliches Geschöpf. Warum verbirgst du uns deine Natur und deinen Ursprung? Warum wohnst du unter uns, die wir dir weder genügen, noch dich verstehen können? Wenn du von Gott kommst, so sage es und wir werden dich anbeten. Wenn du aus der Hölle kommst ... du aus der Hölle! Du, so schön und so rein! Haben die bösen Geister diesen himmlischen Blick, diese harmonische Stimme und diese Worte, die die Seele erheben und sie zu Gottes Throne tragen! Und dennoch, Lelia, ist etwas Höllisches in dir. Dein bitteres Lächeln straft die himmlischen Versprechungen deines Blickes Lügen. Zuweilen sind deine Worte trostlos wie der Atheismus: es giebt Augenblicke, wo du an Gott und an dich selbst zweifeln lassen könntest. Warum, Lelia, warum bist du so? Was machst du aus deinem Glauben, was machst du aus deiner Seele, wenn du die Liebe leugnest? O Himmel! und du könntest eine solche Lästerung aussprechen! Aber wer bist du denn, wenn du so denkst, wie du sprichst?
II.
Lelia, ich fürchte mich vor dir. Je öfter ich dich sehe, je weniger errathe ich dich. Du stoßest mich hinaus auf ein Meer von Unruhe und Zweifeln. Du scheinst mit meiner Angst zu spielen. Du erhebst mich bis zum Himmel und trittst mich unter die Füße. Du nimmst mich mit in die strahlenden Wolken und stürzest mich wieder in das dunkle Chaos! Meine schwache Vernunft unterliegt solchen Proben. Schone meiner, Lelia!
Gestern, wie wir die Berge besuchten, warst du so groß, so erhaben, daß ich hätte vor dir knien und deine Fußspur küssen können. Als Christus in einer goldenen Wolke verklärt wurde und den Augen seiner Apostel in einer leuchtenden Flüssigkeit zu schwimmen schien, warfen sie sich nieder und riefen: Herr, du bist wahrlich Gottes Sohn! Und als dann die Wolke zerrann und der Prophet mit seinen Jüngern den Berg hinunter ging, fragten sie sich gewiß voll Unruhe. Ist dieser Mensch, der mit uns geht, der wie wir redet, der mit uns essen wird, der nämliche, den wir eben in einem Feuerschleier und strahlend vom Geiste des Herrn gesehen haben? — So geht es mir mit dir, Lelia! Jeden Augenblick verklärst du dich vor mir und enthüllst dich wieder deiner Gottheit, um meines Gleichen zu werden, und ich frage mich dann mit Schrecken, ob du nicht eine himmlische Macht seyst, irgend ein neuer Prophet, das noch einmal unter menschlicher Gestalt zu Fleisch gewordene Wort, und ob du so handelst, Um unsern Glauben zu versuchen und die wahren Gläubigen zu erkennen!
Aber Christus! dieser große personifizirte Gedanke, dieses erhabene Vorbild der unsterblichen Seele, war stets über der menschlichen Natur, die er angezogen hatte. Er hatte gut Mensch werden, er konnte sich nie so verbergen, daß er nicht immer der erste unter den Menschen gewesen wäre. Wenn du aber, Lelia — und das erschreckt mich so — von deiner Höhe herabsteigst, so bleibst du nicht einmal uns gleich, sondern sinkst noch tiefer und scheinst uns nur noch, durch die Verkehrtheit deines Herzens beherrschen zu wollen. Woher rührt z. B. der tiefe, glühende, unauslöschliche Haß, den du gegen das Menschengeschlecht hegst? Kann man Gott lieben, wie du es thust, und doch so grausam seine Werke verachten? Wie läßt sich diese Mischung von erhabenem Glauben und verhärteter Gottlosigkeit vereinigen, dieser Aufschwung zum Himmel und dieses Bündniß mit der Hölle? Noch einmal, woher kommst du, Lelia? Welche Sendung des Heils oder der Rache erfüllst du auf Erden?
Gestern, wie die Sonne hinter dem Gletscher unterging, in rothbläuliche Dünste eingehüllt, wie die laue Luft eines schönen Winterabends dein Haar bewegte und die melancholischen Töne der Kirchenglocke in dem Echo der Thäler wiederhallten, warst du, Lelia, wahrlich die Tochter des Himmels. Die weichen Strahlen der untergehenden Sonne erstarben auf dir und umgaben dich mit einem magischen Glänze. Deine Augen, die du gegen das blaue Gewölbe gerichtet hattest, an welchem sich kaum einige furchtsame Sternchen zeigten, glänzten von einem heiligen Feuer. Ich hörte das geheimnißvolle Murmeln der Bäche, ich betrachtete das wellenförmige Wiegen der leicht bewegten Tannen, ich sog den lieblichen Wohlgeruch der Veilchen ein, die am ersten lauen Tage, bei dem ersten bleichen Sonnenstrahl ihre azurnen Kelche öffnen. Aber du dachtest an das Alles nicht; weder Blumen noch Wälder oder Bäche konnten deine Blicke fesseln. Kein irdischer Gegenstand weckte deine Gefühle; du warst ganz des Himmels. Und als ich dir das bezaubernde Schauspiel zeigte, was sich zu unsern Füßen ausbreitete, erhobst du die Hand gegen das ätherische Gewölbe und riefest: Betrachte das! O Lelia! du seufztest nach deinem Vaterlande, nicht wahr? Du fragtest Gott, warum er dich so lange hier vergäße, und warum er dir nicht deine weißen Flügel wiedergäbe, damit du zu ihm eilen könntest?
Aber ach! als die kälter werdende Luft uns nöthigte, zur Stadt zurückzukehren; als ich, angezogen durch den Ton der Glocken, dich bat, mit mir in die Kirche zum Abendgebet zu treten, warum verließest du mich nicht, Lelia? Warum ließest du, was dir gewiß ein Leichtes gewesen wäre, nicht eine Wolke herabkommen, um mir dein Gesicht zu verschleiern? Ach! warum habe ich dich so sehen müssen, empor gerichtet, mit gerunzelter Stirn, stolzem Blicke und kaltem Herzen? Warum knietest du nicht nieder auf den Marmor, der weniger kalt war als du? Warum kreuztest du die Hände nicht über den Busen, der durch die Gegenwart Gottes von Rührung oder Furcht hätte erfüllt seyn sollen? Warum diese stolze Ruhe und diese scheinbare Verachtung der Gebräuche unserer Kirche? Verehrst du nicht den wahren Gott, Lelia? Kommst du aus den heißen Gegenden, wo man dem Brama opfert, oder von den Ufern der großen Flüsse, wo der Mensch eher den bösen Geist als den guten anfleht? Denn wir kennen weder deinen Ursprung noch das Klima, welches dich gebar. Niemand weiß es, und das Geheimniß, welches uns umgiebt, macht uns abergläubig wider unsern Willen! Du gefühllos! Du gottlos! O! das kann nicht seyn! Aber sage mir im Namen des Himmels, was wird denn, in solchen schrecklichen Stunden, aus dieser Seele, dieser großen Seele und ihrer Begeisterung, deren Feuer uns über Alles hinausführt, was wir je gefühlt haben? An was dachtest du gestern, was hattest du aus dir selbst gemacht, als du stumm und eisig im Tempel warst, aufrecht wie der Pharisäer, Gott messend, ohne zu zittern, taub für die heiligen Gesänge, gefühllos für den Weihrauch, für die Seufzer der Orgel, für alle Poesie des heiligen Ortes? Und wie schön war die Kirche, erfüllt von Wohlgerüchen und helligen Harmonien! Wie die Flamme der silbernen Lampen weiß und matt in den Wolken erschien, die sich aus dem Benzoe entwickelt hatten, während die Räucherpfannen ihre Wohlgerüche in schönen Spirallinien zur Decke sandten! Wie der Tabernakel strahlte in der Beleuchtung der Wachskerzen! Und wie der Priester, dieser große schöne irländische Priester mit seinem schwarzen Haare, seinem majestätischen Wuchse, seinem strengen Blicke und seiner sonoren Stimme langsam die Altarstufen herabkam, sein langer Sammetmantel über die Teppiche nachschleppte; wie er seine volle Stimme erhob, traurig und durchdringend, gleich den Stürmen, die in seinem Vaterlande hausen; wie er, indem er uns die blitzende Monstranz vorhielt, das in seinem Munde so mächtige Wort: Adoremus! aussprach, da, Lelia, fühlte ich mich von einem heiligen Schrecken ergriffen, warf mich auf die Knie und schlug an meine Brust.
Aber der Gedanke an dich ist so mit mir verschmolzen, daß ich mich fast in demselben Augenblicke nach dir umsah, um diese begeisternde Bewegung mit dir zu theilen, oder vielleicht auch, was mir Gott verzeihen möge, um die Hälfte meiner demüthigen Anbetung an dich zu richten.
Aber du, du standest unbeweglich! du hast nicht das Knie gebeugt! Du hast nicht die Augen niedergeschlagen! Dein stolzer Blick heftete sich kalt und forschend auf den Priester, auf die Hostie, auf die hingeworfene Menge; nichts von Allem rührte dich. Du allein verweigertest dem Herrn dein Gebet. Wärest du eine noch erhabenere Gewalt? Lelia, Gott möge es mir verzeihen, einen Augenblick glaubte ich es und wollte ihm meine Huldigung entziehen, um sie an dich zu wenden. Ich fühlte mich durch die dir inwohnende Macht geblendet und unterjocht. Ach! ich muß gestehen, dich nie so schön gesehen zu haben. Bleich, wie die Marmorstatuen, die bei den Gräbern wachen, hattest du nichts Irdisches mehr. Deine Augen blitzten von einem düstern Feuer, und deine schöne Stirn, aus der du das schwarze Haar gestrichen hattest, erhob sich voll Stolz und Geist über das Volk, über den Priester, ja über Gott selbst. Diese Tiefe der Gottlosigkeit war erschreckend, und Alles erschien klein, wenn man dich so mit dem Blicke den Raum zwischen uns und dem Himmel messen sah. Hatte dich Milton vielleicht gesehen, wie er die zerschmetterte Stirn seines empörten Engels so edel und schön malt? Soll ich dir alle meine Schrecken sagen? Es schien mir, daß in dem Augenblicke, wo der Priester, das Symbol des Glaubens über unsern gebeugten Häuptern erhebend, dich vor sich erblickte, emporgerichtet, wie er selbst, dich allein mit ihm über Alle erhaben, er seinen tiefen und ernsten Blick vor deinem Auge niederschlug. Es schien mir, als ob der Priester erblasse, als ob seine zitternde Hand nicht länger den Kelch halten könne und als ob ihm die Stimme versage. War es ein Traum meiner aufgeregten Phantasie, oder erstickte wirklich der Unwille das Wort des Dieners des Herrn, als er dich der durch seinen Mund ergangenen Ermahnung nicht folgen sah? Oder hatte er, gleich mir auf befremdende Weise befangen, etwas Uebernatürliches in dir zu sehen geglaubt, eine Macht des Abgrundes eher eine Offenbarung des Himmels?
III.
Was geht das dich an, junger Dichter? Warum willst du wissen, was ich bin und von wannen ich komme? Ich bin wie du im Thale der Thränen geboren, und alle Unglückliche, die auf der Erde herumkriechen, sind meine Brüder. Ist sie denn so groß, diese Erde, die ein Gedanke umarmt und die eine Schwalbe in einigen Tagen umkreiset? Was kann es Befremdendes und Geheimnißvolles in einem menschlichen Wesen geben? Welchen großen Einfluß kann ein Sonnenstrahl haben, ob er mehr oder weniger senkrecht auf unsere Köpfe fällt? Und die ganze Erde ist ihm nicht zu vergleichen, sie ist sehr kalt, sehr blaß und sehr klein. Frage den Wind, wie viel Stunden er gebraucht, um sie von einem Pole zum andern umzustürzen.
Wäre ich an dem entgegengesetzten Ende der Welt geboren, so würde immer noch wenig Unterschied zwischen dir und mir seyn. Beide zum Leiden verdammt, beide schwach, unvollkommen, selbst durch alle unsere Genüsse verletzt, in steter Unruhe, begierig nach einem namenlosen Glück, stets außer uns, das ist unser gemeinschaftliches Schicksal, dadurch sind wir Brüder und Gefährten auf dieser Erde der Verbannung und der Knechtschaft.
Du frägst, ob ich ein Wesen anderer Natur sey als du? Glaubst du, daß ich nicht leide! Ich habe Menschen gesehen, die unglücklicher als ich waren durch ihre Lage, weniger durch ihren Charakter. Nicht alle Menschen leiden in gleichem Grade. In den Augen des großen Urhebers unsers Elendes sind diese Verschiedenheiten der Organisation ohne Zweifel von keinem Belange. Wir, auf unserm beschränkten Gesichtspunkte, verbringen die Hälfte unsers Lebens damit, uns einander zu Prüfen und die Schattirungen zu berechnen, denen das Unglück unterliegt. Was ist aber alles dieses vor Gott? Etwa, was vor unserm Auge der Unterschied zwischen den Stengeln der Kräuter seyn dürfte.
Deshalb bete ich nicht zu Gott. Was sollte ich ihn bitten? Daß er meine Bestimmung ändere? Er würde lachen. Daß er mir die Kraft verleihe, gegen meine Leiden zu kämpfen? Er hat sie in mich gelegt, es ist meine Sache, mich ihrer zu bedienen.
Du frägst, ob ich den bösen Geist anbete? Der böse Geist und der gute sind nur ein Geist, nämlich Gott; das ist der unbekannte, geheimnißvolle Wille, der über unserm Willen ist. Das Gute und das Böse sind Unterscheidungen, die wir selbst geschaffen haben, Gott kennt sie so wenig als Glück und Unglück. Fordere also weder vom Himmel noch von der Hölle das Geheimniß meiner Bestimmung. Ich könnte dir vorwerfen, daß du mich bald zu hoch, bald zu niedrig stellst. Dichter, suche in mir nicht diese tiefen Geheimnisse; meine Seele ist die Schwester der deinigen, du betrübst, du erschreckst sie, wenn du sie so ergründest. Nimm sie, wie sie ist, als eine Seele, die leidet und erwartet. Wenn du sie so strenge verhören willst, so wird sie sich in sich selbst zurückziehen und nicht mehr wagen, sich dir zu eröffnen.
IV.
Ich habe die Schärfe meiner Besorgnisse um dich zu freimüthig ausgesprochen, Lelia; ich habe die hohe Schamhaftigkeit deiner Seele verletzt. Das kommt, Lelia, weil auch ich unglücklich bin! Du glaubst, daß ich dich mit dem neugierigen Auge des Philosophen betrachte, und irrst dich. Wenn ich nicht fühlte, daß ich dir angehöre, daß fortan mein Daseyn unauflöslich an das deinige gebunden ist, wenn ich mit einem Worte dich nicht leidenschaftlich liebte, so würde mir die Kühnheit mangeln, dich zu fragen, und wenn du der merkwürdigste Gegenstand wärest, der sich den Beobachtungen der Physiologen darbieten könnte.
Alle, die dich gesehen haben, theilen die unruhigen Zweifel, die ich dir zu gestehen wagte. Sie fragen sich erstaunt, ob du ein gutes oder ein böses Wesen seyest, ob man dich lieben oder fürchten, dich aufnehmen oder zurückweisen müsse; selbst der große Haufe taumelt aus seiner Sorglosigkeit auf, um sich mit dir zu beschäftigen.
Er versteht weder den Ausdruck deiner Züge noch den Ton deiner Stimme, und wenn man die abgeschmackten Mährchen hört, deren Gegenstand du bist, so sieht man, daß das Volk eben so bereit ist, auf deinem Wege zu knien, als dich wie eine Geißel zu beschwören. Die höher stehenden Geister beobachten dich aufmerksam, diese aus Neugierde, jene aus Sympathie; aber keiner macht sich wie ich eine Lebensfrage aus der Lösung des Räthsels; ich allein habe das Recht, kühn zu seyn und dich zu fragen, wer du seyst, denn ich fühle es tief, und dieses Gefühl ist an mein Daseyn geknüpft, ich bin hinfort ein Theil von dir, du hast dich meiner bemächtigt, vielleicht ohne es zu wissen; ich bin nun aber einmal gebunden, ich gehöre mir nicht mehr allein, meine Seele kann nicht mehr in sich selbst leben; Gott und die Poesie genügen ihr nicht mehr; Gott und die Poesie vereinigen sich nun in dir, ohne dich giebt es keine Poesie, giebt es keinen Gott, giebt es gar nichts mehr.
Sage mir, Lelia, weil du willst, daß ich dich für ein Weib halten und mit dir reden soll wie mit meines Gleichen, sage mir, ob du die Kraft besitzest, lieben zu können, ob deine Seele aus Feuer oder aus Eis besteht, ob, indem ich mich dir hingebe, wie ich es gethan habe, es sich um meinen Untergang oder um mein Heil handelt; denn, ich weiß nicht, ich sehe nicht ohne Schrecken auf den fremden Weg, auf dem ich dir folgen soll. Die Zukunft ist mir in Wolken gehüllt, zuweilen rosige und leuchtende, wie die der Morgenröthe, zuweilen düstere, wie die dem Gewitter vorangehen.
Habe ich das Leben mit dir angefangen, ober habe ich es verlassen, um dir in den Tod zu folgen? Werden die Jahre der Ruhe und der Unschuld, die hinter mir liegen, durch dich verwelken oder aufgefrischt werden? Habe ich das Glück gekannt und werde es nun verlieren, oder habe ich nicht gewußt, was es sey, und werde es jetzt erst kosten? Diese Jahre waren sehr schön, sehr blühend, sehr lieblich! aber sie waren auch sehr ruhig, sehr dunkel, sehr unfruchtbar! Was habe ich gethan als träumen, erwarten und hoffen, seit ich auf der Welt bin? Werde ich endlich selbst schaffen? Wirst du etwas Großes oder etwas Verächtliches aus mir machen? Werde ich endlich aus dieser Nichtigkeit herausgehen, aus dieser Ruhe, die mich zu drücken anfängt? Und werde ich steigen oder fallen?
So frage ich mich jeden Tag mit Angst, und du antwortest mir nichts, Lelia, du scheinst nicht einmal zu wissen, daß ein Wesen vor dir steht, dessen Bestimmung mit der deinigen zusammenhängt und über welches du einst Gott Rechenschaft zu geben hast! Sorglos und zerstreut hast du dich meiner Kette bemächtigt und jeden Augenblick vergißt du es und lässest sie fallen!
Erschreckt, mich allein und verlassen zu sehen, rufe ich dich jeden Augenblick und zwinge dich, aus den unbekannten Regionen herabzusteigen, zu denen du dich ohne mich aufschwingst. Grausame Lelia! wie glücklich du bist, so freien Geistes zu seyn, allein träumen, allein lieben, allein leben zu können! Ich kann das nicht mehr, ich liebe dich, und nur dich. Alle die anmuthigen Schönheitsmuster, die weiblichen Engel, die mir in meinen Träumen erschienen und mir Küsse und Blumen zuwarfen, sind verschwunden. Sie kommen nicht mehr, ob ich wache oder träume. Du nur bist es, die ich bleich, ruhig, traurig und schweigend an meiner Seite oder in meinem Himmel erblicke.
Ich bin sehr elend! meine Lage ist nicht gewöhnlich; es handelt sich nicht allein darum, zu wissen, ob ich würdig sey, von dir geliebt zu werden, sondern auch darum, ob du fähig seyst, einen Mann zu lieben und — nur mit Entsetzen schreibe ich das Wort nieder, so fürchterlich ist es — ich glaube nein!
,,O Lelia! wirst du diesesmal antworten? Mich schaudert jetzt, gefragt zu haben. Ich hätte morgen noch in Zweifeln und Hirngespinnsten fortleben können. Nun bleibt mir vielleicht morgen nichts mehr zu fürchten noch zu hoffen.
V.
Was du für ein Kind bist! Kaum geboren, bestrebst du dich schon zu leben! denn ich muß dir sagen, du hast noch nicht gelebt, Stenio; ich werde dir das Leben in zwei Worten definiren, aber später.
Warum denn nun so eilen? Glaubst! du nicht schnell genug das verwünschte Ende erreichen zu können, wo wir alle scheitern? Dieses Schicksal wird dich treffen wie alle Andere, Stenio. Nimm dir daher Zeit, und überschreite erst so spät als möglich die Schwelle der Schule, wo man leben lernt. Glückliches Kind, du frägst, wo das Glück sey, wie es aussehe, ob du es schon gekostet habest, ob du berufen seyst, es einst zu kosten? O tiefe und köstliche Unwissenheit! Ich antworte dir nicht, Stenio.
Fürchte nichts, von Allem, was du wissen möchtest, werde ich dir nichts sagen. Ob ich liebe, ob ich lieben kann, ob ich dich glücklich machen werde, ob ich gut oder böse bin, ob dich meine Liebe erheben oder meine Gleichgültigkeit vernichten werde: alles das, siehst du, sind verwegene Fragen, deren Lösung der Himmel deinem Alter versagt und die er mir verbietet dir zu ertheilen.
Ich segne dich, junger Dichter, schlafe in Frieden. Der morgende Tag wird dir so schön seyn, wie alle Tage deiner Jugend, und mit der größten Wohlthat der Vorsehung geschmückt, mit dem Schleier, der die Zukunft verbirgt.