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Fritz-Jürgen Schaarschuh

DIE PILZNER

Auf Pilzpirsch in der Dübener Heide

Ein Pilzbuch für fortgeschrittene Anfänger

Zweite überarbeitete Auflage

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright der Erstauflage (2009) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Copyright der zweiten Auflage (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlag-Fotografien © Burkhard Willert

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Geleitwort

Torsten Gaber, Leiter NaturparkHaus Dübener Heide

Vorwort zur Neuauflage

Fritz-J. Schaarschuh

Wieder ein Pilzbuch!

(Zur Einführung)

Landschaft mit Pilznern

(Friedo stellt Hellmut und die Gegend vor, in der er wirkt)

Pilze sammeln oder suchen?

(Friedo gibt Strategie und Taktik des Pilzners preis)

Ein Männlein steht im Walde ...

(Friedos neue Erkenntnisse zur Kulturgeschichte des Fliegenpilzes)

Myzel + Fruchtkörper = Thallus = Pilz?

(Hellmut übersetzt Pilzwissenschaftliches)

Pflanze oder Tier oder was?

(Friedos Erwägungen)

Pilze kommen – oder nicht

(Hellmuts Wege der Erleuchtung)

Pilze und Pilzbücher

(Warum Gerda beinahe um Wolli hätte trauern müssen)

Unterwegs in die Dübener Heide

(Schon die Fahrt ist ein Erlebnis, meint Gerda)

Gesunder Wald und liebliche Landschaft

(Hellmuts Heidefreud und -leid)

Bauchgefühle

(Wollis Pilztornado)

Waldpilze und Waldtiere

(Wolli über die Pilzschädlinge)

Wie die Alten, so die Jungen

(Gerda erzählt von ihrer Tochter, als diese noch zur Schule ging)

Ins Holzland

(Friedo in der Wirklichkeit seines ewigen Pilztraumes)

Wieviel Mensch braucht der Pilz?

(Wie Hellmut dem Friedo den sozio-mykologischen Ball zuwirft)

Wie die Waldpilzbürokratie zuschlägt

(Friedo, bestinformierter Pilzner, als guter Referent und schlechter Visionär)

Ein Pilznarr

(Porträtiert von Gerda)

Der Habichtspilz

(Wolli vom Besucher zum Aussteller)

Die Haldenpilze

(Wolli entdeckt neue Habitate)

Ein Birkenpilzparadies

(Friedo weiß jetzt, dass die drängende Erwartung, was wird, dich blind macht für das, was gerade ist)

Frische Maronen zu Weihnachten

(Wolli sieht Zeichen)

Gerda und der Wolf

(Eine etwas andere Geschichte als bei Prokofjew)

Pilzesammeln mit dem Jagdgewehr?

(Wolli und Hellmut sorgen dafür, dass Gerda den Wolf nicht loskriegt)

Hellmuts Bilanz

(Von der Passivrolle, dem Mondeinfluss, Schockkalkung und Massenansturm)

Erwartungen, Enttäuschungen und andere pilzige Gedanken

(Aus Gerdas Pilzphilosophie)

Antwort auf Fragen, die immer wieder gestellt werden

Geleitwort

Torsten Gaber, Leiter NaturparkHaus Dübener Heide

Dieses kurzweilige Buch macht Lust auf unsere Heimat, auf das Erlebnis Dübener Heide. Gehen Sie mit Heidefreund Fritz-J. Schaarschuh auf eine besondere Endeckungstour vor der Leipziger „Haustür“. Dem Autor Dank, Erfolg und ein kräftiges Frisch auf!

Vorwort zur Neuauflage

Fritz-J. Schaarschuh

Die vorliegende zweite Auflage der „Pilzner“ konzentriert sich mit größerer Kapitelzahl und Themenvielfalt auf den Naturpark Dübener Heide. Sie folgt damit einem wachsenden Orientierungsbedürfnis von Heidebesuchern – ob Urlauber, Kurgäste, Tagesausflügler – und auch Einwohnern, die sich für Waldpilze interessieren. Neu aufgegriffen sind u. a. Themen zu Speisepilze betreffenden Reglementierungen, bürokratischen Tendenzen und Wolfserwartung. Für Anregungen aus ihren pilzkundlichen Erkenntnissen und Erfahrungen danken wir herzlich Pilzfreunden aus der Fachgruppe Mykologie am Naturkundemuseum der Stadt Leipzig unter ihrem Pilzchef Werner Häußler.

Leipzig im Frühjahr 2014

Wieder ein Pilzbuch!

(Zur Einführung)

Wieder ein Pilzbuch? Ja, wenn auch nicht das gewohnte bunt bebilderte Bestimmungsbuch. Aber geht denn das überhaupt beim Thema Pilze? Das ist ja so, als würde ein Farbenblinder vom Regenbogen sprechen. Es geht, weil die Färbung eines Pilzes nur eines von vielen seiner Wesensmerkmale ist, und zwar ein wichtiges, oft aber ein vages. Wir wollen nicht nur versuchen herauszufinden, w a n n die Pilze erscheinen. Wir möchten zudem verraten, w o wir sie finden können.

Aber Zauberer und Pilzsammler bewahren doch seit eh und je ihre Geheimnisse, geben sie höchstens Ihresgleichen weiter?

Stimmt. Doch wir wollen aus anderer Sicht herangehen und beitragen, dass die Natur weiter bereit halten kann, was alle Pilzfreunde beglückt. Dabei geben wir uns auch der Faszination hin, die für uns vom Reich der Pilze ausgeht. Uns beeindruckt dabei und irritiert zugleich, dass wir nicht verstehen können, was uns die Pilze vorgaukeln. Noch immer, jetzt im 21.Jahrhundert, will uns scheinen, dass es nur der Pilz selbst sein kann, der uns seine Rätsel preisgibt. Dazu jedoch müsste er sprechen können. So aber machen wir es uns leicht und schieben ihm in die Schuhe, was uns bedrückt: Warum er sich so oft nicht an die Regeln hält, die er uns anscheinend offenbart hat! Warum bringt er uns so oft in eine solche Situation wie zum Beispiel in die folgende?

Vier Tage Landregen, davor ergiebige Gewittergüsse. In der Pause, die der August macht, erfrischt sich die Natur. Über Nacht sind bei dir vor der Haustür die Pilze geradezu gesprossen. Champignons auf dem Zierrasen, Rindenmulchpilze unter den Hecken, pflatschige Kremplinge und kernige Ritterlingsartige im Vorgarten sogar unter der Linde.

Wie müssen da erst die Pilze im Wald geschossen sein, denkst du und sagst dir: Jetzt musst du in den Wald, jetzt!

Du erkämpfst dir einen halben freien Tag, machst dich frühzeitig auf den Weg, erreichst schon kurz nach acht deinen Lieblingsforst, steigst nach einer Stunde Fahrt aus dem Auto – und reibst dir die Augen. Kein einziger Pilz ist zu sehen. Nicht unter den Buchen und Eichen, nicht am Kiefernhang, nicht im Lärchenhain. Nicht das geringste Pilzlein weit und breit.

Wie kommt das?

Kein Sachverständiger, kein Pilzbuch kann dir darauf befriedigend antworten. Eher schon eine wissenschaftliche Analyse. Und selbst die tut sich schwer, dein pilzernes Problem zu klären. Die Welt der Pilze birgt ja noch so viel Unbekanntes, Überraschungen und Geheimnisse. Die Bücher geben dir manche Hilfestellung mit Fakten und Faktoren, auch mit begründeten und begründenden Mutmaßungen, mehr können sie nicht tun. Und spekulieren dürfen sie nicht.

Wir aber dürfen spekulieren! Und wenn wir ein klein Wenig flunkern, dann natürlich im ungiftigen Detail. Wir tun es dann, wenn die Frage „wie kommt das?“ nicht beantwortet werden kann und zu der Überlegung führt, „wie könnte das kommen?“

Übrigens – wir, das sind vier Pilzfreunde, die ihre Streifzüge oft gemeinsam unternehmen und in den einzelnen Kapiteln zu Wort kommen, hier am Beginn aber in ein gemeinsames Sprachrohr sprechen.

Unsere Grundausstattung dafür, Pilzwissen weiterzugeben, sind zunächst Erfahrungen. Erfahrungen dieser Pilzfreunde einschließlich deren Eltern und, soweit noch vorhanden oder erinnerlich, auch Großväter oder Großmütter. Diese Erfahrungen sind zusammengerechnet mehr als vierhundert Jahre alt.

Sicherheitshalber setzen wir, wenn wir auf das Rätselhafte, Wundersame oder Kuriose zu sprechen kommen, auch Gestik und Mimik ein. Wir zwinkern dabei lieber mit dem Auge, als dass wir mit der Schulter zucken. Der Leser wird es schon richtig deuten. Er versteht beispielsweise ja auch, dass der Stopfpilz eine bei uns ausgestorbene Art ist und die Pilzköpfe musikalisch sind.

Keinesfalls aber wollen wir ihn an der Nase herumführen. Das ganze Gegenteil ist unsere Absicht. Wir wollen, dass er die Nase vorn hat, wenn es für ihn wie für viele Pilzfreunde am Sonntag gilt, seinen Kindern oder seiner neuen Freundin ein gutes Pilzrevier zu zeigen.

Ach so, wir sind Ihnen noch eine Antwort schuldig. Nämlich wie es gekommen ist, dass die Pilzschwemme vor der Haustür, nicht aber im Wald eingesetzt hat. Hier ist sie: Das hat damit zu tun, dass die Waldpilze, um die es uns vor allem geht, mit den Waldbäumen eine Lebensgemeinschaft für immer eingegangen sind. Und damit anderen Umweltbedingungen zur Herausbildung der Fruchtkörper unterworfen sind, als die Pilze, die sich um Heckengesträuch und Lindenbaum überhaupt nicht scheren, weil sie von abgestorbenen Pflanzen leben. Nebenbei gesagt, die Linde würde auch jeden Pfifferling kalt lassen, geschweige denn den Steinpilz. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass ausgerechnet auf den fraglichen Quadratkilometer Waldfläche seit einer Woche kein Regen gefallen ist; immerhin gab es Landregen und keinen Waldregen, wie man sagt. Oder der Mond hat nicht mitgespielt. Vielleicht ist auch schon der Gemeine Myzelschlucker, eine australische Maulwurfskäferart, eingewandert und hat die unterirdischen Pilzstränge aufgefressen. Oder aber ...

Und noch eines. Im Gegensatz zu den üblichen Pilzbüchern haben wir uns ein anderes Aufgabenfeld abgesteckt. Wir weisen nicht speziell und systematisch aus, welche Pilze alle essbar und welche giftig sind und woran man das erkennen kann; greifen Sie dazu zu den dicken oder dünnen Bunten in Ihrem Bücherregal. Dafür bringen wir Ihnen einiges vom Hintergrund näher, vor dem unsere vier Pilzner ihrem Hobby nachgehen. Beispielsweise, was den Pilzner vom Pilzgänger unterscheidet und beide wiederum vom Pilznarren. Oder wie man für sich ein neues Pilzterrain erschließt, was man von den Wetterkapriolen halten soll und was genügend Pilze mit gesunden Waldbäumen zu tun haben. Und – wie bieten sich die Pilzgründe zwischen und neben Schwarzer und Weißer Elster, vor allem aber in der Dübener Heide, heute dar?

Landschaft mit Pilznern

(Friedo stellt Hellmut und die Gegend vor, in der er wirkt)

Es ist eine Landschaft im Norden von Sachsen. Ihre Ost-West-Breite durchziehen viele Flüsse und Flüsschen von der Elbe bis zur Saale im Sachsen-Anhaltinischen. Und alle Flussläufe tragen ein l in ihrem Namen, den flüssigsten aller Fließlaute; es fließt halt schon im Wort: Nach der Elbe die Mulde, die Pleiße, die Weiße Elster. Und dazwischen die Eula, die Gösel, die Luppe, die Nahle. Und wenn es nicht das l ist, dann der andere Fließlaut, nämlich das r wie in Parthe, Schnauder, Zschampert.

Die Häufung der fließenden Namen der wieder fischfreundlichen Flüsse und Flüsschen im Einzugsgebiet der Elbe ist wohl einmalig in unseren Breiten. Und doch erinnert dieser Landstrich westlich von Oschatz und Wurzen und östlich von Merseburg und Weißenfels, Leipziger Tieflandsbucht genannt, eher an ein Trockendock, nicht nur wegen des permanenten Niederschlagsdefizits. Noch, muss hinzugefügt werden, was Leipzig mit seinem Umland betrifft. Das war in früheren Zeiten, sagen wir bis zu Napoleon und einige Jahrhunderte davor und in ganz ferner Zeit, ein durch und durch nasses Sumpfland mit mächtiger Elster und reißender Pleiße. Das Wörtchen „noch“ verlangt aktuell aber nach seinem Gegenpart: Schon wird das letzte große Tagebau-Restloch geflutet. Und dann ist Leipzig geografischer Mittelpunkt vieler großer Seen im Süden, Westen und Norden. Und endlich nicht mehr inselhafter Schonplatz inmitten hässlicher, stinkender, dreckiger Braunkohlelöcher, aktiver und übriggebliebener. Die Umgebung der Stadt wird wie zu ihrem Beginn ein wasserdurchädertes, dazu noch von Seen umschlossenes Stück Erde.

Während also von unseren Vorfahren das l vorrangig den Flüssen und deren Landschaften verliehen wurde, lebten die ersten Bewohner rechtschaffen in ihren Gehöften und Ansiedlungen. Deren heutige Gemeinden haben den eleganten Selbstlaut ö in ihrem Namen. Beispielweise ist jeder zweite Ortsname im Süden und Südosten der Großstadt durch seine ö-Lautung geprägt. Und ausgerechnet Gemeinden mit dem bevorzugten Gesangslaut sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hart gestraft worden. Dort hatte man für die wirtschaftlichen Fehlleistungen und Mangelaufkommen im Diktatsgebiet des Proletariats unter der ruhmreichen Führung der beiden Handwerkergesellen am härtesten zu büßen. So Mölbis, in Fauchweite des Schwefel und Ammoniak speienden Chemiedrachens von Espenhain gelegen. Selbst an sonnenklaren Tagen mussten oft Fackeln den Straßenverlauf markieren, Hauterkrankungen häuften sich vor allem bei Kindern, Pflanzen gingen ein und starben ab. Mölbis, das bis 1990 wohl am stärksten verschmutzte Dorf Europas, ist heute eine blitzblanke Gemeinde mit stolzen Neusiedlern. Oder nehmen wir Rötha, das Nachbarstädtchen eines Chemiegiganten und Kohlekraftwerkes, dessen berühmte Silbermannorgeln in den beiden Kirchen zu schweigen begannen. Zu schweigen begannen, als ihre Blasebälge von der Orgellungen-Tbc zerfressen zu werden drohten, sagt man; heute ist Rötha ein schmucker Ort, der den täglichen Einfall von Schwefel-, Kohlenstoff- und andere Erstickungsdioxiden, dennoch – fast – unbeschadet überstanden hat. Böhlen, eine großchemiegeplagte, fleißige Aschenputtelgemeinde, von deren Industrieabwässern die Pleiße ihr liebstes Reimwort bezog, ist heute eine ruhige und bescheidene Ortschaft, in der, wie woanders auch, die toten Fenster in den aufgefrischten Häusern und nicht mehr die Atemwegserkrankungen ständig zunehmen. Dann gibt es noch Löbschütz, Pötzschau, Großzössen, Oelzschau, Köhra, Großpösna und weitere Ö-Gemeinden.

„Und blöde und störrisch und nörgeln und dösen“, fügte Hellmut hinzu, als während einer Pilzwanderung die Rede auf das Ö kam.

„Und schön und fröhlich und versöhnen“, konterte Gerda.

Als Mann der Buchstaben nahm ich es gelassen, wusste ich doch, dass Hellmut ein Mann der Zahlen war. Hellmut hielt es eben lieber mit berechenbaren Fakten, statistischen Werten und abgesicherten Erfahrungen, was ihm als alten Mathematiklehrer auch gut zu Gesicht stand. Jeder von seinen Mitpilznern profitierte von den Ergebnissen seiner Überlegungen. Wenn es nämlich an die Absprachen zum gemeinsamen Hobby ging, wann die nächste Fahrt in welche Pilzgegend führen sollte. Er war der Älteste von uns Vieren, die in wechselnder Besetzung vom späten Frühjahr an bis zum allerletzten Ende der Saison durch die Wälder streiften. Die Mühe, die ihm das Laufen bereitete – er hatte ein steifes linkes Knie –, war ihm nicht anzumerken, sobald er Waldboden betrat. Den Gehstock, den ihm der Arzt verschrieben hatte, gebrauchte er nur einmal, um ihn in die Besenkammer zu stellen. Ursprünglich war Hellmut Pilzgänger im Erzgebirge, wo er seine Jugend verbrachte, ehe er zum Pilzner wurde. Es waren auch andere Zeiten nach dem Kriege. Damit seine Geschwister weniger zu hungern brauchten, machte er, der schon zur Schule ging, sich mehrmals in der Woche auf, die Früchte des Waldes zu holen. Einmal, es war ein regenarmer Sommer und ein noch trockenerer Herbst, sprach die Mutter den Vorwurf aus, den er einige Male schon in ihren Augen gesehen hatte. Er nehme mehr Essbares mit in den Wald als aus dem Wald nach Hause. Während und nachdem sie das sagte, flossen die Tränen, bei der Mutter und beim Sohn. Auch noch, als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten.

Pilzgänger ist man in schweren Zeiten, wenn es am Nötigsten mangelt. Wenn die Marone das Fleisch, der Pfifferling das Gemüse und der Pfeffer-Röhrling die Würze ist. Dann geht man allein hinaus und hütet sich gesehen zu werden. Wegen der guten Weidegründe, nach denen auch Andere aus dem Dorfe unterwegs sind. Heute ist man Freund der Pilze aus ganz anderen Motiven heraus. Und damit ist man mit anderen Pilznern locker vergesellschaftet, wie es der Mykologe sagen würde.

Hellmut bewahrte seine Achtung vor dem Wald und sein Interesse an allem, was dort wächst, läuft und fliegt, über all die Jahre hinweg, da er als Lehrer und Dozent von der Großstadt festgehalten wurde. Seiner Liebe zur Natur und zur heimatlichen Landschaft tat es keinen Abbruch. Im Gegenteil. Er wurde aktiver, je schneller die Fichten im Erzgebirge eingingen. Die Stasi legte einen weiteren „Vorgang“ über ihn an, also eine zweite Akte, nachdem er 1984 eine Staatsratseingabe gemacht hatte. Er wies darin exakt nach, dass das Erzgebirge das in seiner Längenausdehnung größte umweltgeschädigte Gebiet der Erde ist. Und wann die zuständigen Ministerien und auch die gewählten Volksvertreter endlich konkrete Maßnahmen gegen das Waldsterben einleiten würden. Darauf hin kam es zu einem Treffen mit dem Stellvertreter des Ministers für Landwirtschaft, er wies sich jedenfalls so aus. Das Treffen fand auf einer Parkbank in den Grünanlagen vor dem Hauptbahnhof in Leipzig statt. Nicht, dass eine schriftliche Antwort gegeben worden wäre, wie es das Eingabengesetz vorsah. Im Vorfeld zu dieser Angelegenheit konnte auch über die Partei nichts abgeblockt werden. Und das Zimmer des Parteisekretärs stand den Parteilosen nur offen, wenn die Partei etwas von ihnen wollte. Hellmut war lediglich Mitglied des Kulturbundes.

Das Ergebnis: „Im Prinzip mag das so stimmen. Uns sind aber die Hände gebunden ... Und im Vertrauen auf Partei und Regierung werden die Werktätigen der DDR ...“

Kurz danach fand Hellmut heraus, dass die Energie von zwei Braunkohlebriketts notwendig ist, um bestenfalls drei Briketts herzustellen. Mit diesem Energiesatz arbeiteten auch die Entwicklungsingenieure, Bergbau- und Kraftwerkstechniker, weniger aber die Funktionäre der SED, die willkürlich ein ökonomisch besseres Verhältnis ansetzten und propagierten. In der Wirklichkeit gab es Fälle, da die Planerfüllung nur auf dem Papier stand.

Und dafür wurde Mutter Erde geschändet, wurde wertvolle Landschaft vernichtet. Wurden die Menschen in Magdeborn, Eythra und anderswo entheimatet, in über 60 Gemeinden zusammengenommen seit Beginn des Kohleabbaus. Die Bergleute hatten ihr gutes Auskommen, richtig. Sie und ihre Angehörigen und die Städter um sie herum hatten weit überdurchschnittliche Raten an Erkrankungen der oberen Luftwege, auch richtig. Den Protestierern stand die gefängnisdrohende Innenpolitik gegenüber – darauf war Verlass. Doch Hellmut wurde zu einem Aktivisten der Umweltbewegung in Leipzig, einer der Grundfesten der friedlichen Revolution vom Herbst 1989.

Und Trost, Erbauung und klaren Kopf fand er in den wunderschönen, noch intakten Auwäldern der Messestadt. Doch nur wenige der üblichen Sammelpilze! Es waren hauptsächlich Schirmpilze und Riesenboviste, was die genießbaren größeren Arten betrifft.

Womit wir wieder beim Thema wären. Nunmehr im Ruhestand, entwickelte er zur daseinsausfüllenden Liebe, was in Kindesjahren lästige Pflicht gewesen war. Diese Liebe, bekennende Hingabe, Forschungsmotivation und sportliche Aufgabenstellung im Reich der Pilze kann bei einem Menschen, der kein Einzelgänger ist, nur gedeihen, wenn sie geteilt wird. Und wenn man, wie in unserem Falle, von den Teilhabern auch profitieren kann. So umgab er sich im Laufe der Jahre seit seiner Verabschiedung von der Universität mit Gleichgesinnten, von denen Wolli, Gerda und ich den harten Kern um die „Keimzelle“ Hellmut bilden. Sogar die Lautung der Vornamen hatten wir unseren gemeinschaftlichen Streifzügen in den näheren oder ferneren Pilzwäldern zu verdanken. Zweisilbigkeit war Bedingung. „Friedo“ ruft sich zur manchmal notwendigen gegenseitigen Ortung viel deutlicher als Friedrich, „Wolli“ kann auch sehr laut gerufen werden und ist gegenüber Wolfgang so gut wie unverwechselbar, und Gerda heißt eigentlich Grit. Da wäre aber jedes Pilzmännlein erschrocken und vor Scham in den Waldboden versunken, hätte einer das klanglose „Grit, Grit“ gerufen. Es klang wie „igitt“. Grit selber hätte womöglich das eine oder andere Mal den Weg oder den Treffpunkt verfehlt.

Wir fanden uns, weil ein jeder auf der Suche nach der geheimen Wirklichkeit im Reich der Pilze war. Und weil jeder einen anderen waldgerechten Wesenszug hatte und einem anderen Beruf nachging. Weil wir unterschiedlichen Alters und verschiedenen Familienstandes waren. Die eine Seite war das gemeinsame Interesse, die andere Seite die Vielfalt der Kanäle, aus denen der Brennstoff für die Flamme der Begeisterung munter floss, von der diese Vorliebe, ja Leidenschaft, gespeist wurde. Das galt für den Vertreter der exakten Wissenschaften genauso wie für den zögerlichen Schöngeist, der in seiner Handlung überwiegend auf Erfahrung und in seiner Denkweise das meiste auf Sozialbezogenheit setzt. Das galt für den jungschen Hüpf-in-die-Welt mit seinem Hang zu esoterischen Betrachtungsweisen genauso wie für die charmante junge Frau und, später, realpolitische Hausfrau, die ihre Familie nur allzu gern mit ihren Pilzrezepturen verwöhnte.

So zogen wir denn schon ein viertel Jahrhundert lang durch die Kiefernwälder des Flämings, die Nadel- und Laubbaumgesellschaften in der Dübener Heide, die sandigen Kiefernforste in der Niederlausitz, die Waldgebiete hinter Dahlen und vor Wermsdorf, die bescheidenen Nadelwaldpartien im Colditzer Forst und die kleineren und größeren Waldflecken im Thüringischen Holzland. Selbst die dünn gesäten Buchenwaldungen entlang Saale und Unstrut ließen wir nicht aus. Hier begann sogar unser Pilzjahr im April mit den lange tapfer umherstehenden Mairitterlingen und den lustigen kleinen Speisemorcheln und Verpeln.

Übrigens kann ein Pilzfreund nur dann ein Pilzner werden, wenn er auf dem flachen Lande und weit ab vom nächsten Wald zu Hause ist. Schon der lange Anfahrtsweg voller gespannter Vorfreude prägt den Pilzner. Zumal er dabei beste Gelegenheit hat, sich über Natur, Wald, schlechte Pilze und gute Politik und umgekehrt immer wieder mit seinen Mitpilznern auszutauschen. Pilzner vertiefen und erweitern ihr Pilznertum gegenseitig. Das gilt natürlich auch unter solchen, die sich zufällig oder als Unbekannte am Wege treffen. Ihre Begeisterung für Pilze grenzt oft an Pilzbesessenheit. Das bringt selbst beim eigenbrötlerischen Waldschrat unter ihnen ein mykologisches Mitteilungsbedürfnis und die Begierde zum Ausbruch zu erfahren, wie und ob sich der Waldgang lohnt. Unterschiede in sozialer Stellung, Bildung und anderen gesellschaftlichen Bezügen gibt es nicht, wenn der Pilzner mit dem Pilzner ins Gespräch kommt. Dabei wird natürlich auch Pilznerlatein gesprochen.

Je ärmer eine Gegend an Fichten-, Kiefern- oder Buchenforsten ist, desto zahlreicher und aktiver sind ihre Pilzner. Eine solche waldarme Gegend, sogar die ausgedehnteste überhaupt, ist Leipzig mit seiner nahen und weiteren Umgebung. Das lehrt uns ein Blick auf die Deutschlandkarte. Damit hängt auch zusammen, dass der Pilzner keine Landes- oder Kreisgrenzen kennt. Jeder Pilzner ist dem anderen ein aufgeschlossener, mit Pilzen im Korb auch stolzer Gesprächspartner, egal aus welchem Bundesland er kommt. Wir sind Hessen und Schwaben im Wald begegnet, die wir aus der Stadt in Schlips und Kragen kannten. Nichts da im Wald von wegen Besserwessi! Der Pilzner pflegt keine Vorurteile und Klischees. Zum Beispiel finden die üblichen L-Vorbehalte gegenüber den miesen SK- und HAL-Fahrern unter Pilznern nicht statt: Der Autofahrer aus Leipzig sieht keine Gefahr im Autolenker aus dem anhaltinischen Saalkreis und aus Halle oder im Brandenburger Alleen-Flitzer und Thüringer Waldschleicher. Der Gedanke der Nachbarschaftlichkeit ist so gut ausgeprägt, dass die hoheitliche Bürokratie eigentlich schon einschreiten müsste.

399
479,23 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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160 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783957442819
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