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Gabrielle Jesberger

Mary und das geheimnisvolle Gemälde

Schicksalswege der Liebe vom Mississippi in den Spessart

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Titel

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Die „Spessartzeitschrift“

Die Spessarteisenbahn

Der Erste Weltkrieg

Die blaue Stunde

Frieden – nach vier Kriegsjahren

Frühling 1920

Epilog

Impressum neobooks

Titel

Mary
und das geheimnisvolle Gemälde

Schicksalswege der Liebe
vom Mississippi in den Spessart

Gabrielle Jesberger

für Marys Urenkel Udo Ludwig

und allen Nachgeborenen

Der überwiegende Teil dieses Buches bezieht sich auf tatsächliche Begebenheiten und

historische Tatsachen.

Die Ergänzungen bestehen aus begründeten Zusammenhängen und Vermutungen.

Das Loslassen am Ende unseres Lebens und

diese Welt verlassen zu müssen

ist wohl das Schwerste,

was uns Menschen abverlangt wird.

Doch es ist ein Trost,

zu wissen, dass etwas von uns weiterlebt

in dieser Welt,

in unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln und

in allen, deren Herz wir einfühlsam berühren.

Mary Wagner-Wehsarg

Vorwort

In unserer heutigen Zeit fehlt leider oft etwas wesentlich Menschliches: Wertschätzung, die aus einer echten Empa­thie kommt. Das ist das Besondere - zusammen mit einer liebevollen familiären Verbundenheit - an diesem Buch.

Es geht um Mary, die Urgroßmutter des Mannes der Autorin, die eine sehr liebenswerte Persönlichkeit ist, zu der Gabrielle, ausgelöst durch ein besonderes Gemälde von ihr, seit 50 Jahren eine innige Beziehung hat.

Um diese herzensgute Frau noch besser zu verstehen, wurde aus diesem Geist ihre Lebensgeschichte aufgeschrie­ben. Auch „für Marys Urenkel, deren Kinder und die nach­folgenden Generationen“.

Das Ganze ist eingebettet in historische Zusammen­hänge von den Anfängen unserer Demokratie (Hambacher Fest) bis zum Nationalsozialismus. Es war eine Zeit, die in der jetzigen Generation so und in ihrer ganzen Tragweite kaum jemand sich vorstellen kann. Deshalb ist es heute auch für uns wichtig, durch verschiedene Informationen die demokratische Entwicklung zu Freiheit und Menschen­würde in unserem Land zu kennen und für diese Werte einzustehen.

Der Vater von Mary, Franz Wagner, hat als Jurist libe­rales Gedankengut verinnerlicht und sich tatkräftig in den demokratischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Seine aktive Teilnahme bei den Hambachern, im Parlament in der Paulskirche (als Delegierten-Berater) und der Revolution war lebensgefährlich, da von den ungerecht Herrschenden die sogenannten Landesverräter wegen Rebellion und Hochverrat hart mit Gefängnis oder Tod bestraft wurden. Grausam gingen die Truppen gegen das „rote Lumpenpack“ vor und alle Aufstände wurden durch die militärische Übermacht blutig niedergeschlagen.

Franz Wagner konnte, wie u. a. auch Hecker, der Ver­haftung entkommen und in die Neue Welt nach Amerika flüchten. Dort errichtete er eine „Beratungsstelle für Rechtsfragen und Einbürgerung“, gründete eine erfolgrei­che Pelz- und Lederfirma und heiratete. So wurde Mary in St. Louis geboren.

Im Buch wird gut beschrieben, wie viele Deutsche in Amerika lebten, sich halfen und ihre Kultur pflegten. Vor allem blieben sie ihren demokratischen Ideen treu. So waren z. B. 175.000 Deutsche im amerikanischen Bürger­krieg beteiligt.

Es geht in dieser Zeit auch um die Sklavenbefreiung, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, z. B. die beiden großen Wirtschaftskrisen 1857 und 1877, wobei die Gründe und Auswirkungen erstaunlich denen in der jüng­sten Vergangenheit ähneln.

Der Vater von Mary konnte, nachdem die Gefahr der Verhaftung nicht mehr bestand, wieder in seine Heimatstadt Mainz mit seiner Familie zurückkehren, wo er „Bürger­meister des Wohlfahrtsamtes“ wurde.

Mary, die künstlerisch sehr begabt war, durfte in Brüs­sel Musik und in Wien Malerei studieren, was damals für Frauen nicht selbstverständlich war. Die jahrhundertealten unfassbaren Diskriminierungen der Frauen in einer un­glaublich ungerechten patriarchalischen Welt waren immer noch vorhanden. Deshalb ist es erstaunlich, wie selbststän­dig und dem Mann gleichwertig Mary war!

Sie durfte eine besondere Liebesbeziehung zu ihrem Mann, Dr. Richard Wehsarg, einem Arzt im Spessart, erle­ben. Aus dieser Ehe gingen mehrere Kinder hervor. Trotz ihrer Krankheit (Bleivergiftung durch das damalige giftige Weiß beim Malen), die ihr öfters Schmerzen bereitete, behielt sie ihren Mut und vor allem ihre große Liebe zu allen Menschen, auch den Patienten im Sanatorium ihres Mannes.

Mary hatte einen besonderen „Zugang zum Wahren und Guten in der Poesie, der Malerei, der Musik“. Ausdruck ihres ästhetischen Empfindens war auch der kleine Kurpark des Sanatoriums, den sie selber gestaltete. Die Liebe zur Natur und Stille waren besonders wertvoll für sie und eine Kraftquelle für ihr Leben.

Mary starb 1920, während ihr Mann noch 21 Jahre überlebte, bis zuletzt ganz untröstlich. Richard hatte sich nicht nur als besorgter und geachteter Arzt, sondern auch für die Verbesserung der armen Menschen eingesetzt (z. B. Tourismus durch „Spessartzeitschrift“ und Spessarteisen­bahn).

Sehr interessant sind auch die Informationen über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Zeit und den National­sozialismus. Dazu gehört vor allem der Antisemitismus, verwurzelt im jahrhundertealten Antijudaismus, Judenhass Luthers und das Versagen der evangelischen Kirche (auch teilweise der katholischen), ausgenommen einige wenige Mutige.

Der Begeisterung großer Bevölkerungskreise für Hitler (nach 45 wollten viele es nicht gewesen sein), u. a. auch missbrauchtem Idealismus und geschickter „Inszenierung von Massenerleben“, Versprechen von „goldenen Zeiten“, erlag auch Marys Mann. Das späte Erkennen der grausamen Realität der Nazis war für ihn der Zusammenbruch seines Weltbildes. Eine ehrliche Selbstkritik (im Gegensatz zu Verstockten, Unbelehrbaren nach 45).

Marys Pflege der Kunst ist so wichtig in einer gewalttä­tigen Welt. Vor allem ihre Botschaft von Liebe und Frieden ist heute besonders aktuell! So drückt es ja auch Willigis Jäger aus: „Wir müssen uns zuerst und vor allem die Frage stellen, wie viel wir geliebt haben.“

Das Buch lässt uns auch wieder erkennen: „Die Erinne­rung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ (Jean Paul)

Moos-Weiler, im November 2017

Bernd Wagenbach

Studiendirektor i. R.

Was wir am Ende unseres Lebens in Händen halten,

sind nicht unsere Leistungen und unsere Werke.

Wir werden uns zuerst und vor allem der Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben .

Willigis Jäger

Teil 1

Einleitung

Seit mehr als fünfzig Jahren spricht das Bild der Maria zu mir. Es hängt an der Wand in unserem Wohnzim­mer: ein Ölgemälde, auf dem ein madonnengleiches feinge­schnittenes Gesicht mit einem melancholischen, nach innen gewandten Gesichtsausdruck zu sehen ist, umhüllt von einem zarten durchsichtigen Schleier über der Stirn und einem taubenblauen Umhang, der vom Haupt bis über die schmalen Schultern reicht.

Das Bild war ein Geschenk der Großmutter meines Mannes zu unserer Hochzeit. Die Bedeutung des Zere­moniells - dieser etwas außergewöhnlichen Übergabe - enthüllte sich mir erst im Laufe unzähliger Zwiesprachen mit „meiner Maria“.

Bereits im ersten Augenblick, als ich ein etwa 35 x 45 cm großes Bild vor mir sah, das provisorisch an vier Holzlatten hing, die Ecken lose baumelnd, ging etwas Geheimnisvolles von ihm aus: ein altes Ölbild, sehr dunkel und von unzähligen kleinen Rissen überzogen, mit Mühe war in dem dämmrigen Licht ein Frauenkopf zu erkennen. Omi hatte es gerade aus einem staubigen Winkel vom Spei­cher geholt, wo es wohl lange Zeit unbeachtet lag. Und doch ging eine Faszination von diesem Bild aus, dass ich nicht nein sagen konnte, als sie mich fragte, ob ich es möchte. „Meine Mutter hat es gemalt“, damit drückte Omi mir ihr Geschenk in die Hand. Später, beim ersten Be­trachten bei Licht zu Hause, war ein Madonnen-Portrait zu erkennen.

Mit meinem letzten mühsam Ersparten suchte ich einen Restaurator auf, dafür musste der Küchenzettel einige Zeit schmaler ausfallen. Mit Kennerblick versprach er mir, das Bild schonend und sorgfältig zu reinigen und aufzufrischen. Ich suchte einen passenden Rahmen aus, in dem sich - wie ein blaues Band um das Gemälde - die Farbe des Umhanges wiederholt.

Als ich meine Madonna beim Abholen sah, erkannte ich sie kaum wieder. Der Anblick ergriff mich, dass ich keine Worte fand. Der Restaurator sah die Tränen in meinen Au­gen und schwieg. Behutsam, beinahe mit Andacht, packte er das Gemälde ein und ich transportierte „meine Maria“ sorgsam auf dem Schoß quer durch Regensburg in der Stra­ßenbahn und dem Bus zu unserer ersten Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses. Das Ölgemälde fand einen Ehrenplatz in unserem Wohnzimmer und stand in völligem Kontrast zu unseren ersten billigen Kunststoffmö­beln in der kleinen Wohnung.

Seither überstand das Madonnen-Bildnis innerhalb fünfzig Jahren wohlbehütet sieben Umzüge, überdauerte jeden einzelnen Gegenstand der vorhergehenden Woh­nungseinrichtungen und wurde als Symbol der Gottesmut­ter - ihres Namens und des Namens der Erschafferin dieses Bildnisses - zum Pol der Familie und schuf ein Leitmotiv, die innige Verbindung zur Urgroßmutter meines Mannes und ihrer Familie.

Während des Schreibens wurde das Bild zu einer Of­fenbarung für mich, weil es Schritt für Schritt seine Ge­heimnisse über die außergewöhnliche Lebensgeschichte einer charismatischen Frau enthüllte. Eines dieser Geheim­nisse zeigte sich mir durch das Foto eines Selbstportraits Marys, das sie während ihres Studiums in Wien gemalt hatte und auch diesmal wieder als Geschenk in meine Hände gelangte. Lange stand ich davor, bis ich begriff: Die Madonna auf meinem Bild ist sie selbst: „Meine Maria“ ist Mary.

Prolog

Seit ihrer Kindheit suchte Mary die Einsamkeit in der Natur, die Momente, wenn sich die Dinge um sie he­rum verdichteten zu Worten, zu Musik, zu Farben und Formen. Nur so erschien ihr das Geheimnis des Lebens, der Ausdruck des Göttlichen in der großen Leere und Unge­wissheit des Raumes um sie herum verständlich. Den Zu­gang zum Schönen und Wahren in der Poesie, der Malerei, der Musik fand sie erst, wenn sie die Augen schloss, im Phosphoreszieren der Dinge, in dem die Farben erst sichtbar wurden, wenn alle lauten äußeren erloschen, die Töne erst hörbar wurden, wenn sie im Außen verklungen waren, die Worte erst zu ihr sprachen in der Stille.

Gleichzeitig war sie fasziniert von Gesichtern, von Menschen als den Akteuren auf der großen Bühne des Le­bens. Mit ihrem liebevollen, einfühlsamen Wesen gelang es ihr, tiefer zu sehen, hinter die Fassade, um letztendlich mit unendlich zärtlichem Blick in die Herzen zu schauen. Ihren Charakter beim Malen zu erspüren und auf der Leinwand auszudrücken, nichts Geringeres suchte sie zu durchdrin­gen, um das Verborgene, die Geheimnisse hinter dem Sichtbaren zu erfassen. Sie, deren Geist, Fantasie und Sinn für die Menschen und die Natur sich bis heute in ihren Gemälden, in den von ihr bevorzugten Klavierkompositio­nen sowie in ihren Briefen spiegeln und wie eine Wesens­beschreibung, ein Ausdrücken der Freiheit als Entwick­lungsimpuls in die nächsten Generationen weitergetragen wird.

Teil 1

Sommer 1946 in Sommerau

Der kleine Udo wuchs mit seinem Bruder Wolfgang und später seinen zwei weiteren Geschwistern in der Villa seiner Großeltern und des Opapas auf. Seit Kriegsbe­ginn wohnte auch Tante Annemarie mit ihrer kleinen Tochter Inge zeitweise wieder bei ihren Eltern. Täglich tobte Udo um die Wette mit seinem drei Jahre älteren Bru­der Wolfgang durch die Räume, immer im Kreis herum durch die hohen Flügeltüren, von einem Zimmer ins nächste, durch den Salon und wieder über die nächste Schwelle, bis sie atemlos keuchten und die Dielen began­nen im Rhythmus zu schwingen dass auch der Flügel leise Töne hervorzauberte, als ob die Tasten von Geisterhand zart berührt würden.

„Pssst!“, zischte Mami und legte ihren Zeigefinger auf den Mund, als sie aus der Küche eilte. Sie hatte mit den Töpfen vom Mittagessen hantiert, ließ alles stehen und liegen, als sie den Lärm hörte, wischte sich die Hände an der Schürze ab und bemühte sich, eine ernste Miene zu machen. Zu sehen, wie der Dreijährige versuchte, den Gro­ßen einzuholen, der immer wieder einmal kurz stehenblieb, zurückschaute, aber schnell wieder losrannte, wenn sein kleiner Bruder ihn fast eingeholt hatte, war eine wohltuende Ablenkung ihrer sorgenvollen Gedanken.

„Ihr wisst doch, Opapa hält seinen Mittagsschlaf!“, er­mahnte Mami ihre lebhaften Söhne. „Wollt ihr nicht runter­gehen in den Garten, die Sonne scheint und außerdem ha­ben die Ziegen sicher Hunger. Ingelein ist auch schon unten und wartet auf euch.“

Dass Opapa seit einigen Tagen auffallend wenig Appetit hatte, meist schweigend mit verlorenem Blick in seinem Lehnstuhl saß und ihm sogar seine geliebte bodenlange Pfeife nicht mehr schmecken wollte, stimmte Lilo nach­denklich. Erst gestern kam sie dazu, als er auf seinen Stock gestützt, versonnen vor der alten Vitrine stand und seinen Blick nicht mehr von der Urne mit der Asche seiner Frau wenden wollte, die dort nun seit mehr als sechsundzwanzig Jahren stand.

Nach Marys Tod 1920

Am schlimmsten waren die Nächte, die nicht enden wol­lenden Stunden ohne Mary an seiner Seite. Sie war der einzige Mensch in seinem Leben, der ihn rückhaltlos an­nahm; sie kannte ihn wie niemand sonst, nahm geduldig seine Rastlosigkeit oftmals sogar mit Humor hin, stellte seinen Patriotismus nie in Frage. Mary hatte ihm all seine Unsicherheiten genommen, die nun plötzlich wieder wie alte Gespenster in allen Ecken lauerten.

Immer noch waren überall im Haus Marys Spuren. In ihrem Schlafzimmer lag aufgeschlagen ihr Notizheft und das letzte Buch, das sie gerade gelesen hatte. An den Wän­den hingen ihre Gemälde, er betrachtete sie stundenlang. Ihre Kleider waren im Schrank neben den seinen. Nie ging Richard zu Bett ohne ihr Kopfkissen in den Arm zu neh­men, das immer noch ihren unverkennbaren Duft ver­strömte. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen und drückte seine Lippen darauf.

Obwohl das Geschäft mit der Saya- und Korkproduk­tion gut lief, war Richard sehr niedergedrückt. Else be­schrieb ihren Vater als „ungemütlich und anstrengend“. Seinen brillanten Humor hatte er offensichtlich vollständig verlo­ren.

Wie sehr er sich verlassen fühlte seit dem Tod seiner Frau, entging der Tochter nicht, doch sie war in ihrer eige­nen Trauer um die geliebte Mutter gefangen und es schien ihr, als stünde eine unsichtbare Wand seither zwischen ihnen. Else hatte erlebt, wie ihre Mutter in all den Jahren in unerschütterlicher Liebe und Treue bis zu ihrem viel zu frühen Tod an der Seite ihres Mannes stand. Ihren Vater nun mit einem Mal so hilflos zu sehen, tat weh und machte sie ratlos. Wie grau seine Haare geworden sind und wie schütter in den letzten Wochen, stellte sie fest. Er schien um Jahre gealtert. Ich bin sicher, dass er erst jetzt nach und nach erkennt, was unser liebes Mutterle für ihn war, schrieb sie an Tante Lucy in New York.

Von der jüngsten Tochter Hermine, die Richard nun sehr selten sah, weil sie öfter vor der erdrückend stillen Atmosphäre, in dem einst so fröhlichen Haus, zu einer Freundin nach Mainz floh, sprach er mit rührenden Worten, die sich Else täglich anhören musste. „Vater verhält sich wie ein Märtyrer, läuft mit leidender Miene umher, erwar­tet, dass ich ihm seine Wünsche von den Augen ablese, wie es zuvor seine Frau getan hatte!“, stöhnte sie.

Am Rande einer großen Erschöpfung stellte Else, die ihr viertes Kind erwartete und bereits mit den Aufgaben für ihre eigene Familie ausgelastet war, eine neue Haushalts­hilfe ein. Das bedeutete zwar eine Entlastung, aber auch zusätzliche Ausgaben. Dafür war Else gerne bereit, von den 7000 Reichsmark, dem Erbe ihrer Mutter, etwas abzugeben.

Vater und Bruder Franz bemühten sich, Aufgaben zu übernehmen, die bisher die Mutter, wie so vieles andere, ganz selbstverständlich erledigt hatte. Else sah zumindest ihren guten Willen, wenn sie sich nun selbst täglich Feuer in ihrem Zimmer machten und den Aschekasten hinaustru­gen. Insgeheim hoffte sie allerdings, dass Franz bald seine Theda heiraten würde. „Damit ich dann wenigstens seine Socken nicht mehr stopfen muss“, beklagte sie sich und bemühte sich dabei um einen humorvollen Unterton, der ihr nicht so recht gelingen wollte. Auch Franz läuft - wie Vater - seit Mutters Tod mit einem ernsten, fast strengen Blick umher, dass ich ihm aus dem Weg gehe, um ihm nicht so oft ins Gesicht schauen zu müssen, schrieb Else verzweifelt.

Sie gab sich doch alle Mühe, versuchte mit ihrer ganzen Kraft, die Mutter zu ersetzen. Warum sieht Papa das nicht?, fragte sie sich. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass ihre Kin­der und ihr Mann oft zu kurz kamen. Als Ludwig nach Kriegsende endlich zu ihr zurückgekommen war, äußerte er wieder seinen langgehegten Wunsch, irgendwo in der Nähe - ohne den ganzen Anhang - alleine mit seiner eigenen Familie zu wohnen. Nun konnte vom Wegziehen keine Rede mehr sein. Völlig selbstverständlich übernahm Else die Rolle, die die Mutter vorher ausgefüllt hatte. Ludwig musste wohl oder übel die neue Situation akzeptieren und fügte sich stillschweigend in das Unvermeidliche. Das Sa­natorium wurde nun endgültig aufgelöst, so gab es wenigs­tens ausreichend Wohnraum für die junge Familie.

Der Tod der Mutter lag noch keine fünf Monate zurück, als kurz vor der Mittagszeit, am 7. Oktober 1920, der kleine Wolfgang Richard Georg geboren wurde. Mary war in großer Sorge gewesen, als sie im Frühjahr von der Schwan­gerschaft erfuhr. Der kleine Franzkarl war knapp zehn Mo­nate und ihre Tochter hatte sich von der letzten Geburt noch nicht erholt, sie war sehr mager und auffallend blass. Zwar war ein Kindermädchen im Haus, doch ohne dass es abge­sprochen werden musste, übernahm nun vor allem die große Schwester Lilo mit ihrer jüngeren Schwester Anne­marie die Erziehung des Bruders Franzkarl. Obwohl er ein kleiner Wildfang war und sie nie wussten, was er gerade wieder ausheckte, war er doch bemüht, den älteren Schwestern nachzueifern. „Dickel“, riefen sie den pumme­ligen Knirps scherzhaft, was ihn anspornte, die Schwestern mit seinen Grimassen und Faxen zum Lachen zu bringen. „Du Spitzbub“, rief Lilo zärtlich, wenn sie versuchte ihn einzufangen, während er lachend davonlief, dabei Haken schlug wie ein Hase und seine große Schwester atemlos anfeuerte „krieg mich doch!“ Vor allem Opapa trieb gern seine Späße mit ihm, nannte ihn naseweis, weil er alles wissen wollte und ununterbrochen fragen konnte, und in seiner Stimme klang unverhohlener Stolz: „Der kleine Bur­sche ist halt einfach aus dem „Wehsarg-Holz“ geschnitzt!“

Das erste Weihnachtsfest 1920 ohne Mary war ein trauriges Familientreffen. Else hatte den Christbaum geschmückt, die Haushälterin die traditionelle Speise, wie an jedem Heiligen Abend, zubereitet. Der schwere ovale Tisch war festlich geschmückt, die gestärkten weißen Damast-Servietten la­gen als Dreiecke gefaltet auf den goldumrandeten Tellern, die Kristallgläser funkelten im Schein der Kerzen. Franz, der zum Medizinstudium in Würzburg war, reiste an und auch Hermes, die gerade wiedermal eine Freundin in Mainz besucht hatte, kam leise herein und legte ein Gedicht - auf einem mit Blumen und Ornamenten verzierten Blatt - in einem schlichten Rahmen unter den Baum. Alle hatten sich auf das Wiedersehn gefreut und doch lag eine bedrückende Stimmung im Raum. Liselotte und die kleine Mie konnten nicht mehr stillsit­zen, hüpften mit Franzkarl aufgeregt von einem Fuß auf den anderen durch das Wohnzimmer und konnten es kaum erwarten bis sie das Glöckchen vom Christkind hörten. Opapa hatte unten in seinem Zimmer durch die Decke das Getrappel der Kleinen gehört, kam mit schwerem Schritt die Treppe hoch, nahm Mie und Lilo, die den kleinen Franzkarl hinter sich herzog, an die Hand und führte sie in den kleinen Salon. „Schaut her, sagte er zu ihnen, „unser Christkind schläft zufrieden in seiner Wiege.“ Er kämpfte mit den aufsteigenden Tränen, als er lächelnd auf sein jüng­stes Enkelkind sah. Wie sehr würde sich Mary jetzt mit ihm freuen.

Unter dem Arm hatte Richard ein kleines, in Zeitungs­papier gewickeltes Päckchen und legte es unter den Lich­terbaum. Als Else es auspackte, rief sie freudig überrascht: „Oh Papa, du malst wieder!“ Wie oft hatte sie an manchen Wochenenden gesehen, wie die Eltern gemeinsam an ihrer Staffelei saßen. Während Mary Federzeichnungen von Motiven aus dem Spessart oder Portraits mit Ölfarben schuf, begann Richard, die prächtigen Blumen, die im Park wuchsen und die idyllische Landschaft oder seine Jagdtro­phäen mit Pastellfarben in seinen Stillleben festzuhalten. In den letzten Wochen hatte er wieder begonnen, mit Oskar Hagemann in seinem Atelier im Schlosspark zu malen, wo der Maler ihm einen eigenen Raum zur Verfügung stellte. Doch Richard war nicht mehr der Unterhaltsame und Hu­morvolle. Marys Tod hatte ihn bis ins Mark getroffen. In­zwischen planten Hagemanns ihre Rückkehr nach Karls­ruhe. Die geselligen Abende im Hause Wehsarg ge­hörten der Vergangenheit an. Es gab nichts mehr, was das Künst­lerpaar in Sommerau noch halten konnte.

Heute zeigte Richard sein neuestes Werk der Familie: die vollerblühten Sonnenblumen vom letzten Herbst in einem schmalen vergoldeten Rahmen hinter Glas. Else atmete auf. Ihr Vater war wieder zurückgekommen ins Leben.

Nach dem Essen ging Hermi zu Mutters Flügel und spielte Stille Nacht … Richard schloss die Augen und lauschte, er erkannte Marys Anschlag. Auch Hermes konnte dem schweren Instrument mit einer Sanftheit eine perlende Melodieführung entlocken, die alle tief berührte und sie begann zu singen, wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Else stimmte ein und auch die Kleinen mit ihren glockenhellen Stimmen. Richard blieb stumm, die Erinnerung überfiel ihn, er war wehrlos. Alle sehnten sich nach der vertrauten Weihnachtsstimmung wie all die Jahre zuvor und hatten doch gleichzeitig nur einen Gedanken: Ma ist bei uns. Elses Stimme wurde von Tränen erstickt, nach und nach ver­stummten alle, bis die kleine Liselotte alleine mit ihrer zarten Stimme die erste Strophe beendete.

Hermes holte ihr Gedicht unter dem Baum hervor und begann zu lesen:

Einst zog sie jung und möwengleich

von weither übers Meer.

In ihr des Frühlings Hoffnungsreich;

sie liebte die Welt so sehr.

Dann war sie Amselsommersang,

kannte Liebe, Freud‘ und Leid,

sang zu der Abendglocken Klang

von Glück und Traurigkeit.

Früh kam der Herbst. Ein blinder Sturm

trug sie auf Schwingen fort,

stark wie der Falke auf dem Turm.

Wohin? An welchen Ort?

nach Irene Fischer

Wie sehr Mary ihnen allen fehlte, spürten sie gerade heute. Noch immer mangelte es ihnen an Zeitgefühl, doch der Kalender sagte ihnen, dass sie bereits seit sieben Monaten nicht mehr unter ihnen lebte. Sie war der Mittelpunkt der Familie gewesen. Nun war ihr Platz leer und doch ihre Anwesenheit immer noch in jedem Winkel des Hauses, im Garten und im Malepartus zu spüren. Else ertappte sich immer wieder, dass sie – mitten im Alltag - zum Flügel blickte und erwartete, wie seit ihrer Kindheit, dort die Mutter zu sehen; immer noch hörte sie die vertrauten Klänge, wie früher Tag für Tag, und summte mit. Mary fehlte ihnen allen so sehr, dass - trotz der Ablenkung durch die Kinder - der Schmerz ihre Lebensfreude immer wieder lähmte.

An manchen Tagen war es Else, als würde sie erst jetzt die Endgültigkeit erfassen und die Trauer ergriff erneut ihre Brust mit einer Heftigkeit, dass sie in Tränen ausbrach und die Sehnsucht nach der Mutter sie aufstöhnen ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie mit ihr auch ihre einzige Freun­din verloren hatte, dass es nun niemanden mehr gab, mit dem sie so offen über alles reden konnte, was sie bewegte, wie mit ihrer geliebten Ma.

Urplötzlich war eine Stille im Zimmer, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Und mit einem Mal war diese Andacht erfüllt vom Aroma des vertrauten Par­fums mit dem dezenten Lavendelduft und einem Hauch Bergamotte, als ob die geliebte Mutter anwesend wäre. Else schloss die Augen, sie konnte es sich nicht erklären und wusste doch: Ma ist bei uns. Sie spürte ihre Arme, so wie nie ein Tag vergangen war ohne eine herzliche Umarmung von ihr und ohne ein paar liebevolle Worte.

Und ganz plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl von einst, die Liebe der Mutter. Else hörte in ihrem Inneren die wohlklingende Stimme mit dem vertrauten amerikanischen Akzent, wenn sie - wie jedes Jahr - vom Wunder der Christnacht sprach, das in uns allen geschieht, wenn wir dazu bereit sind. Sie hörte, wie Ma mit ihrer sanften Stimme sagte: „Mein Elsle, das Leben in der Liebe geht weiter als der Tod.“ Else war sich sicher, Mutters Hand zu spüren, die ihr liebevoll und zärtlich die Wange streichelte. Sie legte eine Hand auf die Brust und atmete tief ein. Ja, dies war ihr Wunder dieser Christnacht. Sie würde den Geist dieses Hauses weiterpflegen, Marys Herzensgüte wie ein Vermächtnis bewahren und mit neuem Leben erfüllen. Else erhob sich, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn schweigend, zum allerersten Mal seit Mutters Tod, und ging mit dieser liebevollen Umarmung von einem zum anderen.

In der darauffolgenden Woche hatte Richard seine Pra­xistätigkeit wieder aufgenommen. Nach und nach fand er auch erneut Freude daran, Artikel und Kurzgeschichten, aus denen die Liebe zu seinen „Spessartern“ und ihrem kantig-herzlichen Naturell sprach, für die „Spessartzeit­schrift“ zu verfassen. Unermüdlich war er wieder das Sprachrohr für die Sorgen um die wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Spessartbewohner. Als Arzt im Spessart, seiner Wahl­heimat, trat er in all den Jahren immer nur für das Wohl „seiner Spessarter“ ein, war vertraut mit ihren Sorgen und Freuden, ihren Wäldern, ihren Feldern und Wiesen. Er kannte die Bauern, Köhler, Fuhrleute, Holzhauer, die er bei ihrer Arbeit beobachtet hatte. Und mit den Jahren erhellte nach dem Tod seiner geliebten Frau nun vor allem die Ma­lerei mehr und mehr seinen Lebensabend.

Seine Jüngste, die erst 19-jährige Hermi, wohnte mitt­lerweile in Altona bei Onkel Franz, Marys Bruder, und sollte dort als Arzthelferin in seiner Praxis ausgebildet wer­den. Bevor sie abgereist war, hatten die beiden Schwestern begonnen, die schönen Kleider ihrer Mutter untereinander aufzuteilen und waren sich nicht immer einig. „Ich möchte so gerne Mas Ring nach Altona mitnehmen, damit ich et­was von ihr bei mir habe“, bat Hermi ihre Schwester. Schweren Herzens trat Else ihr den wertvollen Diamantring ab, den Mary schon vor ihrer Heirat besaß und den sie nie abgelegt hatte.

Die große Schwester war ein wenig neidisch auf die jüngere, die nun in Altona ein unabhängiges Leben führen konnte, wogegen sie selbst im Elternhaus blieb und - wie für alle selbstverständlich - die Aufgaben ihrer Mutter übernommen hatte. Trotz all ihrer Bemühungen wurde sie das Gefühl nie los, nicht genug zu tun, denn Papa und Bru­der Franz, der regelmäßig heimkam, hatten ständig etwas auszusetzen. In Hermi sah Else das verwöhnte Nesthäk­chen. Eine Bitte von Dir hat Pa noch nie abgeschlagen, wogegen er sich mir gegenüber oft als geizig zeigt!, be­klagte Else sich im Brief an ihre Schwester. Sie selbst hatte keine Einnahmen und Ludwig verdiente noch nicht genug, um die Kosten für das Haus und die Angestellten überneh­men zu können. Die Haushaltsführung lag inzwischen in Elses Hand und es war ihr äußerst unangenehm, wenn sie ihren Vater nun um Geld bitten musste. „Er ist so knausrig, gibt mir immer nur kleine Summen, als ob er Sorge hätte, ich würde zu viel ausgeben“, klagte Else. „Papa ist immer noch genauso schweigsam wie früher. Ich weiß über die finanzielle Situation im Haus nicht Bescheid, zudem ver­schickt Vater seine Praxisrechnungen immer selbst.“

Richard, der es als seine väterliche Pflicht ansah, seine jüngste Tochter darin zu unterstützen, sich ein eigenständi­ges Leben aufzubauen, hatte dafür gesorgt, dass Marys Bruder sie in seine Familie aufnahm. Nun, da sie zum ers­ten Mal so weit von ihm weg war, vermisste er sie. In Hermles Gesicht fand er dasselbe Leuchten, wenn sie lä­chelte, wie bei seiner Frau. Es war Marys strahlendes We­sen, eine Anmut, die ihm vertraut war, wenn er nun sah, wie seine Jüngste auf Menschen zugehen und sie in den Bann ziehen konnte. Je mehr er erkannte, wie ähnlich sie ihrer Mutter war, umso mehr vermisste er sie und schrieb ihr schwermütige Briefe nach Altona. Die Tochter plagte im fernen Norden immer mehr das schlechte Gewissen, gerade jetzt nicht an Vaters Seite zu sein. Dass sie schon lange die Sehnsucht in sich trug, endlich einmal etwas von der Welt zu sehen, wussten die Eltern seit einiger Zeit. Nun hatte der Vater selbst eingesehen, dass ihr als jüngere Schwester an Elses Seite im Elternhaus kein eigenständiges Arbeiten möglich war.

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390 стр. 1 иллюстрация
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9783742741691
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Bookwire
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