Читать книгу: «Liebesengel küssen nicht», страница 4
KAPITEL 6
EIN MORGEN, DEN MAN NICHT SO SCHNELL VERGISST
Es ist Morgen. In wenigen Stunden werde ich Max, in Agenten-Manier, bei der Schule auflauern, um ein Auge auf ihn zu werfen, wenn er nach Hause läuft. Ich sollte jedoch aufpassen, dass man mich nicht für eine pädophile Stalkerin hält. Den Trenchcoat und die Sonnenbrille würde ich mir also sparen. Schade.
Da ich nachts bereits ein paar ältere erfolgreiche Aufträge überprüft habe und nichts im Argen zu liegen scheint, beschließe ich, kurz bei Susan Hunz vorbeizuschauen. Jonas‘ optimale Partnerin arbeitet als eine von zwei Chefsekretärinnen in einem Großunternehmen.
Als ich im Unsichtbarkeits-Modus in ihrem Vorzimmer aufschlage, spüre ich sofort die Anspannung, die in der Luft liegt. Ihre Kollegin, die Haare auf den Zähnen hat, keift sie von oben herab an.
»Also ich kann jetzt auf gar keinen Fall den Kaffee kochen, Susan. Ich muss diese Liste unbedingt fertigbekommen.«
Susan stöhnt leise vor sich hin und verlässt ihren Schreibtisch, um in die angrenzende Kaffeeküche zu gehen. Nebenher murrt sie: »Ich serviere den Herren ihren Kaffee, Monika. Allerdings weiß ich nicht, warum du jetzt im Sommer schon mit der Weihnachts-Präsent-Liste anfangen willst? Bis es soweit ist, überlegt sich der Chef es sowieso wieder dreimal.« Die Blondine beginnt, ein Tablett mit drei Kaffeegedecken zu richten, und stellt eine Tasse unter den Vollautomaten, um sie mit Kaffee zu befüllen. Unglücklicherweise ist der Zuckerstreuer leer, und Susan will diesen wieder auffüllen. Mittendrin in ihrem Tun rutscht ihr der Behälter davon. Der gesamte Zucker verteilt sich über die Arbeitsfläche der Mini-Anrichte, auch über den Küchenboden. Fies, wie die Zuckerkristalle nun mal so sind, legen sie sich in jede Ritze hinein. Leise vernehme ich Susans Fluchen. »Mist. Ich hasse diesen blöden Zuckerstreuer. Das nächste Mal besorge ich Zuckerwürfel. Scheißegal, was der Chef sagt.«
Das Mädchen gefällt mir, besonders der aparte Leberfleck, den sie unter ihrem linken Auge hat. Ja, Jonas würde wohl oder übel an ihr Gefallen finden.
Shit! Ich meine natürlich – hipp, hipp, hurra!
Susan dreht sich um, auf der Suche nach einem Besen, und stößt dabei, mit ihrem Ellbogen, gegen die volle Tasse Kaffee. Prompt kippt diese zur Seite weg, und die braune Brühe überschwemmt alles, was in erreichbarer Nähe ist. Es tropft sogar an dem weißen Schrank herunter, auf den kleinen Teppich, auf dem schon der Zucker liegt.
»War ja mal wieder klar, dass mir das passiert«, knurrt Susan und bestätigt damit meine Vermutung, dass sie nebenberuflicher Tollpatsch ist.
Noch immer hält sie die Packung Zucker in den Händen, die sie abstellt, ohne hinzuschauen. Dummerweise platziert sie die Tüte mitten in den ausgeleerten Kaffee. Schnell bemerkt sie ihren Fehler. Aber nicht schnell genug. Hastig reißt sie die Papiertüte wieder hoch, doch die Verpackung ist bereits aufgeweicht, und mit einem dumpfen Ratsch reißt der Boden durch. Das knappe Kilo Zucker rieselt unaufhaltsam durch die ganze Küche, da Susan in ihrer Panik irgendein Gefäß sucht, wo sie den Übeltäter reinpacken kann. Während sie ihr Bestes gibt, die angerichtete Katastrophe zu verschlimmern, höre ich ihre Kollegin aus dem Vorzimmer brüllen.
»Susan, Telefon für dich. Die Schule ist dran, wahrscheinlich hat dein Sohn schon wieder irgendwas angestellt. Sag mal, wo bleibst du denn mit dem Kaffee?«
Ein Ruck geht durch Susans Körper, und entnervt lässt sie ihr Haupt in den Nacken fallen. Voller Mitleid sehe ich, wie sie ihre Lider schließt und bedächtig tief Luft holt. Leicht zittert ihre Stimme. »Ja. Ich komme gleich. Einen Moment, bitte.«
Ich bewundere die Blondine für ihren Willen, nicht die Fassung zu verlieren und die blöde Schnepfe von nebenan nicht lautstark zusammenzufalten.
Ganz vorsichtig helfe ich ihr, damit sie nichts von meinem Tun bemerkt, den Zucker und die Flüssigkeit von den Möbeln und aus dem Teppich zu entfernen. Ehrlich, ich gönne ihr Jonas beinahe, denn wenn ihre Tage so aussehen, braucht sie dringend etwas, auf das sie sich abends freuen kann. Und der schöne Jonas ist so etwas.
Okay, mehr Frust vertrage ich nicht. Und da ich eh nach meinem neuen Arbeitgeber schauen muss, gönne ich mir einen Blick auf Jonas.
Einen Atemzug später finde ich mich neben einem großen Schreibtisch wieder. Es ist nicht der, den ich von seinem Zuhause kenne, sondern er steht in einem mondän eingerichteten Büro. Es ist riesig, und eine Wand besteht aus einer Fensterfront. Diese gibt den Blick über eine Großstadt frei. Wir befinden uns Minimum im zehnten Stockwerk, in einem der modernen Hochhäuser, die zentral in der Stadtmitte liegen. Lediglich die richtig großen Unternehmen, die Schotter ohne Ende haben, können sich hier ihren Sitz leisten. Und dieses Gebäude gehört sogar der Firma, für die Jonas arbeitet.
Im Anzug, mit Hemd und Krawatte, sitzt Zuckerschnittchen in dem klimatisierten Raum und sieht noch besser aus als gestern. Das Jackett macht seine Schultern noch breiter wie mein Grinsen bei dieser Feststellung. Er liest irgendwelche Unterlagen und blickt ab und zu auf den Monitor, als überprüfe er etwas.
Von Susans Selbstgesprächen angesteckt, seufze ich ebenfalls vor mich hin. »Jonas, du steiler Hengst, wie heiß du wieder aussiehst. Lass mich mal an dir riechen.« Ich trete neben ihn, um mir eine Nase voll Jonas zu genehmigen. »Mmmh, genauso gut wie gestern. Vielleicht sogar noch besser.«
Plötzlich ertönt eine tiefe Stimme. »Holst du Max heute Mittag wieder zu dir ins Büro?«
Überrascht schaue ich auf und entdecke, am anderen Ende des Büros in einer Ecke stehend, einen großen Mann. Er starrt zum Fenster auf die Stadt hinaus. Zu seinem Profil fällt mir kein anderer Begriff ein als: klassische Anmut. Die gerade Nase und die hohe Stirn wirken edel. Auf Anhieb sticht mir sein schwarzer Dreitagebart ins Auge. Nach dem teuren Anzug zu urteilen, ist er wohl ein Arbeitskollege von Jonas. Lässig mit den Händen in den Hosentaschen, wendet er sich diesem zu und wartet auf eine Antwort.
Jonas blickt nicht auf, sondern studiert weiter seine Blätter. »Nein. So wie es aussieht, habe ich gestern eine Tagesmutter für ihn gefunden.«
»Ja, mich, Zuckerschnittchen«, mische ich mich in das Gespräch ein und lächle angeberisch.
Der Arbeitskollege erwartet noch mehr Information, was der Ausdruck seiner attraktiven Züge erahnen lässt. »Na, das ist doch gut. Oder nicht?«
Endlich widmet Jonas ihm seine Aufmerksamkeit. »Ja, schon, aber … Du kannst dir nicht vorstellen, was für Frauen sich gestern bei mir einfanden, die sich um die Stelle beworben haben. Unfassbar! Die kommenden Tage werde ich zwischendrin öfter mal nach Hause gehen, um zu schauen, ob die junge Dame wirklich so normal ist, wie es bis jetzt scheint.«
Empört hole ich Luft. »Na, also hör mal. Wie redest du denn von mir?«
Der andere Mann lacht und zeigt dabei, wie weiß seine Zähne sind. Der Typ wäre das optimale Werbemodel für Zahnpasta. Mit seinem dunklen Teint und seinen schwarzen Haaren, lasern seine Beißerchen einem schier das Augenlicht weg. Er geht ein paar Schritte auf Jonas und mich zu, bleibt dann aber an einer Betonsäule stehen. Er lehnt sich mit überkreuzten Beinen dagegen und betrachtet interessiert seinen Arbeitskollegen. »Ach, herrje, das hört sich ja nicht gerade verlockend an. Bestimmt ist die Dame zu allem hin noch total hässlich?«
Meine Augen kugeln sich. »Hallo? Ich bin ganz und gar nicht hässlich, du Idiot.«
Jonas schüttelt grinsend den Kopf. »Du wieder. Nein, sie ist …«
»Ja, sag es ihm. Los raus damit! Sag ihm, dass ich der Traum deiner schlaflosen Nächte bin!«, feuere ich Jonas an und lege mich dreist mit dem Rücken auf seinen Schreibtisch, um mich dort unter seiner Nase zu räkeln.
»… recht hübsch, würde ich sagen«, vollendet mein Chef lieb den Satz.
Zufrieden grinse ich. »Na bitte.« Mit Pupston strecke ich dem »Man in Black« Hals über Kopf die Zunge heraus. Die zwei können mich ja weder sehen noch hören, also was soll’s?
Der Arbeitskollege nickt mit überraschter Miene. »Wow. Dann solltest du dich an sie ranmachen.«
Erschrocken gucke ich zu Jonas, der seinen Kopf schief legt und keine Sekunde mit seiner Antwort zögert.
»Nein.«
Sein Kollege stößt sich energisch von der Säule ab und kommt zum Schreibtisch, wo er sich auf der gegenüberliegenden Seite aufstützt. »Mann, Jonas! Wann warst du das letzte Mal mit einer Frau zusammen?« Keine Antwort kommt von Zuckerschnittchen, sondern bloß ein befangener Blick. Interessiert richte ich mich auf, sodass ich auf der Tischplatte sitze. Es ist noch schlimmer, als ich dachte, der süße Jonas hat eine Durststrecke hinter sich und merkt es nicht einmal. Der schwarzhaarige Macho hat derweil Jonas‘ Gesichtsausdruck richtig eingeordnet und redet sich in Fahrt, wobei mir bei seinem letzten Satz die Augen schier rauskullern wollen. »Seit drei Jahren hattest du keine Frau mehr …? Das kann doch wohl nicht wahr sein?! Verflucht, wenn dir die Kleine gefällt, dann hol sie dir und lass es dir von ihr ordentlich besorgen.«
»Hä?«, fällt mir lediglich zu dieser Unflätigkeit ein, und ich stehe kerzengerade vor Entrüstung.
Aber Super-Macho ist noch nicht fertig. »Alter, deine Pfeife gehört hin und wieder mal ordentlich durchgeschrubbt, und die Kleine kann das sicherlich um Längen besser als deine linke Hand. Darauf würde ich jede Wette eingehen.«
»Uähhh. Das ist ja … widerlich«, kiekse ich und wanke rückwärts an die Wand, die hinter mir liegt.
Fassungslos blicke ich in das Gesicht des bärtigen Arbeitskollegen, der, seinen Äußerungen zufolge offenbar ein arroganter Weiberheld ist.
Klar, mit dem Gesicht bekommt der Idiot wahrscheinlich auch alles in die Horizontale, was er will. Die perfekt gestylte Stoppelhaarfrisur liegt nämlich voll im Trend. Seine tief liegenden Augen sind beeindruckend, denn sie glühen in einem kräftigen Grün unter den dichten Brauen.
»Hey!«, kommt es vorwurfsvoll von Jonas. »Sie arbeitet für mich. Ich kann doch nicht …« Abermals schüttelt mein Chef den Kopf und macht dennoch einen unentschlossenen Eindruck, was mich verwirrt aus dem Shirt glotzen lässt.
Super-Macho richtet sich auf und schlendert ziellos durch den Büroraum. »Warum denn nicht? Wer weiß, ob sich daraus nicht etwas Festes entwickelt. Und wenn Max sie mag, ist das doch prima.«
Jonas‘ Augen wandern unruhig hin und her. »Aber was ist, wenn es sich als Fehler erweist? Dann habe ich wieder keine Tagesmutter, und Max verliert erneut eine Vertrauensperson.«
Ehe ich mich versehe, steht der eingebildete Frauenheld auf einmal vor mir. Er schaut zerstreut umher, als suche er etwas. »Jonas, du hast doch mein Stellenangebot angenommen, um hier von vorn anzufangen. Du hast es für Max getan, aber auch für dich.«
Plötzlich starrt der Kerl mir direkt in die Augen. Mitten ins Gesicht. Ohne Zweifel.
Mit einem zynischen Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt, höre ich ihn sagen: »Wenn du nichts riskierst, wirst du auch nie gewinnen. So einfach ist das.«
Der redet doch nicht mit mir? Nein. Unmöglich!
Schlagartig verschwindet jede Freundlichkeit aus den Zügen des bärtigen Mannes, und seine schwarzen Augenbrauen bilden einen diabolischen Bogen. Die ausgeprägten Flügel seiner schmalen Nase beginnen, zu beben. Eine atemraubende Dunkelheit schlägt mir entgegen, die mich bewegungsunfähig macht. Tatenlos beobachte ich, wie er sich sein Kinn reibt. Und dann sehe ich ihn: den Fingerring der Eristen.
Im selben Augenblick wird mir bewusst, dass ich schon die ganze Zeit über diesen typischen Gegendruck fühle, der bei ihm jedoch unglaublich stark ist.
Wieso habe ich es nicht wahrgenommen? War ich von dem Gespräch und Jonas zu sehr abgelenkt?
Heiß fallen mir die ganzen Dinge ein, die ich zu Jonas gesagt habe und zu dem Eristen, die entweder lüstern oder nicht nett waren – und wie ich mich benommen habe, als ich an Jonas roch oder mich auf dem Tisch räkelte. Alles hat der Erist gesehen und gehört. Einfach alles. Mir wird speiübel.
Noch nie ist mir so etwas passiert. Noch nie ist mir etwas so peinlich gewesen wie das. Ein Feuer aus Scham setzt mein Inneres in Brand und lässt meinen Kopf wie eine Tomate leuchten, was ich an meinen erhitzten Wangen spüren kann. Die grünen Flammen in den Augen des Eristen halten mich schonungslos gefangen. Ich sehe es ihm an, dass er sich darin aalt, mich, die Cupida, vorgeführt zu haben. Dem Kerl war nach meinem ersten Wort sofort klar, wer und was ich bin: Dass ich seine Gegnerin darstelle, eine Cupida, die ihrem Klienten hinterherhechelt. Großer Gott!
In meiner panischen Verzweiflung fällt mir nichts anderes ein, als mich augenblicklich in Luft aufzulösen und in die Cupida-Leitstelle zu flüchten. Ich fühle mich … erbärmlich.
Wie immer, trudle ich vor Bellamys Schreibtisch ein. Der Schreck ist mir offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn mein Operator fragt sofort: »Evodie? Was ist los? Du siehst aus, als hättest du den Teufel höchstpersönlich gesehen.«
Ein nervöses Lachen platzt aus mir raus. »Ja. Ja, so könnte der Teufel vielleicht tatsächlich aussehen.«
»Oh, nein, sag nicht, es ist der gleiche Erist, wie der, mit dem Artreus und Hector Probleme hatten?«, will Bellamy wissen und schlägt sich die Hand vor den Mund.
Erneut wird mir heiß, und ich falle in eine Schockstarre. Wie waren Artreus‘ Worte gewesen?_Hat 'ne Visage wie Luzifer persönlich. Und was hatte Hector gemeint? Ja, kann man sagen. Außerdem hatte er den Eristen als groß, dunkler Typ beschrieben. Das könnte ebenso eine zutreffende Beschreibung von meinem Eristen-Schrägstrich-Idioten sein. Ist das ein Zufall? Mit klopfendem Herzen frage ich Bellamy: »Ich … hoffe nicht. Habt ihr den Namen unseres Gegners rausbekommen?«
Überheblicher Stolz lässt das runde Gesicht meines Operators strahlen. »Was glaubst du, mit wem du sprichst? Natürlich. Er heißt Demian.«
»Demian«, wiederhole ich den Namen, um ihn mir einzuprägen.
Bellamy unterbricht meine Gedanken. »Glaubst du, es ist derselbe, den du getroffen hast? Du warst doch mit deinem neuen Auftrag beschäftigt, warum läuft der dir dort in die Arme?«
Wut ballt sich in meinem Magen zusammen. Bellamy hat recht. Warum lungert diese Knalltüte bei Jonas herum? So, wie er sich gegeben hat, und nach seinem Gegendruck zu urteilen, war er kein Anfänger. Keiner der Anfänger, die den Erstkontakt versemmeln dürfen.
»Wie gut ist dieser Demian? Was glaubst du?«, frage ich atemlos.
Bellamys Ausdruck beunruhigt mich zutiefst.
»Er ist einer der Besten, wenn nicht sogar der Beste. Anscheinend strebt er eine Karriere beim Löschtrupp an?«
»Fuck!«, flutscht es mir heraus. »Das heißt, er hat bereits seit Jahrhunderten ohne GoE und sonstige gravierende Fehler gearbeitet. Denn nur dann kann man bei den Elite-Heinis mitmischen.«
Mein Operator kichert. »Evodie, die meisten Cupidas und Eristen wünschen sich, den höheren Truppen beizutreten. Das ist nichts Besonderes. Es ist für sie das Höchste, den weißen Jumpsuit anziehen zu dürfen. Sogar mein voriger Cupida ist dorthin befördert worden.«
»Ehrlich, ich weiß nicht, was daran toll sein soll, im Gedächtnis von Menschen rumzuwühlen und ihnen Erinnerungen einzuhauchen oder die zu löschen, die uns gefährlich werden könnten. Und diesen weißen Strampelanzug können sie gerne behalten. In dem Teil kann man gar nicht gut aussehen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Du behauptest, du würdest die Chance nicht ergreifen und zu den Erinnerungseinpflanzern wechseln, wenn Phileas sie dir bieten würde? Du würdest es ablehnen, für die Legion zu arbeiten, die die größte Macht hat, die schalten und walten kann, wie sie will … deren Name in Ehrfurcht geflüstert wird?«
Es war unverkennbar, dass Bellamy mir nicht glauben wollte und sich dabei auf meine Kosten königlich amüsierte.
»Na, na, jetzt übertreibe mal nicht. Nein, ich möchte weder ein Erinnerungseinpflanzer noch ein Radierer werden, denn auch sie sind weisungsgebunden. Von wegen schalten und walten, wie sie wollen. Die müssen noch viel mehr aufpassen als wir Cupidas. Aber um das geht es jetzt sowieso nicht, sondern um den Eristen, der bei meinem ›Mega-Wichtig-Auftrag‹ mitmischt. Wie es aussieht, haben sie ebenfalls ihren besten Mann darauf angesetzt. Die Frage ist, warum? Ist Phileas da?«
»Ja, und er hat gute Laune, vermiese sie ihm bitte nicht.«
»Ich probiere es, aber versprechen kann ich nichts«, erwidere ich sauer und mache mich auf den Weg zu Phileas‘ Büro.
KAPITEL 7
DER CHEF DER CUPIDA-LEGION
Mit festen Schritten laufe ich auf Phileas‘ Tür zu. Ich nehme mir vor, mich diesmal nicht von seinem Auftreten verunsichern zu lassen. Irgendwie schafft es mein Chef, mich jedes Mal in ein stammelndes Würstchen zu verwandeln. Bisher bin ich noch nicht richtig dahintergekommen, wie er das bewerkstelligt, denn sobald ich ihn anschaue, staune ich über die Perfektion seiner Erscheinung und vergesse, was ich wollte.
Eigentlich sollte ich jeden Blickkontakt mit ihm meiden. Genau, am besten würde ich dieses Treffen überstehen, wenn ich unentwegt auf den Boden starre. Auf diese Weise könnte ich ihm ungehindert meine Wut entgegenschreien … so abprallend vom Boden … im steilen Winkel … nach oben, wie bei einem Billardspiel. Unter keinen Umständen darf ich mich aus dem Konzept bringen lassen. Ich bin eine wütende Cupida. Jawohl!
Mit diesem Vorsatz klopfe ich vehement gegen die Bürotür meines Chefs und trete, frech wie ich bin, ohne Aufforderung ein. Schließlich bin ich voll in Fahrt und nutze meinen Elan.
»Phileas!«, setze ich sogleich in scharfem Ton an, damit er sofort weiß, was Sache ist. Bewusst halte ich meinen Kopf gesenkt und fahre fort in meiner wütenden Rede. »Wieso steht von dem Eristen, der bei Jonas Kinz rumhängt, nicht ein Sterbenswörtchen in deinem Bericht? Wieso lässt du mich dermaßen ins Messer laufen?«
Ich stoße die Tür hinter mir zu und starre auf die verchromten Füße seines Schreibtischs. Nein, ich werde mich nicht setzen und damit in eine unterlegene Position begeben.
Ohne mich darum zu kümmern, wie bescheuert ich vermutlich aussehe, wenn ich seinen Schreibtisch anwettere, ereifere ich mich weiter. »Und jetzt komm mir bloß nicht damit, dass du von dem Teufelskerl nichts gewusst hättest. Der Erist hat nämlich Jonas diese neue Arbeitsstelle besorgt, und macht den Eindruck, als wäre er ein langjähriger Freund von ihm. Also, was zur Hölle, wird hier gespielt?«
Von Phileas kommt kein einziger Ton. Nach wie vor stiere ich auf die Chromfüße, als langsam zwei schneeweiße Herrenschuhe in mein Sichtfeld geraten. Ich traue mich, den weißen Hosen lediglich bis zum Knie zu folgen. Höher will ich meinen Blick nicht schweifen lassen.
»Evodie?«, höre ich Phileas‘ Stimme, die in meinen Ohren so geschmeidig klingt, wie goldener Honig, der sacht in ein Glas fließt. Sanft, schwingend, zuckersüß. Einfach unwiderstehlich. Es ist wie ein Zwang, der mich unbedingt dorthin schauen lassen will, woher die Stimme rührt. Ich wehre mich, doch erneut werde ich von seinem Timbre zart eingelullt. »Evodie, sieh mir in die Augen!«, befiehlt mir Phileas schmeichelnd.
Ich will es nicht, und doch kann ich nichts dagegen unternehmen. Allmählich kriechen meine Augen die Männerbeine hoch. Phileas‘ schlanke Statur wirkt wie gemacht für den strahlend weißen Herrenanzug. Alles an ihm ist blütenrein: die Hose, das Hemd, das Jackett, sogar die Krawatte. Obwohl in seinem Büro die Möbel ebenfalls weiß sind, wie überall in der Cupida-Leitstelle, erscheint mein Chef noch weißer. Rein leuchtend. Wie macht der Kerl das bloß? Groß und elegant, bis in die gegelten Haarspitzen, steht er vor mir.
Verdammt! Wieder hat es mich erwischt. Von seiner gewinnenden Aura überrumpelt, spüre ich, wie die Wut aus mir hinausgesaugt wird.
Klare blaue Augen überwinden jegliches Hindernis und blicken direkt in meine Seele. Es sind gutmütige Augen, in denen man sich verliert, ohne etwas infrage zu stellen, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Seine Nase ist vollkommen gerade, kein Makel ist daran zu finden, genauso wenig wie an seinem Mund, dessen schmale Lippen ebenmäßig geschwungen sind. Phileas‘ Teint ist tadellos. Keine Rötung, nicht die kleinste Unebenheit stört das elfenbeinfarbene Wachs. Selbst seine Bartstoppeln scheinen in elementarer Ordnung auf seinem symmetrischen Kinn platziert zu sein.
»Du hast recht, Evodie, ich wusste, dass Nyra einen Eristen auf Jonas angesetzt hat. Aber ich wollte dir nichts sagen, weil ich dich nicht verunsichern wollte. Ich habe dich für diesen ›Mega-Wichtig-Fall‹ ausgewählt, weil deine Methoden ungewöhnlich und schwer vorherzusehen sind. Hätte ich dir gesagt, dass bereits ein Erist an dem Fall arbeitet, hättest du dir vielleicht eine ganz gewöhnliche Vorgehensweise ausgedacht und damit deinen Vorteil der Spontanität verloren. Ich wollte kein Risiko eingehen.«
Verfluchter Mist! Das hört sich nach einem guten Argument an.
Um Phileas zu zeigen, dass ich ihm noch nicht völlig hörig bin, schnaube ich wie ein tollwütiges Nashorn.
Egal, wie engelsgleich er aussieht. Da kann er noch so schimmern. Nichts da. Ich will nicht gleich auf Anhieb umkippen.
Hinterhältig, wie mein strahlender Chef ist, setzt er den charmanten Stirnrunzel-Dackelblick auf.
Oh, wie ich ihn hasse!
Im Gegenzug packe ich meinen Zweifelblick aus, der Marke: »Ich glaub dir kein Wort«.
»Sei ehrlich!«, säuselt er. »War es wirklich ein unverzeihlicher Fehler von mir? Hätte es etwas an deinem Verhalten geändert, wenn du geahnt hättest, dass ein Erist in der Nähe ist?«
Ich hole tief Luft, um ein lautes »Ja, allerdings!« zu schreien, überlege es mir jedoch kurzfristig anders. Denn rechtzeitig wird mir klar, dass ich Phileas danach womöglich gestehen müsste, was ich in Jonas‘ Büro getrieben habe. Dass ich mich wirklich anders benommen hätte, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass dort ein Erist herumschwirrt. Ja … definitiv hätte ich mich nicht auf der Schreibtischplatte geräkelt. Zum Glück hatte er keine Poledance-Stange im Büro, wer weiß, was ich sonst für Unfug angestellt hätte. Es reicht ja wohl vollkommen, dass nur eine Person von meinem peinlichen Benehmen weiß … Alles, nur das nicht. Um Gottes willen, der Erist wird doch hoffentlich nichts davon seiner Chefin Nyra erzählen? Was, wenn doch …?
»Evodie?«, reißt mich Phileas aus meiner Panikattacke.
»Nein, nein, es hätte nichts an meinem Vorgehen geändert«, wispere ich und gebe eilig das zu, was Phileas hören will. Naja … zumindest die Sache mit meinen Konkurrentinnen wäre zu hundert Prozent genauso abgelaufen. Das tröste ich mich ein wenig, und mit ruhigem Gewissen blase ich gemächlich die Luft aus meinen Lungen.
Phileas‘ Augen ruhen mehrere Sekunden auf mir. Und einen Moment lang glaube ich beinahe, dass er etwas von meinem Zwiespalt weiß. Um ihn auf eine andere Fährte zu locken, hebe ich herausfordernd mein Kinn an.
»Dieser Erist ist kein Anfänger. Ich habe gespürt, wie stark sein Wille ist, Phileas. Warum schickt Nyra einen ihrer Besten los? Was ist an diesem Fall so besonders?«
Mein Chef trotzt meiner angriffslustigen Frage in völliger Gelassenheit. »Hier geht es nicht nur um zwei Menschenleben, sondern um vier. Kannst du dir vorstellen, welche Auswirkungen die Lebensweise von Jonas und Susan auf ihre Kinder hat? Ich weiß nicht viel mehr, als in deinem Bericht steht, bloß dass das Zusammen- oder Nicht-Zusammenkommen von den beiden weitläufige Folgen haben wird, in unterschiedliche Richtungen.«
Natürlich, hier geht es nicht nur um Jonas und Susan, sondern auch um ihre Kinder Max und Leon und deren mögliche Partnerinnen. Was, wenn von ihren Nachfahren einer eine Erfindung machen würde, die das Leben der Menschheit von Grund auf verändern könnte? Was, wenn es diesen Nachfahren nicht gibt, weil ich versagt habe? Alle Farbe weicht mir aus dem Gesicht, und ich wanke unter der schweren Last, die plötzlich auf meinen Schultern liegt.
Ein leichtes Schmunzeln erscheint auf Phileas‘ hellem Antlitz. »Nun denn. Ich denke, du wirst den Auftrag weiter ausführen wollen, oder etwa nicht?«
Er benutzt mein Ehrgefühl gegen mich, der Schlawiner.
»Natürlich. Du kennst mich«, antworte ich kühl, um ihn nicht spüren zu lassen, wie verunsichert ich bin.
»Ja, ich kenne dich«, erwidert mein Chef, wendet sich von mir ab und geht hinter seinen Schreibtisch. Für mich ist dies das Zeichen zum Aufbruch, und so steuere ich zur Tür. Kaum drücke ich jedoch die Klinke, hält mich Phileas auf.
»Evodie – du darfst diesen Auftrag nicht verlieren.«
Ich sehe nochmal zu dem ganz in Weiß gekleideten Mann, dessen Blick nun unnachgiebig ist, und nicke stumm, bevor ich sein Büro verlasse.
Da stehe ich im Trubel des Großraumbüros der Operatoren und habe noch immer die Türklinke in der Hand. Ich kann mich noch immer nicht bewegen, der Schock sitzt zu tief. Es ist das erste Mal, dass Phileas sowas zu mir sagt: Du darfst diesen Auftrag nicht verlieren. Den Satz höre ich andauernd in meinem Kopf, als wäre eine Schallplatte hängen geblieben.
Plötzlich legt sich eine große Hand auf meine Wange und rüttelt mich sacht. »Hey, Kleine, alles ok?«
Noch immer gefangen in meiner eigenen Warteschleife, komme ich allmählich zu mir. In Artreus‘ braunen Augen spiegelt sich die Sorge um mich. Zerstreut nicke ich meinen bärenhaften Freund zu. »Ja, ja ich denke schon.«
Zweifelnd hebt er eine Braue. »Sicher? Du siehst nämlich ganz und gar nicht gut aus. Was hat der Chef dir aufgetragen?«
Ich versuche, mich zu erinnern, ob Phileas mir schon einmal ausdrücklich ans Herz gelegt hatte, einen Auftrag zu gewinnen. Doch mir fällt kein Fall ein. Vielleicht hat Artreus von ihm schon mal solch eine Aufforderung gehört?
»Phileas sagte, dass ich diesen Auftrag nicht verlieren darf.« Gespannt warte ich auf die Reaktion meines Freundes.
Überrascht kräuselt sich Artreus‘ Stirn. »Unser Chef ist ja ein richtiges Motivationstalent. Mach dich nicht verrückt, Evodie. Zieh dein Ding durch. Du hast die Aufträge bisher immer geschaukelt, und diesmal wird es nicht anders sein.« Er lässt seine Hand auf meine Schulter gleiten und schiebt mich mit sich, zu Zelos und Bellamy, während ich ihn nebenher einweihe. »Das ist nicht die einzige miese Nachricht, die ich habe. So wie es aussieht, ist der Erist, der deine Fünfundzwanziger auseinandergebracht hat, an meinem ›Mega-Wichtig-Auftrag‹ dran.«
Plötzlich bleibt Artreus stehen und dreht mich zu sich herum. Entschieden beginnt er, auf mich einzureden: »Wenn es wirklich dieser Kerl ist, musst du dich in Acht nehmen. Er wird dich reizen bis aufs Blut. Du musst dich beherrschen, Evodie! Hörst du? Der hat schon mehrere in Rauch aufgehen lassen.«
Na super, noch mehr gute Nachrichten. Denn ›in Rauch aufgehen lassen‹ bedeutet, einen Engel verschwinden zu lassen, weil dieser mehr oder weniger absichtlich einen Menschen verletzt hat.
»Von wem sprecht ihr?«, mischt sich Zelos ein, vor dessen Schreibpult wir gerade stehen.
Artreus‘ Augen schweifen kurz zu Zelos. »Von dem Vollarsch-Eristen Demian oder wie auch immer der Typ heißen mag.«
Empört öffnet sich Zelos‘ Mund. »Oh, ja. Unbedingt, Evodie. Der Kerl ist mit größter Vorsicht zu genießen. Alles, was er tut, tut er nur, um den Auftrag zu gewinnen.«
Bellamy taucht mit einer Tasse dampfenden Tee auf und erfasst sofort die Lage. »Wir reden über den teuflischen Eristen, oder?« Laut schlürfend lässt er sich in seinem Stuhl nieder und folgt interessiert unserer Unterhaltung.
Zelos nickt aufgeregt. »Ja, genau über den, mein Lieber, so ist es.«
Zwischenzeitlich zieht Artreus wieder meine Aufmerksamkeit auf sich, indem er mich leicht schüttelt. »Ich meine es todernst, Evodie. Sei auf der Hut. Kannst du dich an den Vulkanausbruch im letzten Jahr erinnern?«
Schweigend glotze ich Artreus an. Nein, unmöglich, das kann nicht wahr sein?
»Darin war Demian verwickelt. Der zuständige Cupida wurde liquidiert«, grollt Artreus weiter.
»Ach, du grüne Neune!«, seufze ich. Mir wird ganz schlecht, und mein Hintern pflanzt sich, wie von selbst, auf Zelos‘ Schreibtisch. Kann es noch schlimmer kommen?
Artreus lässt mich los und richtet sich auf. »Jetzt bist du auf jeden Fall vorbereitet, wenn es sich bei dem Erist wirklich um Demian handeln sollte.«
Ich stimme ihm gedankenverloren zu und gebe mich einer Hoffnung hin. »Ja. Vielleicht habe ich aber auch Glück, und es ist ein ganz anderer Erist.«
»Vielleicht, Kleines, möglich ist alles«, meint Artreus und grinst mir aufmunternd zu.
Es ist Zeit, meinen Job anzutreten, und mit nicht mehr ganz so viel Elan wie zuvor, lande ich in Jonas‘ Vorgarten. Ich krame aus meiner Handtasche das Handy hervor und suche Jonas‘ Mail, in der Max‘ Stundenplan und die Adresse der Schule vermerkt sind. Nachdem ich, dank Internet, herausgefunden habe, wie ich am besten zur Schule gelange, marschiere ich in Jeans und Shirt los, um zur vereinbarten Zeit dort anzukommen.
Das Schulhaus ist ein älteres Gebäude, dessen Renovierung schon ein paar Jahre zurückliegt. Die vorbeiführende Straße ist nicht stark befahren, sodass ich mich getrost in den Schatten der Sträucher, auf der gegenüberliegenden Seite der Schule, stellen und dennoch den Ausgang im Auge behalten kann. Ein paar Meter von mir entfernt, bemerke ich Susan, die in ihren hohen Sandalen auf und ab läuft. Sie trägt noch immer ihr schickes Kostüm von heute Morgen im Büro. Unschuldig schlendere ich näher an sie heran und lehne mich an den Stamm einer Linde, deren Krone alles überschattet. Wir lächeln uns grüßend zu und ich nehme es als Anlass, sie anzusprechen.
»Schöne Schuhe haben Sie da. Wenn Sie mir jetzt noch sagen, dass sie bequem sind, bin ich hoffnungslos verliebt.«
Sie hat ein herrlich heiseres Lachen und schüttelt dabei ihre blonden Locken. Mit ihrem Leberfleck, der neben ihrem Auge prangt, erinnert sie mich an Marilyn Monroe zu ihren besten Zeiten.