Читать книгу: «Das Herz der Natur», страница 2
Aber in Kaschmir und hinter Kaschmir, im mächtigen Karakorumgebirge, gibt es Schönheiten, die in Sikkim nicht zu finden sind. Und die Wüste wiederum bietet Schönheiten, die weder Sikkim noch Kaschmir aufzuweisen haben. Darum muss ich den Künstler auch in diese Gebiete führen.
Sikkim und Kaschmir wähle ich, weil es leicht zugängliche Gebiete sind. In sie können Menschen, die nach Schönheit dürsten, immer wieder zurückkehren, bis sie von der diesen Gebieten eigenen Atmosphäre gesättigt sind und ihr innerstes Wesen in sich aufgenommen haben, bis ihnen klar geworden ist, in welch hohem Maß die Züge dieser Landschaften Empfindungen ausdrücken, für die sie nach Ausdruck ringen – ihr Streben nach dem Höchsten und Reinsten, ihr Sehnen nach Ruhe, ihr beglücktes Sichfreuen an Wärme und Zuneigung, oder welche Empfindung sie immer bewegen mag. Tausende von Engländern, fein gebildete Inder und Reisende aus der ganzen Welt besuchen alljährlich den Himalaja, einige des Sports, andere der Gesundheit, noch andere gesellschaftlicher Genüsse wegen. Unter ihnen befindet sich vielleicht unser Naturforscher-Künstler, den Jahr um Jahr seine Liebe zur Schönheit der Natur nach Sikkim und Kaschmir zieht, der dadurch das wunderbare, vielgestaltige Bild der Natur kennenlernt, wie es in jenen begnadeten Gegenden zu schauen ist, und der so zu immer mehr sich vertiefender Gemeinschaft mit der Natur gelangen würde, Jahr um Jahr mehr Schönheit in ihr erblickte und den Genuss, den er gehabt hatte, uns übermittelte.
Aber der Bereich der Schönheit der Natur schließt sehr viel mehr ein als nur das Landschaftsbild. Er umfasst die Schönheit aller Gegenstände der Natur, der Männer und Frauen ebenso wie der Berge, Tiere und Pflanzen. Darum muss der Künstler auch diese in seinen Bereich einbeziehen. Seine Liebe zur Natur, folglich auch seine Fähigkeit, ihre Schönheit zu sehen, wird umso gesicherter sein, wenn er mit Kopf und Herz sich seine endgültige Vorstellung von der Natur bildet – die Vorstellung, heißt das, die für den Augenblick gültig ist, denn kein Mensch ist jemals zu einer wirklich endgültigen Vorstellung von der Natur gelangt, und keiner kann je dazu gelangen. Darum wird der Künstler dann und wann innehalten, um sein Bild von der Natur im Licht der reinen Vernunft zu überprüfen. Denn er wird sich wohlbewusst sein, dass weder Liebe noch Schönheit vollkommen sein können, wenn nicht die Wahrheit sie erhellt. Diese drei beieinander vereinigt zu behalten, wird sein stetes Bemühen sein.
ERSTES KAPITEL
DER SIKKIM-HIMALAJA
Der Sikkim-Himalaja ist ein Gebiet, das zum ersten Mal eingehender bekannt wurde durch die Schriften Sir Joseph Hookers, des bedeutenden Naturforschers, der es im Jahr 1848 besuchte. Es liegt unmittelbar im Osten von Nepal und kann jetzt mit einer Bahn erreicht werden, die auf dem Weg nach Darjeeling den äußeren Höhenzug ersteigt. Es ist das Quellgebiet des Tistaflusses, in dessen Haupttal eine Eisenbahn eine kurze Strecke weit aufwärtsführt; es ist daher leicht zugänglich. Für die Zwecke des vorliegenden Buches genügt die Annahme, dass es das flache offene Waldland und den grasbedeckten Strich unmittelbar am Fuß des Gebirges einschließt, der als Terai bekannt ist. Es liegt nur wenig über hundert Meter über dem Meeresspiegel, sodass die Steigung von dort bis zum Gipfel des Himalajas fast 8700 Meter auf etwa 110 Kilometer beträgt. Der tiefere Teil wird vom 26. Breitengrad durchzogen; daher herrscht dort tropische Hitze. Da ferner das Gebiet innerhalb der Bahn des vom Bengalischen Meerbusen her wehenden Monsuns liegt, macht sich in den Ebenen und in den tiefer liegenden Tälern nicht allein große Hitze geltend, sondern auch große Feuchtigkeit. Die Abhänge des Gebirges überzieht infolgedessen ein üppiger Pflanzenwuchs.
Um in dieses wunderbare Gebiet einzutreten, muss der Reisende zuerst den Ganges überschreiten, den heiligen Strom der Hindus. Große Ströme umgibt ein ganz eigener Zauber. Sie rufen in uns ein Gefühl von Ewigdauerndem, Unwiderstehlichem hervor. Über eineinhalb Kilometer breit, als tiefe, majestätische Flut, strömt der Ganges aus fernen Weiten heran, in ferne Weiten hinaus, endlos fort und fort, aus Zeitenschoß in Zeitenschoß – so gewaltig an Tiefe und Fülle, dass ihm nichts Menschliches widerstehen kann. In der trockenen Jahreszeit, bei niedrigem Wasserstand und im Sonnenglanz ist er mild und ruhevoll, sein Antlitz lächelnd und hell. Stattliche Tempel, inmitten heiliger Haine und anmutiger Palmen, blinken an den Ufern. Auf den breiten Stufen der Badetreppen sind Mengen frommer Beter versammelt in Gewändern, die in allen Farben leuchten. Der Strom erscheint gütig, heiter und Leben spendend. Seine Gewässer und sein befruchtender Schlamm haben die Armut so mancher unfruchtbaren Scholle in Fülle verwandelt, und die Bewohner seiner Ufer wissen es wohl, dass er dem heiligen Himalaja entspringt.
Jedoch nicht immer ist der Ganges so huldreichen Wesens, nicht immer erscheint er so freundlich. Zur Regenzeit geht Schrecken von ihm aus. Am Himmel jagen schwarze, gewitterhafte Wolken tagelang, wochenlang dem Gebirge zu. Von der Sonne ist kein Schimmer zu erblicken. Der Regen stürzt als Sintflut herab. Der Strom schwillt noch weiter an durch die Schneeschmelze auf dem Himalaja, und nun wälzt er sich düster und zornmütig heran. Immer höher steigt er zwischen seinen Ufern, er nagt an ihnen und droht, über sie hinauszufluten und weithin Tod und Zerstörung zu tragen. Die Menschen wandeln nicht mehr zu ihm hinab. Sie schaudern vor ihm zurück. Unruhig beobachten sie ihn, bis sich das Ungestüm seiner Kraft erschöpft hat und bis er wieder zur gewohnten wohltätigen Erscheinung geworden ist.
Kein Wunder, dass solch ein Strom als heilig gilt. Für die einfachen Leute aus dem Volk ist er buchstäblich ein lebendes Wesen, und zwar ein Wesen, das sich günstig stimmen lässt, ein Wesen, das ihnen schaden kann, wenn sie es reizen, und ihnen wohltun kann, wenn sie sich ihm angenehm machen und ihm geben, was es verlangt. Den geistig höherstehenden Hindus ist der Strom ein Gegenstand höchster Verehrung. Können sie in seinen Gewässern baden, so werden ihre Sünden fortgespült. Kann nach dem Tod ihre Asche auf seinen breiten Spiegel gestreut werden, so ist ihnen ewige Seligkeit gewiss. Vielleicht von den frühesten Tagen der Menschheit an, seit Hunderttausenden von Jahren, mögen an seinen Ufern Menschen gewohnt haben. Denn in den Wäldern längs großer Ströme, in einem warmen, gleichmäßigen Klima müssen die Menschen der Vorzeit gelebt haben. Auf seine Wasser werden sie ihre Kanus hinabgelassen haben, und sie werden ihn als ihren einzigen Verbindungsweg untereinander benutzt haben. Immer werden sie voll Liebe und ehrfurchtsvoller Scheu auf ihn geblickt haben. Neben der Sonne wird ihm als der größten Naturerscheinung ihre Aufmerksamkeit gegolten haben. Unmerklich muss der Anblick der immerwallenden Flut tiefen Einfluss auf sie geübt haben.
Diesen Strom, so wie sie ihn den größten Teil des Jahres hindurch schauten, müssen sie lieben gelernt haben. Vor dem Anblick seiner zerstörenden Kraft mochten sie wohl eine Zeit lang in banger Scheu zurückschrecken, aber mit dem Fallen der Flut, als der Strom wieder in lächelnder Ruhe friedlich an ihnen vorbeizog, war das alles vergessen.
Darum fliehen ihn die Menschen auch nicht. Sie sammeln sich um ihn. Sie erbauen große Städte an seinen Ufern und kommen von weither, ihn zu schauen. Alljährlich wallfahren sie zu Tausenden an die Stelle, wo er aus dem Himalaja heraustritt. Und selbst bis zu seinen Quellen dringen sie, weit dahinten, hoch oben in den Bergen.
Auch dem Aufgeklärtesten sollte der Ganges ein Gegenstand der Ehrfurcht sein, um seines Alters, seiner Zukunft und seiner Macht willen. Vom Spiegel des Bengalischen Meerbusens steigen unter dem Einfluss der Sonnenwärme Wasserdampfteilchen in die Atmosphäre auf. Luftströmungen tragen sie Hunderte von Kilometern weit über das Meer und über die Ebenen Bengalens hin, bis die Kälte der Himalajaberge sie sich verdichten und als Schnee und Regen niederfallen lässt. Einige indes werden weitergetragen. Sie werden in einer Höhe von mindestens 6000 Metern über den Himalaja hinweg befördert, bis sie schließlich in Tibet sich niederschlagen. Es ist eine auffallende Tatsache, dass ein Teil des Wassers im Ganges von tibetischen Flüssen stammt, die sich ihren Weg quer durch die gewaltige Gebirgskette des Himalajas gebrochen haben. Der Arunfluss zum Beispiel entspringt in Tibet und durchschneidet den Himalaja in einer tiefen Schlucht in der Gegend zwischen Mount Everest und Kantschindschanga. Diese Flüsse sind nämlich weit älter als die Berge. Ehe der Himalaja emporgehoben wurde, strömten sie schon in ihrer Bahn und höhlten ihr Bett immer tiefer, während die Berge aufstiegen und sie langsam überragten.
Ehrfurcht gebührt daher dem Ganges um seines in der grauen Vorzeit wurzelnden Alters willen. Ehrfurcht gebührt ihm, weil er auch in der Zukunft so fortströmen wird wie jetzt, durch Hunderttausende, vielleicht durch Millionen von Jahren hin. Um und um, in nie rastendem Kreislauf wird das Wasser aus dem Meer emporgehoben, es wird in den Wolken fortgetragen, fällt auf die Berge nieder und sammelt sich im Ganges, um wiederum in das Meer zu fließen. Der Strom mag alljährlich seinen Lauf ändern, indem er sich erst ins eine, dann ins andere Ufer hineinnagt. Aber fort und fort wird er strömen, so weit in die Zukunft hinein, wie menschliche Voraussicht zu reichen vermag.
Und seine Macht, dem einfachen Menschen, zeitweise selbst uns, so schreckenerregend, wird sich mehr und mehr zu einer Gutes schaffenden Kraft wandeln. Schon sind große Kanäle von dem Hauptstrom und seinen Nebenflüssen abgezweigt worden; seine Flut hat Millionen Morgen Land bewässert und dadurch reiche Ernten an Weizen und Reis, an Baumwolle, Zuckerrohr und Ölpflanzen hervorrufen helfen. Es werden Pläne erwogen, das Gefälle des Wassers auf dem Weg durch das Gebirge auszunutzen durch Umwandlung in elektromotorische Kraft, um Eisenbahnen zu betreiben und Kraft für große Industrien zu erzeugen. Wieder einmal mag der Flusslauf zur Verbindungslinie werden, wenn Wasserflugzeuge in Aufnahme kommen, die von Stadt zu Stadt fliegen und auf dem Strom niedergehen.
Wenn wir so zur Erfassung der vollen Bedeutung des Stromes gelangen, bleibt uns der Eindruck seiner ewigen Dauer und seiner unwiderstehlichen Gewalt. Aber unsere Furcht vor ihm ist geringer. Er ist, das fühlen wir, zu gemeinsamer Arbeit mit uns bereit, er ist fähig, sich behandeln und leiten zu lassen. Seine Macht ist in der Hauptsache nicht zerstörend, sondern wohltätig. Fast unerschöpflich ist sein Vermögen, Pflanzen, Tieren und Menschen zu helfen; er ist uns ein Freund und er ist bestrebt, uns zu helfen.
Mit vollem Recht haben die Hindus ihn von jeher verehrt. Ihre Verehrung mag, bei der Üppigkeit der Tropen, sich zum Übermaß entwickelt haben; das unbewusste Gefühl jedoch, das ihr zugrunde lag, war durchaus gesund. Der Strom birgt in seinem Schoß Eigenschaften von hoher Leben spendender Kraft, und in seiner Verehrung brachten die Hindus, halb unbewusst, das Gefühl ihrer Abhängigkeit von diesen Leben spendenden Eigenschaften zum Ausdruck, wie auch ihrer Anhänglichkeit und ihrer Dankbarkeit für die Wohltaten, mit denen der Strom sie bedachte.
Nur Furcht vor seiner Zerstörerart, das Furchtgefühl allein, würde ihren Drang zur Verehrung nicht wecken. Sie fürchteten den Strom und sie fürchten ihn heute noch, aber hinter der Furcht steht das Gefühl, dass er dem Menschen günstig gestimmt werden kann, dass er zur Hilfe veranlasst werden kann, dass er nicht mit Willen des Menschen Tun durchkreuzt. Und darin hatten sie vollkommen recht. Wir lernen endlich, wie es zu machen ist, und sehen jetzt klar, was die Hindus nur unklar empfanden: dass des Stromes Wesen im Grunde gut ist, dass er, einmal gebändigt und in richtige Bahnen gelenkt, dem Menschen unendlich viel Gutes bringen kann.
Der Künstler wird dies rasch erfassen. Er wird sich in den Geist des Stromes versenken und seine wahre Wesensart erkennen. Ungeschreckt von der Ungeheuerlichkeit der Äußerungen des Stromes, wird er jubelnd seine Macht begrüßen und in ihm ein tatkräftiges Mittel zum Guten erblicken. Darum ergeht an den Künstler des Stromes Ruf, und in Antwort auf diesen Ruf wird der Künstler die hohe Schönheit uns schildern, die er im Strome geschaut hat.
Ehe wir das Gebirge erreichen, haben wir jenseits des Stromes vollkommen horizontale, angebaute Ebenen zu überschreiten; nicht eine einzige Anhöhe ist in Sicht. Den meisten Menschen würden diese Ebenen öde, eintönig, reizlos erscheinen. Nirgends ein Horizont, an dessen Grenzen das Auge haften, wo es an weiten Fernen sich laben kann. Da ist kein Hügel, zu dem wir Augen und Herzen erheben können. Dem Ausblick sind engste Grenzen gezogen. Überall beschränken ihn Palmen, Bananenbäume, Häuser, ummauerte Gärten. Klein sind die Felder, zahlreich die Bäume und Häuser. Nichts Fernes ist zu sehen. Für den Europäer ist die Aussicht bedrückend. Aber für den Mann in Bengalen ist sie aufs Tiefste mit seinem Leben verwachsen. Diese dicht bewohnten Ebenen sind seine Heimat. Darum liegt über ihnen der ganze Reiz der vertrauten Umgebung, in der ein Mensch von Kindheit an aufgewachsen ist. Ein Bengale gibt ihnen vor hohen Bergen den Vorzug. Er liebt den Anblick der leuchtend grünen Reisfelder, der hohen Fiederpalmen, der schattigen Bananenbäume, der flammenden Poinsettien, der hellen Ringelblumen, der Canna und der Bougainvillea, der vielfarbigen Blumen des Crotons und des Calladiums, der süß duftenden Blüten des Jasmins, der Orangen, Tuberosen und Gardenien, wie der bunt schimmernden Häher, der schwirrenden Papageien, der spielfrohen Eichhörnchen. Er liebt auch die Teiche zum Baden, die geduldigen Rinder und die kühlen, weltabgeschiedenen Gärten. Um eben ihrer unmittelbaren Nähe willen liebt er diese Dinge. Seine Aufmerksamkeit wird nicht abgelenkt nach fernen Horizonten, nach unzugänglichen Höhen. Alles ist dem Auge nahe und leicht erkennbar. Seine Welt mag klein sein, aber diese ganze Welt ist in Reichweite. Er kann innig vertraut werden mit jedem Baum und mit jeder Blume, mit jedem Vogel und mit jedem Tier. Es ist kein raumheischendes, kein wechselvolles Leben. Aber das Leben ist voll Spannung und Bewegung, und darum zieht es der Bengale desto mehr vor. Und wenn es auch in enge Grenzen gebannt ist, spielt sich seine Enge wenigstens unter freiem Himmel ab und in einem Klima ewigen Sommers.
Jenseits dieser stark bebauten, dicht bevölkerten Gegend, noch in der Ebene, kommen wir zu einem wilden Dschungelland. Es erstreckt sich bis zu den Vorbergen, ist sumpfig und verpestet und durchschwärmt von stechenden Insekten jeder Art. Es ist ein garstiges Land zum Durchwandern. Aber es ist doch von Interesse. Dort wachsen merkwürdige Gräser mit hohen steilen Schösslingen, die sich unter dem Gewicht der gefiederten Enden anmutig neigen, und so hoch wachsen diese Riesengräser, dass sie oft über den Kopf eines auf einem Elefanten sitzenden Reiters noch hinausragen. Wo sie den Boden bedecken, ist es so gut wie unmöglich, zu Fuß einzudringen, und etwas Geheimnisvolles liegt über diesem Gebiet, denn es hausen darin Nashorn, Tiger und Wildschwein. Wir passieren es mit dem unbehaglichen Gefühl, dass jeden Augenblick so ziemlich alles Denkbare erscheinen kann und dass, wären wir zu Fuß und vom Pfade abgekommen, wir unrettbar verloren sein und in einer Flut wogender Gräser ertrinken müssten.
Aus diesem Gräsermeer erheben sich waldbestandene Stellen und einzelne Bäume. Am häufigsten ist der Salbaum (Shorea robusta), ein prächtiger, in Gruppen vorkommender Baum mit hohem, aufrechtem Stamm und dichter, glänzender Belaubung. Am meisten aber in die Augen fällt im März und April der Dakbaum (Butea krondosa), ein unförmiger Baum, doch bemerkenswert durch Blüten von tiefem mattem Scharlachrot, riesengroßen Gartenwicken ähnlich, aber von dichter, samtartiger Beschaffenheit. Diese Blüten öffnen sich, ehe die Blätter erscheinen, und wenn der Baum in voller Blütenpracht steht, ist es, als flamme der ganze Wald.
Ein anderer, sehr schöner Baum kommt in dieser tiefer liegenden Gegend vor, eine Gummiakazie, Acacia catechu, die im nördlichen Indien als Khairbaum bekannt ist und rings um die Vorberge des Himalajas sich findet. Keine hohe, stattliche Erscheinung, eher knorrig und weitgebreitet wie die Eiche, hat sie anmutig gefiedertes Laub, und sie bietet einen freundlichen, einladenden Anblick.
Nach dem Passieren dieser waagerechten Ebenen, die – je näher wir ans Gebirge herankommen – mit dichtem Wald, mit stehenden sumpfigen Gewässern und gepflegten Teepflanzungen bedeckt sind, entdecken wir eines Morgens beim Erwachen, dass sich im Norden über dem Horizont ein langer, wolkenartiger Streifen von rosig überhauchtem Weiß hinzieht, am unteren Ende waagerecht, am oberen jedoch von unregelmäßigem Umriss. Wer noch keine Schneeberge gesehen hat, würde keinen Augenblick annehmen, jener Streifen könne eine Reihe von Berggipfeln sein. Denn von einer Verbindung mit der Erde ist keine Spur zu sehen. Zwischen dem Streifen und der Erde breitet sich nichts als blauer Dunst. Und so hoch über dem Horizont verläuft der Streifen, dass die Möglichkeit einer solchen Vierbindung unglaubhaft erscheint. Und dennoch, wer früher schon Schneeberge gesehen hat, konnte keinen Augenblick im Zweifel sein: Dieser rosigweiße Streifen ist der Himalaja. Denn er hat zwei unverkennbare Eigenschaften, die ihn von jeder Wolke unterscheiden. Erstens ist der untere Rand vollkommen gerade und waagerecht, genau parallel mit dem Horizont. Zweitens ist der obere Rand gezackt, und die Zacken heben sich klar und scharf umrissen vom tiefen Blau des Himmels ab.
Keiner also, der Gebirge kennt, würde bezweifeln können, dass dieser Streifen der Himalaja sei. Und doch wächst bei jedem neuen Hinschauen unser Staunen immer mehr. Wir wissen es bestimmt: Jene scharfen Ränder sind tatsächlich Gipfel von Bergen, deren Fuß auf der festen Erde ruht. So sicher wir aber auch dieser Tatsache sind, wir hören nicht auf zu staunen. Und wenn wir auf jene Kette schneeiger Gipfel blicken, an sich nicht schöner – eher weniger schön – als manche Wolke, erfüllt uns ein eigentümliches Gefühl der Erhebung. Es schwingt sich etwas in uns auf, den Bergen entgegen. Wir können den Blick nicht von ihnen wenden. Es ist, als wären wir über uns selbst hinausgehoben; wir fühlen höhere Möglichkeiten in uns und in der Welt, als wir sie je zuvor gekannt haben. Im Weitermarsch bemühen wir uns, die Berge dauernd in Sicht zu behalten, denn wir können sie nicht missen. Wir fühlen uns geläutert durch ihren Anblick und möchten sie für unser ferneres Leben in bleibender Erinnerung behalten.
Während wir näher an den Saum des Gebirges gelangen, entsteigt sein Fuß dem Dunst, und die Kette schneeiger Gipfel verschwindet hinter den näheren vorliegenden Höhenzügen. Dann kommen wir an diese selbst heran. Sie erheben sich recht unvermittelt in ziemlich gleicher Gestaltung aus der flachen Ebene und zeigen sich von dichtem Wald bedeckt, von echtem, strotzendem, üppigem Tropenwald mit allem Zauber schimmernden Grüns, anmutiger Farne und Palmen, herrlicher Orchideen und leuchtender Schmetterlinge.
ZWEITES KAPITEL
DAS TISTATAL
Dieser große Wald, der sich über viele Hunderte von Kilometern an den Abhängen des Himalajas entlang erstreckt, reicht von der Ebene bis hinauf zum Schnee. In seinem tiefer gelegenen Teil ist es echter Tropenwald, und ein Tropenwald hat immer etwas besonders Geheimnisvolles. Befremdende Stille liegt über allem. Nicht das völlige Schweigen der Wüste, wo nicht der geringste Laut zu hören ist – denn hier im Wald ertönt immer, selbst während der heißen Mittagsruhe, das Summen der Insektenwelt –, sondern jene Stille, in der kein Blatt sich regt und kein störendes Geräusch vernehmbar ist, wo es wie eindrucksvolles Verstummen über der Landschaft liegt und wir eine geheimnisvolle Gegenwart zu spüren vermeinen, die alles ringsum beherrscht und erwartungsvolle Empfindungen in uns wachruft.
Wie ein Erschauern überkommt es uns, und zugleich fühlen wir uns lebhaft angeregt. Wir können kaum hundert Meter weit in irgendeiner Richtung sehen. Aber wir wissen, dass sich der Wald Hunderte von Kilometern weit in gleicher Weise erstreckt. Und es ist uns klar, dass wir uns vielleicht nie mehr zurechtfinden würden, wenn wir vom Weg abirrten. Das Ganze erweckt in hohem Maß eine Empfindung der Scheu und auch eine gewisse Bangigkeit. Dennoch durchzittert es uns freudig beim Anblick so überreichen, gesteigerten, mannigfaltigen Lebens.
In dieser heißen, dampferfüllten Luft wachsen Pflanzen und Bäume in wuchernder Fülle. Jeder Zoll Erdreich ist besetzt. Und in diesen Wäldern ist es nicht so wie in unserem heimischen Wald, der nur drei oder vier Baumarten umfasst, Eichen, Buchen, Ahorn usw. In diesen Wäldern von Sikkim sehen wir nur selten zwei Bäume der gleichen Art beisammenstehen. Es mag eine Baumart vorwiegend vertreten sein, aber es macht sich immer eine große Mannigfaltigkeit geltend in den Formen und Farben der Stämme, der Äste, Blätter und Blüten und im Wuchs. Es gibt dort Bäume von ungeheurer Höhe mit schlank ragendem, kraftvoll aufrechtem Stamm, und dann wieder gibt es Sträucher wie Hortensien von jeder Größe und Beschaffenheit. Es wachsen dort Kletterpflanzen von Kabeldicke und zarte Pflänzchen, die sich kaum über den Erdboden erheben. Die Pflanzenwelt ist von unbegrenzter Mannigfaltigkeit, und mit einer Regung freudigen Entzückens stoßen wir auf Köstlichkeiten, eine nach der anderen, die wir bisher nur in irgendeinem kostspieligen Gewächshaus zu sehen bekommen hatten, wo sie mit unendlicher Mühe gezüchtet werden.
Dabei haben wir die Empfindung, das, was wir gewahren, sei nur eine beiläufige Musterprobe dessen, was zu sehen ist. Was mag es nicht alles geben, dort in den tiefen Waldesgründen, die wir, aus Sorge uns zu verirren, nicht zu betreten wagen! Auf welch ragende Könige des Waldes würden wir vielleicht noch stoßen, wenn wir uns in seine Tiefen stürzen wollten! Auf welch köstliche Blumen, welche Insekten, Vögel, vierfüßige Tiere! Was für ein reiches Insektenleben mag sich in den Wipfeln der Bäume abspielen, dort, wo von einer sengenden Sonne, die uns die Blätter verbergen, die Blüten hervorgetrieben werden! Was mag im Boden unter unseren Füßen nicht alles vor sich gehen! In diesen Wäldern gibt es – nahe genug vielleicht, um uns gewahr zu werden, wenn auch ihre Gestalten uns durch die Ähnlichkeit mit der blätterreichen Umgebung und durch das Fleckenspiel der Sonnenkringel verborgen bleiben – Tiere so verschiedener Art, wie Elefant, Tiger, Leopard, Fuchs, Eichhörnchen und Fledermaus; Vögel wie Habicht, Papagei und Fink; Insekten, von den Schmetterlingen, Bienen und Wespen angefangen bis zu Grillen, Käfern und Ameisen. Wir wissen, dass der Wald bei all seinem Reichtum an Baum- und Pflanzenleben auch übervoll ist vom Leben der vierfüßigen Tiere und der Insekten; von diesem sehen wir freilich nur sehr wenig, so sorgfältig wissen sich die Tiere zu verbergen. Nachts kommen sie hervor, und morgens und abends ist der dröhnende Lärm der Insekten ohrenbetäubend. In der Mittagstunde aber herrscht ein zartes, feierliches Schweigen, und gespannteste Neugierde erfüllt uns zu wissen, was sich alles dort in den geheimnisvollen Tiefen des Waldes und oben in den Baumwipfeln abspielt, die so nahe und doch so ganz unzugänglich sind.
Der mächtige Wald ist geradezu ein Auszug alles Lebens. Auf kleinem Raum zusammengedrängt finden sich hier Lebewesen jeder Gestalt und Abart, von der bescheidensten Pflanze bis zum König der Wälder, vom einfachsten Tierchen bis zum Elefanten, Affen und Menschen. Leben, Überfülle an Leben umgibt uns überall. Es ist aber nicht das geräuschvolle, lärmende, aufdringliche Leben der Städte. Es ist ein Leben voll verhaltener Spannung, voll unausgesprochener Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlimmen. Das Geheimnis aber liegt darin: Wir schauen viel, haben jedoch die Empfindung, dass unendlich mehr noch dahinterliegt.
Von diesem Leben des Waldes in seiner ganzen Fülle, Stärke und Mannigfaltigkeit werden wir mehr erfahren, je weiter wir das Tistatal hinaufwandern, bis dahin, wo es die Schneegrenze erreicht und das tropische Pflanzen- und Tierleben erst in gemäßigte und dann in arktische Formen übergeht. Zuvor aber müssen wir auf einige der Schönheiten des Tals selbst achten.
Das Tal des gewaltigen Tistaflusses, die Täler seiner Zuflüsse, die Schluchten, durch die der Hauptstrom und seine Zuflüsse hinabbrausen, die Wasserfälle, die einer nach dem anderen über die Abhänge des Gebirges stürzen, die weltabgeschiedenen Tälchen und Mulden – sie alle nennen Schönheiten ihr eigen, die die ungeheuerlichen Regengüsse und die Nebel, in die sie meist gehüllt sind, nicht verbergen, sondern nur verstärken können.
Der Tistastrom selbst, obwohl nur ein kleiner Nebenfluss des Brahmaputra, ist nichtsdestoweniger zur Regenzeit, wo er durch sie wie durch die Schnee- und Gletscherschmelze im Kantschindschangagebiet genährt wird, von eindrucksvoller Macht und Kraft. Mit einer Gewalt und Wildheit, der nichts zu widerstehen vermöchte, wälzt er sich das Tal hinab. Von seiner stürmischen Heftigkeit würde alles hinweggefegt werden. Denn er ist kein kleiner wilder Bergstrom, er hat Tiefe und Wucht und Fülle, und in gewaltigen Wogen und Schnellen rollt er hoheitsvoll daher. Verglichen mit der heiteren Gelassenheit der erhabenen Gipfel ist hier Leben und Kraft und Tätigkeit vollauf, und allem Anschein nach macht sich die Tätigkeit durch Zerstörung geltend. Während wir aber von der Geborgenheit einer Brücke aus, die menschliche Schöpferkraft darübergeschlagen hat, auf den Aufruhr hinschauen, durchzuckt es uns doch seltsam. In dem Strom liegt eine mächtige Tatkraft. Wir sind von der Macht, die er entfaltet, wie gebannt. Er ist herrlich zu schauen, in gewisser Hinsicht wohl auch beunruhigend. Wir wissen aber, dass er nur innerhalb bestimmter, streng festgesetzter Grenzen handeln kann. Einen Fußbreit darüber hinaus ist er machtlos. Und während ihm schon von der Natur diese Grenzen gezogen sind, wird, das wissen wir, auch der Tag einst kommen, da er völlig unter der Herrschaft des Menschen stehen und seine Gewalt ganz für unsere eigenen Ziele verwertbar sein wird. So ist es schließlich doch kein Gefühl des Entsetzens, mit dem wir dem tobenden Strom bei seinem überstürzten Lauf zuschauen. Wir genießen vielmehr diesen Anblick siegessicherer Tatkraft, die dereinst dem Menschen zur Verfügung stehen wird. Mit dem Strom zusammen erfreuen wir uns eines Machtgefühls, und darin liegt für uns seine Schönheit.
Wir betrachten die ungeheuerlichen Schluchten, durch die der Strom sich seinen Weg bahnt, und wieder erfüllen uns Staunen und Scheu. Unmittelbar uns gegenüber steht eine kahle, glatte Felswand von härtestem, starrstem Gestein. Ganz senkrecht kann sie nicht sein, aber sie scheint so. Ihr Anblick allein schon stählt unsere Seele. Hier ist granitene Festigkeit und doch nicht nur beschränkter Eigensinn. Denn diese Felswände, so sagen uns die Geologen, haben sich aus eigener innerer Kraft zu ihrer heutigen stolzen Höhe erhoben. Dem Strom mussten sie allerdings Raum geben, indem sie sein schon zuvor bestehendes Durchgangsrecht anerkennen und bei ihrem Drang zur Höhe ihm einen Weg überlassen mussten. So viel an Zoll verlangt der Strom unnachsichtig Jahr um Jahr von ihnen. Nachdem sie diesen Zoll entrichtet haben, sind sie in einer Entwicklung von stetiger, ausdauernder Beharrlichkeit gestiegen und haben sich rein durch die Festigkeit und Zähigkeit ihrer Eigenart in ihrer erhöhten Stellung erhalten. Wie sie jetzt hoch über uns in die Wolken ragen, triefend von warmer Feuchtigkeit, in jeder nutzbaren Spalte anmutige Farne und Bäume mit emportragend, wie sie die Grundpfeiler bilden jener schneeigen Gipfel, die hin und wieder für einen Augenblick sichtbar werden: Da empfinden wir das Eindrucksvolle nicht nur der Höhe des Strebens, die diese Gipfel verkörpern, sondern auch die Kraft und Beharrlichkeit, die notwendig waren, um jenes Streben durchzuführen.
Zeitweise fühlen wir uns freilich überwältigt, eingeschlossen und überschattet von dem, was so unendlich viel größer erscheint als wir selbst. Der tosende Strom füllt die Mitte der Schlucht aus. Zu beiden Seiten steigen steil die schroffen Felswände auf. Für den Augenblick scheinen wir zu winzig, um mit Verhältnissen von so gigantischer Größe den Kampf aufzunehmen. Manchmal aber umgingen wir die Felswände und kamen nach langem, ermüdendem Umweg hoch über ihnen heraus; manchmal auch sprengten wir uns einen Weg quer durch; so haben wir bewiesen, dass wir imstande sind, sie zu überwältigen. Sie schrecken uns nicht länger. Auf dem Rückweg das Tal hinunter, nachdem wir bis zu seinem obersten Rand gelangt waren, betrachten wir diese Felswände mit ungetrübter Freude. Sie führen uns klar die Kraft vor Augen, die sich mit dem Streben nach hohen Zielen verbinden muss, sollen diese Ziele erreicht werden. Ohne die tragende Stütze dieser widerstandsfähigen Felsen hätte das Gebirge seine jetzige Höhe nie erreichen können. Darum fühlen wir mit den Felswänden Freude über ihre Festigkeit und Kraft, mit denen sie sich stolz der Welt entgegenstellen. Und wir erkennen, dass in dieser Festigkeit und in dieser Beständigkeit des Strebens ihre besondere Schönheit beruht.
Im Gegensatz zum wirbelnden Strom und zu den harten, rauen Felswänden dicht in ihrer Nähe und an einer bescheidenen Ader eines Zuflusses versteckt in den Tiefen des stillen Waldes, stoßen wir vielleicht auf einen tiefen, weltabgeschiedenen Teich, der uns empfinden lässt, wie feinfühlig und zurückhaltend die Natur sein kann. Sie erscheint uns hier in einem besonders zarten Licht. Still und klar liegt der Teich; das einlullende Murmeln eines Wasserfalls lässt erkennen, wem er seine Entstehung verdankt. Ein sanftes Bächlein trägt den Überlauf fort. Gebirgsschutt und Felsblöcke, von köstlichen Farnen und Moosen übergrünt, fassen ihn ein. Über ihn neigen sich Palmen mit lang herabhängenden starren Fiedern. Bäume mit hoch aufgerichtetem Stamm von der Höhe der Nelsonsäule in London recken sich hinauf, dem Licht entgegen. In Mengen flattern Schmetterlinge lautlos hin und her. Ganz still ist die Luft, sie fühlt sich an wie Seide. Wolken schweben umher von ungreifbarer Weichheit, wie Schnee so weiß und rein; sie erscheinen, lösen sich auf und bilden sich aufs Neue. Durch die Lücken der überhängenden Bäume schaut stellenweise der tiefblaue Himmel herein. Da und dort dringt das Sonnenlicht durch das Blättergewölbe, und dann schimmern die grünen Laubtöne noch heller. Die Stimmung, die über der Stelle liegt, ist erfüllt von Verschwiegenheit und Zurückhaltung. Aber so still und ruhevoll sie ist, lässt sie doch keine Empfindung des Stillstands aufkommen. Tief und unbewegt ist der Teich, und doch voll regsten Lebens. Beständig wird sein Wasser erneuert. Und wenn auch kein Blatt im Wald sich regt, ruft er doch mit dem ganzen Drang des Lebens nach Nahrung und Licht, nach Luft und Feuchtigkeit. Vor diesem Kleinod eines Teiches in seiner frischgrünen Umrahmung verspüren wir eine zarte, feinsinnige Lebenstätigkeit. Eine scheue, innerliche Schönheit lebt in dem Waldtal, sie berührt uns nach der krafterfüllten Schönheit des Stromes, nach der kühnen, stolzen Schönheit der Felsenwände besonders wohltuend. Doch nicht kraftlos ist diese Schönheit; gerade in ihrer Ruhe und in ihrer Zuversicht liegt Kraft.