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Weltethos und universelle Menschenrechte

Hans Küng sucht in seinem verdienstvollen Konzept eines „Weltethos“ nach einem weltweit geltenden Ethos als Grundlegung für das Zusammenleben der Völker, Kulturen und Religionen.18 Für ihn sind die Religionen für die Entwicklung eines Weltethos unentbehrlich, um eine „Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtungen begründen“19 zu können. Küngs Anliegen lautet: „Weltpolitik und Weltwirtschaft verlangen nach einem Weltethos.“ 20 Die maßgeblich von Küng inspirierte Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 199321 will die Menschenrechte ethisch mit „unverrückbaren Weisungen“, die allen Religionen gemein sind, abstützen. Menschenrechte seien nämlich der einzig verbindliche Maßstab für Ethik und Politik in einer säkularen Weltgesellschaft mit ihrer Vielfalt von Wertüberzeugungen, Kulturen und Religionen. Vier „unverrückbare Weisungen“ führt das Parlament der Weltreligionen auf. Sie lauten:

 „Du sollst nicht töten!“ bzw. „Habe Ehrfurcht vor dem Leben!“

 „Du sollst nicht stehlen!“ bzw. „Handle gerecht und fair!“

 „Rede und handle wahrhaftig!“ bzw. „Du sollst nicht lügen!“

 „Du sollst nicht Unzucht treiben!“ bzw. „Achtet und liebet einander!“

Das ebenfalls von Hans Küng entwickelte Manifest Globales Wirtschaftsethos22 will „gemeinsame fundamentale Vorstellungen über Recht, Gerechtigkeit und Fairness“ für ein globales Wirtschaftsethos auf moralischen Prinzipien und Werten entwickeln, die „seit alters her von allen Kulturen geteilt und durch gemeinsame Erfahrungen getragen werden“. In unverkennbarer Nähe zu den „unverrückbaren Weisungen“ des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 1993 werden in dem Manifest u. a. folgende Prinzipien genannt: das grundlegende Prinzip der Humanität sowie Grundwerte für globales Wirtschaften, Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben, Gerechtigkeit und Solidarität, Wahrhaftigkeit und Toleranz, gegenseitige Achtung und Partnerschaft.

Zu Küngs „Weltethos“ und den von ihm inspirierten Entwürfen ist zu sagen, dass man ohne grundlegende Prinzipien bei einer ethischen Urteilsbildung sicherlich nicht auskommt. Aber ebenso wenig kann man einfach deduktiv argumentieren, indem aus den Prinzipien direkt Schlüsse gezogen werden. Diese Prinzipien sind ebenso unbestimmt wie vage, sodass nicht klar wird, wie sie denn konkretes Handeln oder Ordnungsstrukturen prägen könnten. Sie können keinen kritischen Maßstab bieten und deshalb auch kaum eine kritische Wirkung entfalten.

Im Zentrum von Küngs Konzeption des „Weltethos“ stehen nicht die Menschenrechte, sondern universale Menschenpflichten. Küng hat auch die Erklärung der Menschenpflichten des „InterAction Councils“ aus dem Jahr 1997 substanziell geprägt.23 Die Betonung der Pflichten gegenüber den Rechten mag zwar religiösen Traditionen entsprechen. Die Menschenrechte haben aus gutem Grund kein Pendant zu entsprechenden Menschenpflichten. Die These, die Einhaltung von Pflichten sei eine Bedingung für die Gewährung von Rechten, oder anders: den Rechten stünden auch entsprechende Pflichten zur Seite, scheint plausibel, versperrt aber den Blick darauf, dass es in einer freien Gesellschaft Rechte und Pflichten gibt, die sich nicht gegenseitig bedingen. Der Bürger, die Bürgerin hat Rechte und Pflichten, und beide stehen für sich. Menschenrechte sind keine Belohnung für Wohlverhalten; sie gelten bedingungslos. Diese Unbedingtheit der Rechte meinte Hannah Arendt, als sie davon gesprochen hat, dass Menschen nur ein Recht haben: das „Recht, ein Recht zu haben“24. Wo immer dieses Grundrecht verweigert wird, fallen auch alle anderen Rechte. Das Recht auf Menschenrechte ergibt sich nicht reziprok aus Pflichten. Das Menschenrecht ist ein unbedingtes Recht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert deshalb in Artikel 3 bedingungslos: „Jeder hat das Recht auf Leben.“ Eine Gesellschaft, die dem Menschen als Menschen Rechte einräumt, schließt zugleich aus, dass zwischen Menschenrechten und Pflichten eine direkte Parallelität besteht. Menschenrechte sind nämlich nicht das Ergebnis eines Tausches nach dem Marktprinzip, sondern Ausdruck der unveräußerlichen Würde des Menschen, der man nicht durch unterlassene Pflichten verlustig gehen kann.

Küng kondensiert die ethischen Traditionen und bietet sie dann als Grundlage für globales Wirtschaften an. Er suggeriert eine ethische Eindeutigkeit der Religionen, die so nicht besteht, und nimmt dafür eine Universalität in Anspruch, die es so auch nicht gibt. Es gibt keinen „ethischen Basiskonsens“25, wie ihn Hans Küng in seinem breit angelegten Weltethos zu begründen sucht.

Eine multikulturelle Weltgesellschaft wird nicht über kulturell-religiöse Normen zusammengehalten, sondern allein durch Menschenrechte, die eine alle Menschen vereinigende politische Kultur bilden. Die Menschenrechte sind die Grundlage für die gleichberechtigte Koexistenz aller Kulturen und Völker. Gegenseitige Anerkennung auch von Differenzen kommen nur auf der Grundlage von Menschenrechten zu ihrem Recht. Erst die wechselseitige Anerkennung gemeinsamer Rechte kann eine politische Kultur begründen, die auf die Anerkennung der Freiheit der Subjekte und die Würde aller zielt. Menschenrechte schaffen dort individuelle Freiräume, wo die Moral Pflichten auferlegt.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass angesichts der Vielfalt ethischer Grundüberzeugungen Grundlinien eines gemeinsamen Ethos wünschenswert, ja notwendig wären. Küng geht den Weg zu diesem globalen Ethos über den Weg einer Bestimmung eines Minimalkonsenses gemeinsamer Werte und Grundüberzeugungen. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat demgegenüber darauf aufmerksam gemacht, dass ein globales Ethos kein Abstimmungs- und Konsensprodukt sein kann. Einen universellen Anspruch könne nicht erheben, wer sich auf die Zustimmung aller bezieht. Der zentrale Einwand lautet, dass Küng in seinem durchaus verdienstvollen Konzept seines „Weltethos“ keinen Zugang zur universellen „Autorität der Leidenden“ habe:

„Diese Autorität der Leidenden wäre die innere Autorität eines globalen Ethos, einer Weltmoral, die vor jeder Abstimmung, vor jeder Verständigung aller Menschen verpflichtet und die deshalb von keiner Kultur und keiner Religion, auch von der Kirche nicht, hintergangen oder relativiert werden kann.“26

Küng argumentierte nicht von den Erfahrungen der Leidenden her. Der Einwand von Metz findet auch in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte einen geschichtlichen Rückhalt. Menschenrechte sind Ausdruck der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Sie sind von ihnen erkämpft worden, nicht aber ein historisch abstraktes und gesellschaftlich kontextloses Konsensprodukt religiöser oder gesellschaftlicher Eliten. Das berührt auch die Frage, ob die Menschenrechte kulturell dem Westen gehören. Menschenrechte sind eine Antwort auf eine Universalität von menschengemachtem Leid und Ungerechtigkeit. Die Behauptung, die Menschenrechte seien europäisch und nicht wirklich universell, ist selber im schlechten Sinne europäisch. Sie vernachlässigt den Entstehungsort des Kampfes um Menschenrechte. Es ist ein Kampf darum, dass die verletzte Würde des Menschen zu ihrem Recht kommen kann.

Metz hat die „Compassio“, eine Mitleidenschaft, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle sucht, das „Weltprogramm des Christentums“27 genannt. Für ihn steht jedes Reden über den Menschen unter einer „Autorität der Leidenden“; sie ist „die einzige universale Autorität, die uns in unseren globalisierten Verhältnissen geblieben ist“28. Die Stärke dieser Autorität besteht darin, dass sie ein universales Kriterium benennt, das allen Menschen zumutbar ist. Die „Autorität der Leidenden“ ist darin begründet, dass sie Leiden am Unrecht nicht hinzunehmen bereit ist. Diese Weigerung mündete nach langen geschichtlichen Prozessen schließlich in den Menschenrechten. Sie entstammen einer „Autorität der Leidenden“, zehren von der Verletzung der Menschenwürde und wollen den ungerecht Behandelten Recht und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Menschenrechte haben eine universale Autorität: Es ist die Autorität der Leidenden.

Exkurs: Umbrüche in der Achsenzeit

Die Bedenken gegenüber dem abstrakten Konsensminimalismus der Religionen, wie ihn Küng destilliert, werden auch in neueren Forschungen über die sog. Achsenzeit bestätigt. In der Zeit zwischen dem achten und dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert vollzieht sich eine tiefgreifende sozio-ökonomische Wende in geografisch weit voneinander entfernten Regionen von Griechenland über Palästina, Persien bis nach Indien und China. Was Jaspers phänomenologisch als „Achsenzeit“ beschrieben hat, haben David Graeber und Ulrich Duchrow als eine Epoche zu erklären versucht, die mit den Folgen der Überschuldung und der aufkommenden Geldwirtschaft konfrontiert war.29 Fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander kam die Münzprägung im Norden Chinas, am Ganges in Indien und in den Regionen um das Ägäische Meer auf. Die Religionen vom Vorderen Orient bis nach China zeigten eine beachtliche gemeinsame Tendenz, den negativen Entwicklungen der aufkommenden Geldwirtschaft entgegenzutreten. Es gibt also einen ethischen Konsens der Religionen, wie ihn Hans Küng konstatiert; wer ihn aber erheben will, der muss an die Ursprünge zurück: die Reaktionen der eurasischen Weltreligionen auf die Verbreitung einer lebenbeherrschenden Geldwirtschaft. Sie geben eine Antwort auf die ökonomischen Umwälzungen, die mit dem Aufkommen von Geld und Privateigentum immer drängender wurden. Der Konsens der Religionen ist deshalb kein abstraktes Abstimmungsprodukt, sondern Ergebnis erstaunlich kongruenter Antworten auf gemeinsame sozioökonomische Herausforderungen.

Diese Einsichten sind folgenreich: Die ethischen Analysen und Antworten dieser Religionen entstammen zwar fernen Zeiten, haben aber ihre gegenwartsrelevante Bedeutung darin, dass sie auf eine Vorstufe jener wirtschaftlichen Entwicklung reagieren, die derzeit im Finanzkapitalismus ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Scharfsinnig hatte Aristoteles angesichts der Anfänge einer sich gleichsam ins Unendliche anhäufenden Akkumulation gesagt, dass es „für dieses Kapitalerwerbswesen keine Grenze des Ziels“ gibt, denn: „Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Unbegrenzte hinein ihr Geld vermehren.“30 Die Bibel unterscheidet sich in keiner Weise von dieser Kritik, wenn es dort heißt: „Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug.“ (Kohelet 5,9) Die Propheten Israels warnten genauso vor Gier und der Akkumulation von Geld und Besitz wie die Weisen Griechenlands oder Buddha.

Die Dynamik, die mit der Erfindung des Geldes einsetzte, wirkt bis heute fort. Da man mit Geld tendenziell alles kaufen kann, war auch alles in Geld umwandelbar. Eine der Ausdrucksformen der Auseinandersetzung mit dieser in der Achsenzeit einsetzenden Dynamik ist der Mythos. In den kleinasiatisch-griechischen Mythen zeigen sich – erstaunlich genug – erste Ansätze, die vor der einsetzenden Dynamik warnten. Eine solche mythische Warngeschichte erzählt von einem König Midas. Dionysos, der Weingott, gewährte König Midas den Wunsch, er könne bekommen, was er wolle. Midas wünschte sich, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Dionysos gewährte den Wunsch, und alles, was Midas berührte, wurde zu Gold. Als er den Becher Wein und das Brot berührte, wurden sie zu Gold. So war er durstig und hungrig inmitten des Goldes. Da erkannte er seine Schuld, und Gott Dionysos erbarmte sich seiner. Dieser Mythos erzählt von einer Unersättlichkeit, die alles in Gold und Geld umwandeln will, bis schließlich diese Umwandlung die eigenen Lebensgrundlagen zerstört.

Die Antike nahm sich dieser Umbrüche nicht nur in mythischen Erzählungen, sondern auch in philosophischen Reflexionen wie bei Aristoteles und in der prophetischen Kritik in der Bibel an. Es kann als Konsens gelten, dass Prophetenworte nicht vor dem 8. Jahrhundert, also dem Beginn der sog. Achsenzeit, anzusetzen sind. Auch die Tora entsteht in der Zeit einer tiefen sozioökonomischen Krise im 8. Jahrhundert, die weltweit von China über Indien bis in die Welt des östlichen Mittelmeerraums aufgetreten ist.31 Worin besteht diese Krise? Aus einer immer wieder auftretenden zeitweiligen Verschuldung wird in der Zeit der aufkommenden Geld- und Privateigentumsordnung eine Überschuldung, bei der die Schuldner nicht mehr in der Lage sind, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen. Die Propheten kritisierten die Konzentration von Häusern und Feldern in den Händen weniger (Jesaja 5,8; Micha 2,2). Ehedem freie Bauern geraten in Schuldsklaverei (Micha 2,9 f.). Die Propheten Israels warnten genauso vor Gier und der Akkumulation von Geld, Besitz und Boden wie die Weisen Griechenlands oder Buddha in Indien.

Im ganzen Mittelmeerraum traten ab der Mitte des 8. Jahrhunderts tiefgreifende ökonomische und soziale Änderungen ein: Die Gesellschaften spalteten sich in Arm und Reich; Überschuldung, Verarmung und Bereicherung nahmen zu, Bauern mussten ihre Felder verpfänden oder gerieten selber in Schuldknechtschaft.

Die folgende Übersicht zeigt voneinander unabhängige Regulierungen der gleichen sozialen Prozesse:32


Griechenland Israel
Gesetzesreformen Athen 621; 584/2 Bundesbuch 8. Jh. v. Chr. Deuteronomium 7. Jh. v. Chr. Heiligkeitsgesetz 5./6. Jh. v. Chr. Nehemia 5. Jh. v. Chr.
Zinsverbot Megara 570 – 560 Exodus 22,24 Deuteronomium 23,20 Levitikus 25,35 Nehemia 5,10
Schuldenerlass Athen 594/2 Deuteronomium 15,2 f. Nehemia 5,10
Sklavenbefreiung Athen 594/2 Exodus 21,2 f. Deuteronomium 15,12 f. Jeremia 34,8 ff. Levitikus 25,29 ff. Nehemia 5,8
Umverteilung von Land Athen ca. 538 Levitikus 25,13 ff., 23 ff. Nehemia 5,11

Abb. 1

Wie in Megara und in Athen unter Solon, so reagierte auch die Tora in ihren Gesetzesbüchern, dem Bundesbuch, dem Buch Deuteronomium und dem Heiligkeitsbuch, auf die Zunahme von Überschuldung, Schuldsklaverei und die Akkumulation von Grund und Boden. Auf die Dynamik der Verschuldung reagiert man mit einem Zinsverbot (Deuteronomium 23,20), auf die Überschuldung mit einem Schuldenerlass (Deuteronomium 15,2 ff.) und der zeitlichen Begrenzung von Schuldknechtschaft (Deuteronomium 15,12 f.). Es ist der Versuch, Verarmung strukturell durch eine Landreform zu korrigieren und Akkumulationsprozesse periodisch rückgängig zu machen. Man weitete die Solidarität, die bislang auf die Großfamilie bezogen war, auf alle Mitglieder der Gesellschaft aus. Die krisenhafte Entwicklung soll mit entsprechenden Sozial- und Wirtschaftsgesetzen entschärft oder zumindest sollen die Folgen für die Betroffenen abgemildert werden.

II. Umkehrung der Menschenrechte

Lange Zeit spielten die sozialen Menschenrechte nur eine marginale Rolle. Das Recht auf soziale Sicherheit in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte schien vergessen, und das Recht auf Arbeit in Artikel 23 desselben Dokuments wurde als unerfüllbar abgetan. Doch seitdem die krisenhaften Folgen der Globalisierung immer augenfälliger wurden, gibt es eine neue Aufmerksamkeit, ja eine Wiederentdeckung der sozialen Menschenrechte. Globalisierungskritische Gruppierungen oder kirchliche Initiativen beziehen sich dabei immer mehr auf die Menschenrechte. Doch es gibt auch eine gegenläufige Bewegung: Seit Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zeichnet sich eine Rechtsentwicklung ab, in der sich transnationale Unternehmen auf ein globales Recht stützen können, das dabei ist, das Nachkriegsarrangement von Demokratie, Menschenrechten, Sozialstaatlichkeit und Kapitalismus aufzukündigen. Nach Jean Ziegler, dem früheren Sonderbotschafter der UNO für das Recht auf Nahrung, ist diese Entwicklung bereits so weit vorangeschritten, dass er von einer „Agonie des Rechts“33 spricht.

Druck auf soziale Menschenrechte und Sozialstandards

Eine Studie der Zürcher Technischen Hochschule aus dem Jahr 2011 hat erstmals gründlich die Vernetzung der Weltwirtschaft untersucht.34 Die Forscher wollten wissen, wie eng die transnationalen Konzerne miteinander verflochten sind. Die Studie kommt zu dem Ergebnis: Unter den 37 Millionen Unternehmen befinden sich nur rund 43.000 multinationale Konzerne, die durch gegenseitigen Aktienbesitz miteinander vernetzt sind. Von 43.000 Konzernen dominieren wenige, nämlich 1318 Firmen, wiederum vier Fünftel des Umsatzes der Weltwirtschaft. Innerhalb dieser 1318 Unternehmen machten die Forscher ein Netzwerk von einer kleinen Gruppe von lediglich 147 Konzernen aus, die direkt oder indirekt über rund vierzig Prozent der Weltwirtschaft herrschen. Von diesen 147 Konzernen sind wiederum etwa drei Viertel im Finanzsektor tätig.

Die Staaten verlieren angesichts dieser Machtzusammenballung jedoch keineswegs zur Gänze ihre Handlungsfähigkeit. Es ist vielmehr so, dass die Staaten eine höchst aktive Politik betreiben, indem sie ihre Beziehungen zu den Märkten in dem Sinne neu strukturieren, dass sie die Ansprüche der Konzerne in verbindliche globale Rechtsnormen übersetzen. Die allenthalben erhobene Forderung nach einem Primat der Politik sagt noch nichts über die Inhalte aus, die mit einem solchen Vorrang der Politik vor den Märkten durchgesetzt werden sollen. Wenn Staaten beispielsweise Investitionsschutzabkommen vereinbaren,35 dann verhalten sie sich sehr wohl höchst aktiv. Die Vereinbarungen stehen in Kritik, weil sie es erlauben, politische Regulierungen aushebeln zu können, die die Gewinne transnationaler Unternehmen und deren Anteilseigner oder die Renditen der Investoren schmälern könnten. Es ist demnach die Politik selber, die Regeln für den Wettbewerb transnationaler Konzerne schafft. Es gibt also sehr wohl einen Vorrang der Politik. Es ist ein Vorrang, mit dem die Staaten die Herrschaft der transnationalen Konzerne absichern und den Konzernen ein Recht in die Hand geben, mit dem diese die gesellschaftliche Entwicklung nach ihrem Interesse gestalten können. Die Politik passt sich den Anforderungen der Märkte, genauer: den Interessen der Investoren und Finanzakteure, an. Wenn der politische Handlungsspielraum zugunsten des Marktes eingeschränkt wird, dann nimmt sich die Politik für die Zukunft eben jene Mittel, die sie für eine demokratische Korrektur bräuchte. Die Folge ist eine Diskrepanz zwischen einem rechtlich abgesicherten umfassenden Schutz der transnationalen Konzerne, der Finanzmarktakteure oder der Investoren auf der einen Seite und einem nur lückenhaften Schutz von Rechten der Menschen auf der anderen Seite.

Von wirtschaftswissenschaftlicher Seite werden grundsätzliche Bedenken gegen das Bestreben der ILO vorgebracht, soziale Rechte überhaupt rechtlich abzusichern. Selbst Minimalstandards oder Mindestbedingungen für Löhne gelten als Markt- und als Wettbewerbsverzerrung. Die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte, wie sie in den ILO-Übereinkommen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Sozialpakt formuliert sind, gelten als eine Marktverzerrung oder ein Hemmnis für die ökonomische Entwicklung. Diese wirtschaftswissenschaftliche Doktrin konnte sich seit den 1980er-Jahren immer mehr durchsetzen und eine Rechtsentwicklung befördern, welche die Investoren- und Kapitalinteressen global absichert, nicht aber die Rechte der Menschen. Mit der Gründung der Welthandelsorganisation wurde 1995 ein rechtlicher Rahmen für die Liberalisierung des Weltmarktes geschaffen, der auf den Abbau von Zöllen und weiteren Erschwernissen internationaler Handelsbeziehungen zielt. Die Versuche der ILO, weltweit Mindestbedingungen für die Arbeitswelt durchzusetzen, wurden und werden immer wieder von globalen Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond oder der Welthandelsorganisation mit Forderungen nach Deregulierung, Absenkungen der Arbeitskosten oder Rücknahme sozialstaatlicher Errungenschaften konterkariert. Obwohl diese Institutionen selber über keinerlei Kompetenzen in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen verfügen, üben sie dennoch „Druck auf das Arbeitsrecht der jeweiligen Länder“36 aus.

Die Investoren haben es erreicht, sich mit einem globalen Recht gegen staatliche Maßnahmen oder Gesetze wehren zu können. Eine besondere Rolle spielen dabei die über 3000 internationalen Investitionsabkommen, mit denen Konzerne Klagerechte bei Risiken für ihre Investitionen in der Hand haben. Ursprünglich beabsichtigt als eine Handhabung gegen willkürliche Enteignungen, richten sich die Klagen immer mehr gegen demokratisch legitimiertes Regierungshandeln. Die Investitionsabkommen wirken wie Rechtsinstrumente, mit denen demokratisch zustande gekommene soziale Errungenschaften, Sozialstandards und soziale Menschenrechte abgewehrt werden können, wenn Gewinnerwartungen der Investoren geschmälert werden könnten. Kritiker befürchten, dass Arbeitnehmerrechte oder höhere Umwelt-, Gesundheits- und Sozialstandards als Wettbewerbshindernis juristisch bekämpft werden könnten. Es gibt Befürchtungen, dass sozialrechtliche und arbeitsrechtliche Regelungen der deutschen Gesetzgebung künftig als investitionsschädigend betrachtet werden könnten. Mitbestimmungsrechte der Belegschaft oder die Einführung oder Anhebung gesetzlicher Mindestlöhne könnten dann als Beeinträchtigung und Verletzung der unternehmerischen Investitionsfreiheit gewertet werden. Solche Verfahren schränken staatliche Regulierungsmöglichkeiten ein. Zwar sollen Regeln im legitimen öffentlichen Interesse von einem solchen Verfahren ausgenommen sein, doch die Bestimmungen darüber, was ein „legitimes“ öffentliches Interesse darstellt oder was als „indirekte“ Enteignung angesehen werden kann, sind keineswegs präzise formuliert.37 Der Investorenschutz würde dann zu einer rechtlichen Handhabe, ganz legal Druck auf die demokratische Gestaltung, den Sozialstaat und soziale Menschenrechte ausüben zu können.

Insgesamt hat sich eine Herrschaftsform herausgebildet, die einseitig darauf ausgerichtet ist, die ökonomischen Zwänge der globalen Konkurrenz rechtlich umzusetzen. Politologen nennen dies einen „Marktkonstitutionalismus“. Er konnte die bislang geltenden gemeinsamen Grundlagen von Menschenrechten, Demokratie und Kapitalismus aufkündigen und hat eine neue, dritte politische Kraft als Souverän etabliert. Der britische Politologe Collin Crouch nennt die weltbeherrschenden Konzerne jene Kraft, ohne die „das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“38 nicht zu erklären wäre. Die transnationalen Konzerne haben sich auf globaler Ebene längst einer Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsmaschinerie bemächtigen können, mit der sie ihre Interessen durchsetzen können. Für den Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano ist dies eine Lage, in der „sich die weltwirtschaftlichen Akteure mit neoliberal geprägten Rechtsnormen selbst versorgen“39. Ihnen steht ein globales Recht für ihre Interessenwahrnehmung zur Verfügung, während es gleichzeitig um die sozialen Rechte der Menschen auf globaler Ebene nicht gut bestellt ist.

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