Читать книгу: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 522»

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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-930-7

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Der Fluch von Nan Madol

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Sie sahen in der Insel ihre Rettung – doch dann geschieht das Unfaßbare …

Wer die heilige Ruhe der Herrscher aus dem Geschlecht der Nahnmwarki stört, den wird der Fluch der Geister von Nan Madol treffen.“

So stand es sinngemäß auf den geheimnisvollen Grabsteinen. Aber das erfuhren die Seewölfe erst später. Das Verhängnis nahm allerdings schon jetzt seinen bedrohlichen Verlauf. Die Geister von Nan Madol traten in Aktion.

Als Edwin Carberry, Ferris Tucker und Dan O’Flynn das leise Knistern hörten, war es schon zu spät. Sie befanden sich in einer grabenartigen Rinne, die links und rechts durch hohe steinerne Wälle abgegrenzt war. Die Wände waren oben mit dornigem Buschwerk besetzt. Die Rinne führte auf einer schräg geneigten Ebene nach oben.

Das Knistern wurde lauter und bedrohlicher, und dann sahen sie das Monstrum, das mit tödlicher Präzision heranwalzte. Es war etwa tonnenschwer und von oben bis unten mit armlangen tödlichen Stacheln gespickt, die erbarmungslos alles zerquetschen würden, was sich im Weg befand.

Und das Ding rollte und rollte …

Die Hauptpersonen des Romans:

Philip Hasard Killigrew – Der Seewolf steht bange Sekunden durch, als drei seiner Männer in entsetzlicher Lebensgefahr schweben.

Don Ricardo de la Marcarena – Der selbsternannte Generalkapitän möchte Gouverneur werden und wünscht sich von König Philipp eine goldene Badewanne.

Virgil Aldegonde – Gehört zum „Hofstaat“ Don Ricardos und ist auch ein bißchen verrückt.

Raia – Nur ein Zufall bewahrt die Häuptlingstochter vor einem qualvollen Tod.

Edwin Carberry – Der Profos ist kein Freund von Grabbesichtigungen und hat etwas gegen „Knochenmänner“.

1.

Philip Hasard Killigrew war mit dem jetzigen Stand der Dinge ganz zufrieden. Nach wochenlanger Irrfahrt über den Pazifik hatten sie endlich eine paradiesische Insel gefunden, die sie mit Trinkwasser und frischen Früchten versorgte.

Sie hatten auch das Wrack einer spanischen Galeone entdeckt, mit fast zwanzig Skeletten, die sich im Laderaum befunden und ihnen etliche Rätsel aufgegeben hatten. Die Krönung der Entdeckung war jedoch ein Kompaß gewesen, der jetzt als wichtigstes Navigationsinstrument auf dem Achterdeck der „Santa Barbara“ von Ferris Tucker eingebaut wurde. Dieser Kompaß war für die Arwenacks mehr wert als alle Schätze der Welt.

Sehr besorgt sahen sie zu, wie der rothaarige Schiffszimmermann das Kompaßgehäuse auf dem Achterdeck installierte. Da dieser Kompaß fast ein Heiligtum war, wurde auch nicht mit guten und besorgten Ratschlägen gespart. Anfangs ließ Ferris Tucker sie noch geduldig über sich ergehen, aber so langsam gingen ihm die Kerle mit ihren gottverdammten Ratschlägen auf den Geist.

„Vorsichtig, vorsichtig“, sagte Mac Pellew besorgt, als Ferris den Hammer zur Hand nahm. „Nicht so hart schlagen.“

Ferris verschluckte fast die Kupfernägel, die er zwischen den Zähnen hielt, um beide Hände frei zu haben. Sein Blick wurde finster und unheilverkündend.

„Paß auf, daß du das Gehäuse nicht zerschlägst“, tönte der Profos. „So schnell finden wir keinen neuen Kompaß mehr.“

Auf Ferris Stirn schwoll jetzt eine Zornesader an.

„Nicht so schräg halten, das Ding“, warnte Smoky. „Sonst kippt es vielleicht noch um.“

„Ich weiß“, knurrte Ferris. Die Worte, kamen tief aus der Kehle und klangen wie das Brummen eines gereizten Bären. „Ich habe schon mal mit Holz gearbeitet.“

Der Profos, der seinen Freund genau kannte, hielt sich jetzt ein wenig auf Distanz, denn es gab einen Punkt, an dem der ruhige Ferris unberechenbar werden konnte. Er wollte auch den übereifrigen Mac Pellew noch warnen, doch dann unterließ er es. Vielleicht war es ganz gut, wenn der Sauertopf mal kurz bei Ferris in die Lehre ging.

Wieder beugte sich Mac Pellew vor. Er zeigte auf eine Stelle.

„Da müssen auch noch zwei Nägel rein. Aber hau nicht so hart zu, das verträgt der Kompaß nicht.“

„Doch, ich schlage immer hart zu“, sagte Ferris, hob den Hammer und knallte ihn Mac Pellew auf die rechte Stiefelspitze.

„Uuuuh – uuuuh!“ jaulte Mac los. Er sprang in die Höhe, fast senkrecht, und dabei jaulte er noch lauter. Dann hüpfte er einbeinig herum und hielt mit beiden Händen seinen rechten Fuß.

„Ohgottchen“, jammerte er, „mein Fuß ist gebrochen!“ Stöhnend setzte er sich auf die Planken.

„Tut’s weh?“ erkundigte sich der Profos scheinheilig. „Du siehst plötzlich so blaß aus.“

„Mein Bein, mein Bein“, jaulte Mac wieder los.

„Na, besser deins als meins“, sagte Carberry. „Ich spüre überhaupt nichts. Sollen wir das Bein vorsichtshalber abschnippeln? Den Stiefel kriegst du sowieso nicht mehr ausgezogen.“

„Mir schnippelt keiner was ab!“ schrie Mac mit Tränen in den Augen. „Aber das werde ich dem Lümmel heimzahlen!“

„Hättest ja dein Maul halten können. Ferris quatscht dir ja auch nicht dauernd in die Suppe, die du kochst, oder?“

„Aber er hat absichtlich auf mich gezielt.“

„Deine Quanten halten schon noch was aus“, beruhigte ihn der Profos. „Nun stell dich mal nicht so an. Sei fröhlich und guter Dinge.“

Aber davon war Mac Pellew noch sehr weit entfernt. Zu allem Unglück versammelten sich auch noch die anderen Kerle um ihn und bedauerten ihn heuchlerisch. Sie hatten es vorgezogen, lieber bei Mac zu sein, als Ferris gute Ratschläge zu erteilen. Wohin das führte, hatten sie ja gerade erlebt.

Jetzt konnte Ferris in aller Ruhe weiterarbeiten und auf gute Ratschläge verzichten. Die Arbeit ging ihm nun auch leichter von der Hand, und noch am frühen Vormittag stand das Kompaßgehäuse fest verankert auf dem Achterdeck.

Inzwischen waren die Zwillinge Hasard und Philip damit beschäftigt, im seichten Wasser vor dem Riff Langusten und Fische zu fangen. Mit dabei waren noch Roger Brighton, Matt Davies, Bob Grey, Luke Morgan, Batuti und Bill.

Was sich da im Wasser alles tummelte, war erstaunlich. Sie hatten mehr als drei Dutzend große Langusten, Hummer, Krabben und Fische in erstaunlich kurzer Zeit gefangen, und es wurden immer mehr. Das gab eine phantastische Abwechslung für die hungrigen Mägen.

Die Langusten krebsten auf dem Grund herum, waren in dem kristallklaren Wasser gut zu erkennen und konnten mit der Hand gefangen werden.

Die Fische angelten sie vom Beiboot aus, aber nach den Erfahrungen der letzten Wochen nahmen sie nur noch solche, die sie kannten.

Gegen Mittag, als die Sonne hoch im Zenit stand, gab es dann ein köstliches Mahl. Der Kutscher hatte das Krabben- und Langustenfleisch kräftig mit Knoblauch, Pfeffer und Salz gewürzt. An Knoblauchvorräten herrschte auf der „Santa Barbara“ kein Mangel. Die Dons hatten die scharfen Zwiebeln gleich zentnerweise eingelagert. Der Kutscher hatte dafür gesorgt, daß sie nicht verdarben und sie in Essig, Salz und Olivenöl eingelegt und dadurch haltbar gemacht.

Jetzt hockten sie alle an Deck und fielen hungrig über die Leckerbissen her.

Hasard blickte zwischen zwei Bissen immer wieder zum weißen Inselstrand hinüber. Er wußte nicht, ob die Insel bewohnt war, aber einiges ließ darauf schließen, daß es Überlebende gegeben hatte, obwohl sich niemand zeigte. Möglicherweise bewohnten auch Eingeborene das Innere dieser Insel mit ihren fruchtbaren Tälern und Schluchten.

Auch der Ausguck war ständig besetzt, damit es keine unliebsamen Überraschungen gab.

Hasard wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf das köstliche Mahl. Er wußte, daß er sich auf den Ausguck verlassen konnte, sollte wirklich etwas geschehen oder jemand auftauchen.

„Nach dem Essen setzen wir die Segel und werden ein Stück dieser Insel erkunden“, sagte er. „Wir wissen immer noch nichts über ihre Größe. Falls wir nichts Interessantes entdecken, segeln wir weiter auf unserem Kurs. Jetzt können wir zum Glück ja auch unsere Position genau bestimmen.“

„Mir gibt dieses mysteriöse Wrack immer noch Rätsel auf“, meinte Dan O’Flynn. „Wer hat es so total ausgeräumt, und wie sind die Leichen in den Laderaum gelangt?“

Der Seewolf zuckte mit den Schultern. Er hatte den Kopf halb zur Seite gedreht und blickte zu dem offenbar einzigen Riff der Insel, vor dem sie ankerten. Die Brandungswelle erhob sich in regelmäßigen Abständen, stieg donnernd und brüllend hoch und brach sich dann. Jedesmal stob eine riesige Gischtwolke auf.

„Ich weiß es leider nicht, Dan. Wenn wir das Rätsel nicht lösen, ist es auch nicht schlimm. Es sieht jedenfalls nicht danach aus, als würden wir eine Erklärung finden. Ein zweiter Gang zu dem Wrack erübrigt sich ebenfalls, denn er würde uns keine neuen Erkenntnisse bringen.“

„Na ja, wir haben ja den Kompaß“, murmelte Dan. „Das ist verteufelt viel wert.“

Der Kutscher und Mac räumten die Kummen ab und warfen die Schalen der Krustentiere über Bord. Die Zwillinge halfen. Danach überprüfte der Kutscher noch einmal die Vorräte, die sie auf dieser unbekannten Insel gefunden und an Bord gebracht hatten.

Sie hatten jetzt frisches Quellwasser, eine riesige Masse an Kokosnüssen, Brotfrucht, Papaya, Yamswurzeln und anderen Köstlichkeiten. In der Waschbalje tummelten sich Langusten, Hummer und Krebse. Für einige Zeit würden die Vorräte reichen. Aber solange sie sich hier noch aufhielten, würden sie alles mitnehmen, was zu kriegen war, denn niemand wußte, wann sie wieder auf eine Insel stießen. Das an Bord befindliche Kartenmaterial war nicht ergiebig genug. Zudem hatten es die Dons nicht gerade pfleglich behandelt.

Nachdem alles aufgeklart war, setzten sie die Segel und hievten den Anker. Das Beiboot wurde achteraus gehängt und vorläufig in Schlepp genommen.

Dan O’Flynn begann sofort damit, ihre augenblickliche Position festzustellen. Jetzt, da sie über einen Kompaß verfügten und die Sonne wieder schien, war das kein Problem.

„Ein bißchen grob über den Daumen gepeilt“, sagte er zu Hasard, „befinden wir uns zwischen dem achten und elften Grad südlicher Breite. Auf westlicher Länge liegen wir zwischen einhundertachtunddreißig und einhunderteinundvierzig Grad.“

„Dann haben wir inzwischen eine beachtliche Strecke zurückgelegt“, sagte Hasard. „Trotz Flauten und mitunter schlechten Wind. Wir werden wieder Koppelnavigation betreiben und eine provisorische Karte anfertigen, mit der wir uns besser orientieren können.“

Don Juan, der neben Hasard auf dem Achterdeck stand, hörte der Unterhaltung schweigend zu. Sein Blick war auf den Strand gerichtet, der immer noch einsam und verlassen dalag. Sie segelten jedoch so dicht unter Land, daß man mit bloßem Auge die Fußspuren erkennen konnte, die die Gruppe hinterlassen hatte.

„Hinter der Landzunge liegt das Wrack, Juan.“

Der Seewolf deutete voraus und wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick meldete sich Batuti aus dem Ausguck.

„Genau voraus ist Land zu sehen – als schmaler feiner Strich.“

An der Kimm war wirklich nur ein kaum sichtbarer Strich zu erkennen, wenn man ganz scharf hinblickte. Aber zweifellos war es Land. Ob Insel oder Festland, das ließ sich nicht erkennen.

„Festland gibt es auf dieser Strecke nicht“, sagte Hasard, als Don Juan darauf anspielte. „Allerdings sind etliche Inselgruppen so groß, daß man sich leicht irren kann.“

Sie segelten weiter, bis sie die Landzunge erreichten, von der aus Edwin Carberry das Wrack entdeckt hatte. Alle Augen waren jetzt auf den Strand gerichtet.

Dann tauchte das Wrack auf. Unverändert lag es auf dem Strand, ein von der Hitze ausgetrocknetes, uralt scheinendes Schiff mit seinem grausigen Inhalt.

„Mich würde interessieren, durch welche Umstände es hier auf den Strand gelaufen ist“, sagte Don Juan nachdenklich.

„Darüber haben wir auch schon nachgedacht. Vermutlich ist es bei Sturm oder Nebel auf das Riff geraten und weitergedriftet, bis es auf dem Sand landete. Es kann aber natürlich auch unter ganz anderen Umständen hier gestrandet sein. Wir haben jedenfalls keinerlei Hinweise gefunden, die uns weiterhalfen.“

Das still auf dem Strand liegende Wrack verbreitete Unbehagen. Es wirkte wie eine Monstrosität aus einer anderen Welt.

Weit und breit zeigte sich keine Menschenseele.

Hasard war jedoch noch immer im Zweifel, ob die Insel nun bewohnt war oder nicht. Nach dem, was sie erlebt hatten, mußte es irgendwo Menschen geben. Schließlich war alles an Bord verschwunden, was nicht niet- und nagelfest war.

Ganz langsam verschwand das Wrack achteraus und wurde kleiner, bis es nicht mehr zu sehen war, denn jetzt rundeten sie wieder eine weit ins Meer ragende und dicht bewaldete Landzunge.

Hier ging es anscheinend von einer Bucht in die andere. Jetzt tat sich wieder ein Halbkreis aus Strand, Palmen und Dickicht auf. Auch der hohe Berg war deutlich mit seinem nebelumhüllten Haupt zu erkennen.

Die „Santa Barbara“ segelte weiterhin dicht unter Land. Das Wasser war so klar, daß man mühelos den Grund erkennen konnte. Die Tiefe mochte etwa sieben bis acht Yards betragen. Zum Auflaufen bestand also keine Gefahr. Sie näherten sich der Bucht aus östlicher Richtung und drehten dann, dem Buchtverlauf folgend, nach Süden ab.

Hasard blickte durch das Spektiv zu dem anderen Landstrich, doch der hatte sich noch nicht vergrößert. Es war nur eine schmale, etwas im Dunst liegende Linie über dem Wasser.

Als er das Spektiv auf den Strand voraus richtete und ihn absuchte, holte er plötzlich tief Luft.

„Gibt es etwas?“ fragte Don Juan.

„Ja, ich sehe eine Flagge. Sie ist an einem Flaggenstock im Sand befestigt.“

2.

Einige Augenblicke sahen sich alle erstaunt an. Schweigen herrschte. Die ganze Insel schien plötzlich den Atem anzuhalten. Dann kam wieder Leben in die wie erstarrt dastehenden Gestalten.

Hasard gab den Kieker kommentarlos an Dan weiter, weil der nun einmal die schärfsten Augen von allen hatte.

„Kannst du erkennen, was es für eine Flagge ist?“ fragte der Seewolf.

„Offenbar eine spanische. Die Farben sind verblaßt, das Tuch ist ausgebleicht und verwittert. Ich halte es für eine spanische Flagge.“

„Also gibt es doch Überlebende“, sagte Hasard. „Wie sonst sollte sie hier wohl im Sand stecken?“

Er blickte Al Conroy an, den Waffen- und Stückmeister, der mit aufgestützten Armen auf dem Handlauf des Schanzkleids auf dem Quarterdeck lehnte und den Anblick des Strandes genoß.

Al Conroy nickte beruhigend.

„Wir sind für alle Fälle feuerbereit, Sir. Aber es sind keine Boote zu sehen – und auch keine Menschen. Eine Hütte kann ich ebenfalls nirgends entdecken.“

„Schon gut. Vorsicht ist immer angebracht. Haltet die Augen offen.“

Kurz darauf stand fest, daß es sich tatsächlich um eine spanische Flagge handelte. Ausgefranst und zerschlissen wehte sie an dem eingerammten Flaggenstock im Sand. Sie befand sich vor einer Gruppe von Kokospalmen. Wie lange sie dort schon wehte, ließ sich nicht einmal erahnen.

Sehr sorgfältig suchte Dan O’Flynn die Umgebung ab. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

„Kein Mensch, keine Behausung zu sehen. Vielleicht haben die Dons bei ihrer unfreiwilligen Landung die Flagge aufgestellt und sind dann nach und nach umgekommen.“

„So weit von dem Wrack entfernt?“ entgegnete Hasard.

Darauf wußte Dan O’Flynn auch keine Antwort.

„Gut, nehmen wir an, es gibt ein paar Überlebende“, sagte Hasard. „Dann haben sie das Schiff ausgeräumt und sich irgendwo an Land häuslich eingerichtet. Das Wrack kann früher auch hier gelegen haben. Wind und Wellen haben es wieder mitgenommen und an anderer Stelle abgesetzt. Das ist ganz natürlich. Diese paar Überlebenden haben aber allerdings keine Kanonen, keine Drehbassen, denn die befanden sich noch auf dem Wrack, wie wir sahen.“

„Was also heißt, daß sie uns auch nicht gefährlich werden können“, meinte Dan. „Und woraus weiter folgert, daß wir dort in der Nähe bei dem Flaggenstock vor Anker gehen.“

„Du bist schon fast so ein Hellseher wie dein Vater.“

Dan O’Flynn schüttelte grinsend den Kopf.

„Ich überlege nur logisch, während Väterchen ja wohl richtig hinter die Kimm blicken kann.“

„Auf dieser Reise hat er es noch nicht bewiesen. Aber lassen wir das. Wir gehen dort wirklich vor Anker und sehen uns einmal um. Mit der gebotenen Vorsicht natürlich.“

Die ersten Segel wurden lose ins Gei gehängt. Die „Santa Barbara“ driftete auf ihrem Kurs parallel zur Küste dahin und folgte dem Verlauf des Strandes. Das Wasser war kristallklar. Bunte Fische schwammen ungeniert und furchtlos neben dem Schiff her. Eine Schildkröte war zu sehen, die neugierig den Kopf hob und das vorbeitreibende Ungeheuer musterte.

Als der Anker gesetzt war, stieg Hasard mit ein paar Männern in die Jolle und pullte zum Strand.

Hier gab es kein Riff und keine Brandung. Daher war es hier auch noch stiller als am anderen Liegeplatz. Die Ruhe wirkte fast beängstigend. Es war nur das leise Murmeln des Wassers zu vernehmen sowie die Geräusche, die sie selbst verursachten.

Wie gebannt starrte Hasard zu dem Flaggenstock. Es war ein von jeglicher Farbe längst abgeblätterter Holzpfahl, die Farben der Flagge waren aus der Nähe unverkennbar. Die Flagge mußte zu dem Wrack gehören.

Wo aber waren die Überlebenden?

Die Jolle lief auf den Sand und wurde hochgezogen. Sechs Mann standen da und blickten in die Büsche, das Dickicht, den Verhau, der hinter den Palmen begann.

Als Hasard näher an den Flaggenstock herantrat, stutzte er. Er hielt den Radschloßdrehling locker in der Hand und musterte die Umgebung aus schmalen Augen. Er hatte das untrügliche Gefühl, als befänden sich in unmittelbarer Nähe Menschen, die jede ihrer Bewegungen belauerten.

In der Nähe des Flaggenstockes befanden sich Fußspuren. Sie rührten zweifellos von spanischen Stiefeln, her.

„Sie können noch nicht sehr alt sein“, sagte Don Juan in die lastende Stille hinein. „Beim Wrack gab es keine, hier sind sie ganz deutlich zu erkennen. Offenbar tauchen hier regelmäßig Leute auf, die nach der Flagge sehen.“

„Sie sind wirklich nicht alt“, gab Hasard zu, „sonst hätten Zeit und Wetter sie längst verwischt. Aber die Überlebenden legen besonderen Wert auf diese Flagge. Warum wohl?“

Don Juans Grinsen wirkte ein bißchen schief.

„Das hier ist spanisches Territorium, Sir. Die Überlebenden haben es annektiert und zum Zeichen der Besitznahme die spanische Flagge gehißt. Wir befinden uns also auf spanischem Boden.“

„Hm, das hat ganz den Anschein. Sehen wir uns doch einmal ein wenig in der näheren Umgebung um. Irgendwo werden die Spanier ja stecken und uns Eindringlinge bemerken.“

„Kaum stranden diese Kerle auf einer Insel, schon gehört sie ihnen“, empörte sich der Profos. „Statt froh zu sein, überlebt zu haben, hissen sie gleich ihren Lappen und halten das Land für spanisches Territorium. Die Rübenschweine sollen mir nur mal über den Weg laufen, denen werde ich schon verklaren, was hier los ist.“

„Reg dich wieder ab, Ed“, riet Hasard. „Noch wissen wir überhaupt nichts.“

In unmittelbarer Nähe der Kokospalmen waren ebenfalls Fußspuren zu sehen.

Als Hasard ihnen ein Stück folgte, hörten sie abrupt auf, als seien sie absichtlich verwischt worden.

Er blickte in das Gebüsch. Es war nur ein kurzer Verhau. Dahinter begann eine Grasfläche, die zu kleinen Hügeln führte. Bunte, leuchtende Blumen hatten ihre Blüten geöffnet und säumten die Hügel.

„Weiter links hinüber“, sagte Hasard. „Dort scheint es ebenfalls Wasser zu geben.“

Er zeigte auf den feuchten Boden und das Gras. Aus den Hügel lief irgendwo Wasser hinunter.

Als sie die Hügel von links umgingen, befanden sie sich übergangslos in einem schmalen fruchtbaren Tal. Der Eingang zu diesem Tal war links und rechts von Büschen und Wald umgeben. Ein silbriges Rinnsal schlängelte sich durch das Tal und versickerte irgendwo.

Wie vom Blitz getroffen blieben sie stehen.

„Ich habe es geahnt“, sagte Hasard. „Hierhin haben sich die Überlebenden also verzogen. Sehr viel können es aber nicht sein.“

„Sicher nicht mehr als ein Dutzend“, raunte Don Juan.

In dem stillen Seitental stand neben dem silbrigen Bach eine Hütte. Sie war aus Holzresten eines Schiffes erbaut worden und mit Palmenwedeln gedeckt.

Dicht dahinter stand eine weitere Hütte, aber die war so klein, daß Carberry sie als Hundehütte bezeichnete, obwohl weit und breit auch von einem Hund nichts zu sehen oder zu hören war.

Sie blickten sich nach allen Seiten um, aber so aufmerksam sie auch alles absuchten, sie konnten niemanden entdecken.

„Sehr merkwürdig“, sagte Don Juan.

Die Stille lastete wieder über der Insel. Der hohe Berg verhüllte erneut sein Haupt in einem riesigen Dunstschleier von Nebel.

Dann wurden sie trotz aller Vorsicht überrumpelt, und zwar so schnell, wie sie das nur selten erlebt hatten.

Aus den Büschen rechts und links sprangen zwei Männer hervor. Sie trugen die Uniform der spanischen Soldaten, aber keine Helme.

Sie trugen Stiefel, Kürbishosen und Rüschenhemden, die in dieser Umgebung völlig deplaciert wirkten. Und sie hielten langläufige Tromblons in den Fäusten. Die trichterförmigen Mündungen waren auf die Seewölfe gerichtet.

„Hände hoch!“ brüllte der eine auf Spanisch.

Hasard wußte, daß die Bleiladung in den Tromblons für mehrere Männer gleichzeitig tödlich war. Die Waffen hatten eine breite Streuung. Er musterte die beiden so überraschend aufgetauchten Kerle.

Der eine hatte einen langen schwarzen und reichlich verwilderten Bart. Daran zerrte er nervös mit einer Hand, während die andere die Waffe hielt.

„Ah!“ tönte Carberry. „Der hat sein eigenes Gestrüpp mitgebracht, um sich dahinter zu verstecken. Kein Wunder, daß wir das eine Rübenschwein nicht gesehen haben.“

„Ruhe, Hände hoch!“ brüllte der andere. Er hatte ein etwas eingefallenes Gesicht mit scharfen, unruhig blickenden Augen. Sein Bart war zwar gestutzt, aber die nächste Schur war bald fällig.

Hasard unterzog die beiden Kerle einer noch genaueren Musterung. Dabei fiel ihm auf, daß sie ihre Nervosität nur sehr mühsam verbargen und ziemlich verunsichert waren. Sie schienen auch Angst zu haben.

„Ihr befindet euch auf spanischem Gebiet!“ brüllte der Kerl mit dem eingefallenen Gesicht. „Ihr geht jetzt dort hinüber und wagt keine Bewegung, sonst schießen wir!“

Hasard hatte seine Musterung beendet und lächelte spöttisch.

„Womit wollt ihr armseligen Helden denn schießen?“ fragte er. „Etwa mit den Tromblons? Na, dann versucht es doch mal. Die verrosteten Dinger werden euch um die eigenen Ohren fliegen.“

„Ruhe!“ kreischte der andere. „Soll ich feuern, Señor Generalkapitän?“

Hasard stutzte wieder. Ein Generalkapitän befand sich hier auf dieser Insel? Das war wirklich bemerkenswert.

„Noch nicht, Corporal“, sagte der Generalkapitän hochnäsig und arrogant. „Dieser Pöbel ist uns erst noch eine Erklärung schuldig, bevor ich mich zur Vollstreckung entschließe.“

Der mit Corporal angesprochene Kerl nickte devot, verbeugte sich sogar noch und hatte wieder dieses Zucken in den Augen.

„Die beiden scheinen mir ein bißchen bescheuert zu sein“, meinte der Profos. „Jedenfalls haben sie was am Scheitel. Ganz sauber sind die Burschen nicht.“

Hasard und Don Juan wurden noch nicht so ganz schlau aus diesen beiden eigenartigen Helden, die hier in voller Montur standen und Tromblons in den Händen hielten, die so alt wie die Welt waren.

„Welche Erklärung sind wir euch denn schuldig?“ fragte Hasard ironisch.

Der Generalkapitän lief rot an und schnappte fast über.

„Maul halten, Engländer! Ihr seid Spione, die man aus England hier eingeschleust hat, um uns zu überrumpeln. Aber diese Inselgruppe ist bereits im Besitz der spanischen Krone. Ihr habt kein Recht, hier einzudringen, und ihr habt das Hoheitszeichen dieser Insel, die spanische Flagge, mißachtet. Ich bin Generalkapitän Don Ricardo de la Marcarena. Das dort drüben ist Corporal Virgil Aldegonde. Englisches Pack, verdammtes! Ich werde euch alle hinrichten lassen und das Schiff vor dem Hafen requirieren.“

„Ah ja“, sagte Hasard. „Vor dem Hafen, was? Euch hat wohl die Sonne ein bißchen das Gehirn ausgetrocknet. Generalkapitän und Corporal – daß ich nicht lache! Und nun steckt eure Bleispritzen wieder ein, sonst steht es schlecht für euch.“

„Falls ihr das nicht tut“, fügte der Profos grollend hinzu, „dann werde ich euch die Haut von euren edlen Affenärschen abziehen und zum Trocknen vor eure Hütten hängen, ihr Rübenschweinzüchter.“

„Corporal“, sagte Don Ricardo fassungslos. „Lassen Sie augenblicklich diesen schwarzhaarigen Teufel festnehmen. Und füsilieren Sie endlich diesen narbigen Bastard, der mich beleidigt hat.“

Der Corporal war ebenfalls mächtig verunsichert und schwitzte Blut und Wasser. Mal sah er hilflos auf seine vergammelte Waffe, dann wieder starrte er seinen „Vorgesetzten“ an, und dabei zuckten ständig seine Augen.

„Sehr wohl, Señor Generalkapitän“, brüllte er. Dann nahm er Haltung an, grüßte zackig und richtete das Tromblon auf Carberry.

Der Profos hatte einen Blick drauf, wie Hasard ihn lange nicht mehr an ihm gesehen hatte. Da war Belustigung drin, Unglauben und alles mögliche. Jedenfalls schien Ed sich sehr zu amüsieren. Er stand nur da und starrte in den trichterförmigen Lauf. Sein Grinsen wurde immer breiter.

Hasard taten die beiden Spanier fast leid. Er hatte auf Anhieb erkannt, was mit den beiden los war. Es waren zwei dümmliche Dons, die offenbar an ihrer Einsamkeit verzweifelt und dabei wunderlich geworden waren. Sie hatten eine Rangordnung eingeführt und spielten Chef und Untergebener. In diese Rolle waren sie im Laufe der Jahre regelrecht hineingewachsen und kamen nicht mehr von ihr los. Sie waren tatsächlich überspannt, um nicht zu sagen, bescheuert.

Kein Wunder, dachte Hasard. Wenn die beiden nur sich selbst hatten, ging das auf die Dauer nicht gut.

Als er aus den Augenwinkeln zu den Hütten sah, wurde ihm auch der Standesunterschied klar. Der „Generalkapitän“ bewohnte die große Hütte, und der „Corporal“ mußte mit der kleinen vorlieb nehmen, damit der Standesunterschied auch genügend zur Geltung kam.

Die anderen sahen in aller Ruhe und sehr gelassen zu, wie der Profos auf den „Corporal“ zuging, ihm ein Grinsen schenkte, das ihn bis in die Seele erschauern ließ, und ihm dann die Waffe abnahm.

„Die schießt doch nicht mehr, Kleiner“, sagte er. „Vielleicht ist sie nicht mal geladen.“

Hasard nahm sich inzwischen den Don Ricardo vor, der mit hochrotem Gesicht vor ihm zurückwich und die Waffe immer höher hielt.

„Ich schieße!“ kreischte er. „Ich werde die Miliz rufen! Oder die Kriegsschiffe! Man wird euch versenken!“

„Jaja, suchen Sie sich was aus“, sagte Hasard. „Aber fuchteln Sie nicht dauernd mit dem Ding herum. Vielleicht können wir uns auch mal vernünftig unterhalten.“

„Es lebe Seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien!“ rief Don Ricardo. „Ich werde bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, und wenn ich sterbe“, setzte er pathetisch hinzu.

„Hat noch keine Eile“, sagte Hasard gelassen, „auch wenn es sich sehr heroisch anhört. Aber der König von Spanien ist weit und wird Ihnen das kaum danken.“

Aldegonde zerrte aufgeregt an seinem Bart, den Carberry als Gestrüpp bezeichnet hatte. Er sah Don Ricardo erwartungsvoll und aufgeregt an und hatte auch keine Einwände, als Hasard ihm die Waffe abnahm und ins Gras warf. Jetzt war auch der Generalkapitän sozusagen entblößt in Feindeshand gefallen, was ihn mächtig aufregte.

Ein paarmal noch rief er nach der Miliz, und als die partout nicht anrückte, befahl er dem Corporal, sofort ein Schreiben aufzusetzen, um den König von Spanien um Entsendung weiterer Kriegsschiffe zu bitten, am besten gleich eine ganze Armada.

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