Erhard Schümmelfeder
PICKNICK IN PLUNDERLAND
Ein Roman für Leser ab 108 Jahren
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
PICKNICK IN PLUNDERLAND
DIE GESCHICHTE VON DER WUNDERBAREN BROTVERZEHRUNG
DIE GESCHICHTE VOM VERLORENEN TON
ONKEL KOHLRABI UND DER BIRNBAUM
TRUBEL IN PLUNDERLAND
DER AUSFLUG ZUM ZWEIFELTURM
GROSSMAUL
DIE LICHTUNG IM WALD
ONKEL KOHLRABI UND DIE BRATAPFELMASCHINE
DIE HÜTTE AM MONDSEE
DAS BETTBOOT
DAS BETT IM STROM
KEULE UND BEULE ERZÄHLEN DIE GESCHICHTE VOM CHINESEN IM DORFBRUNNEN
ZIMMER MIT AUSSICHT
DER SCHATZ IM ELSTERNNEST
DER SCHWARZE LASTWAGEN
DIE SCHEUNE
DAS LOCH IN DER WAND
FRÄULEIN LAMPE ERZÄHLT VON EINEM TRAURIGEN VORMITTAG
MEIN VATER ERZÄHLT VON DER SUCHE MIT DEM HUBSCHRAUBER
BABETTE ERZÄHLT VON DEN WEITEREN EREIGNISSEN
EULE ERZÄHLT VON UNSERER RÜCKKEHR NACH PLUNDERLAND
WENN DIE MÜCKEN TANZEN
WEITERE WERKE DES AUTORS
Impressum
PICKNICK IN PLUNDERLAND
Meine Kindheit verlebte ich in dem kleinen Dorf mit dem wunderlichen Namen Plunderland. Es war ein schönes, altes Dorf in einem weiten grünen Tal, durch das sich der Plunderbach schlängelte.
Ich kannte jede Straße von Plunderland. Das war nicht sonderlich schwierig, denn es gab nur eine: die Hauptstraße. Zusammen mit meinem Vater wohnte ich in dem Haus Nr. 11, einem uralten, windschiefen Fachwerkhaus inmitten eines Obstgartens, den unsere Vorbesitzer vor langer Zeit angelegt hatten: Holunderbüsche, Haselnusssträucher, Apfel-, Pfirsich-, Kirsch- und Zwetschgenbäume umringten unser Zuhause, das wir „unsere bescheidene Hütte“ nannten.
Früher einmal hatten mein Vater und ich in dem Haus Nr. 38 gewohnt, aber nachdem meine Mutter sich früh von uns trennte, was mich damals sehr bedrückte, kaufte er das Haus Nr. 11, weil er in Plunderland die Stelle eines Grundschulleiters antreten durfte. Mein Vater, Herr Presszeh, war ein guter Lehrer. Alle Kinder unserer Schule liebten ihn, denn die Unterrichtsstunden bei ihm waren nie langweilig, und er konnte herrlichkomische Geschichten erzählen.
Meine besten Freunde im Dorf waren Eule, Beule und Keule. In Wahrheit hießen sie Erhard, Bodo und Karsten. Wir hatten uns darauf geeinigt, uns nur mit dem Spitznamen anzureden. Eule trug eine Brille mit dicken Gläsern; Beule und Keule, die Zwillingsbrüder, die sich oft prügelten, waren dennoch ein unzertrennliches Gespann. – Die meisten Leute von Plunderland waren ein wenig plunderlich. Der Briefträger, Herr Dose, wurde von uns Herr Dosenträger genannt; unser Polizist, Herr Zahn, hieß treffenderweise Herr Backenzahn. Dann gab es noch Herrn Weißkohl, Herrn Zimpel, Herrn Piesepampel und Frau Gedönsrat. Der plunderlichste Mann von Plunderland aber war der Erfinder Onkel Kohlrabi, von dem manche Leute im Dorf munkelten, er habe den Plunderteig erfunden.
Jetzt wollt Ihr sicher wissen, ob ich auch einen Spitznamen hatte, stimmts? - Ja, natürlich hatte ich einen. Alle Leute des Dorfes nannten mich schlicht Picknick. Ein komischer Name? Ja, aber irgendwie passte er zu mir. Wie es dazu kam? - Auf einer Kindergeburtstagsfeier bei Babette, meiner Klassenkameradin, sollten alle Kinder in einem Geschicklichkeitsspiel die auf dem Fußboden ausgestreuten gesalzenen Erdnüsse aufpicken, wie die Hühner auf dem Hof. Wer, glaubt Ihr, trat als triumphierender Sieger aus diesem Spiel hervor? - Meine Eltern hatten mich zwar auf den Namen Nicklas getauft, und alle nannten mich nur Nick, aber seit der denkwürdigen Geburtstagsfeier hatte sich Nick verwandelt in Picknick.
Ja, ich war der kleine Picknick in Plunderland.
Da ich der kleinste Junge in unserer Klasse war, musste ich häufig, wie Ihr Euch gewiss vorstellen könnt, Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Anerkennung der anderen Kinder zu erringen. - Wenn es Euch interessiert, erzähle ich ein paar Geschichten aus jener bewegten Zeit. Gerade fällt mir eine folgenschwere Begebenheit aus dem spätsommerlichen Plunderland ein. Ich war zehn Jahre alt und erlebte mit den anderen Kindern des Dorfes ...
DIE GESCHICHTE VON DER WUNDERBAREN BROTVERZEHRUNG
In der Schule von Plunderland gab es damals nur zwei Klassen: in der oberen Etage des roten Backsteingebäudes unterrichtete mein Vater einundzwanzig Jungen und Mädchen; im Erdgeschoss brachte Frl. Lampe neunzehn Mädchen und Jungen Lesen, Schreiben, Rechnen und vieles mehr bei. Zumindest versuchte sie es redlich. Sie war erst kurze Zeit an unserer Schule Lehrerin und wohnte in der Pension Zum Teufel, im Haus Nr. 49.
Eines Morgens nach den Ferien sprachen wir Kinder im Klassenzimmer über Fräulein Lampe.
„Ich finde, sie sieht wunderschön aus“, sagte Silke zu ihrer Schwester Simone.
„Ja.“
„W-w-ie eine Königin“, sagte ich und kletterte über die Schulbank auf meinen Platz in der ersten Reihe.
”Blödmann“, zischelte Nina von der Fensterbank her.
„Vielleicht w-w-erde ich sie heiraten“, verkündete ich großtönend, und fügte hinzu: „W-w-enn ich etwas größer bin!“
„Haha!“, ließ Alexander sich mit gespielter Belustigung vernehmen. „W-w-w-enn ich etwas größer bin“, ahmte er meine Stimme nach. Alle nannten ihn nur Angeber, denn er war auch einer.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte Babette laut und selbstbewusst in die lachende Runde, die plötzlich verstummte. Babette war sehr nett. Außerdem war sie nicht nur das hübscheste, sondern auch das gescheiteste Mädchen in unserer Klasse. Alle hatten Respekt vor ihr.
„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte die kleine Minni aus der letzten Bankreihe.
„Ich wüsste aber, wer Frl. Lampe heiraten könnte“, ließ Eule sich vernehmen.
„Wer denn?“, wollten alle wissen.
„Vielleicht Herr Presszeh, Picknicks Vater!“
„Das glaube ich nicht“, sagte Angeber, schob die Unterlippe vor und schüttelte entschieden seinen Kopf.
„Warum denn nicht?“, bohrte Simone.
Aber Angeber antwortete nicht. Er zeigte ihr nur einen Vogel und schüttelte weiter seinen Kopf.
Alle Kinder waren der Meinung, mein Vater und Frl. Lampe wären ein bildschönes Paar. Irgendwann einmal, so hofften wir, würde mein Vater unsere junge Lehrerin vielleicht heiraten. Dann wieder waren wir uns doch nicht mehr so sicher, dass sich dieser Wunsch je erfüllen würde, denn wir gewannen im Laufe der nächsten Tage mehr und mehr den Eindruck, mein Vater sei schüchternste Mann von Plunderland. Außerdem sprach er viel zu selten mit Frl. Lampe.
„Sie müssten öfter miteinander reden“, sagte Babette eines Morgens, als die Klingel gerade den Unterrichtsbeginn ankündigte.
„Ich weiß, w-w-ie man es anstellen muss, damit mein Vater Frl. Lampe heute einmal anspricht“, sagte ich in die Klasse hinein. Alle verstummten.
„Weißt du nicht“, sagte Angeber, der zwei Plätze rechts neben mir saß.
„Wie sollte man es denn anstellen?“, erkundigte Babette sich. Sie schien sehr gespannt auf die Antwort zu sein.
„Heute in der Pause spricht mein Vater mit Frl. Lampe!“, prophezeite ich geheimnisvoll.
„Das will ich sehen!“, höhnte Angeber.
„W-w-ollen wir wetten?“, fragte ich.
„Nein, wir w-w-w-etten nicht“, ahmte Angeber mich wieder nach.
Die Klassentür öffnete sich, und Frl. Lampe kam herein. Sie legte ihre kastanienbraune Ledertasche auf das Lehrerpult und sagte gutgelaunt:
„Guten Morgen, Kinder!“
„Guuuuuuuten Mooooooorgen!“, ertönte es fröhlich aus der Klasse zurück.
Aufmerksam betrachteten alle Kinder unsere junge Lehrerin in ihrem leichten cremeweißen Sommerkleid mit roten Punkten. Um die Hüfte trug sie einen schwarzen Gürtel mit einer silbernen Schnalle, die eine Schlange darstellte.
„W-w-ie eine Königin“, flüsterte ich Silke, die neben mir saß, ins Ohr. Sie streckte mir die Zunge heraus und blickte auf Frl. Lampe, die ihre Tasche öffnete und das Lesebuch herauszog. Ich hatte das Gefühl, alle aus unserer Klasse beobachteten mich, doch dann wurden sie abgelenkt durch eine spannende Geschichte, die Frl. Lampe uns vorlas: sie handelte von einem Jungen, der beim Ziegenhüten ein Lagerfeuer machte und einige Steinbrocken um die Feuerstelle legte, damit die Flammen sich nicht ausbreiten konnten; auf einmal bemerkte der Junge, wie die Steine zu glühen begannen. Als er bald darauf den Leuten aus seinem Dorf hiervon erzählte, wollte ihm zuerst niemand glauben. Aber bald erkannte man, dass der Junge die Wahrheit gesagt hatte, und man nannte die Steine Kohlen...
Während Frl. Lampe vorlas, behielt ich ihre Tasche fest im Auge.
Nach zwei Schulstunden läutete es zur Pause. Alle Kinder eilten mit ihren Butterbroten und Kakaoflaschen auf den sonnenwarmen Schulhof hinaus.
Als ich wenig später meinen Vater unter der Pausenhalle erblickte, lief ich sogleich zu ihm und rief laut und für alle Jungen und Mädchen der Schule hörbar:
„Herr Presszeh! Frl. Lampe hat ihr Frühstücksbrot heute vergessen!“
„Na sowas“, sagte mein Vater trocken. Offensichtlich fand er diese Tatsache nicht sonderlich beunruhigend.
Ein rothaariges Mädchen namens Ann-Christin kam über den Hof gelaufen.
„Herr Presszeh!“
„Was gibts denn?“
„Melissa hängt mit ihrer Jacke im Stacheldraht!“
„Noch ein Unglück“, sagte mein Vater gelassen. Nichts schien ihn aus der Ruhe bringen zu können.
Zusammen mit den Kindern, die uns neugierig umringten, überquerten wir den geteerten Hof, um zum Zaun zu gelangen. Es war ziemlich leicht, Melissa vom Stacheldraht zu befreien.
„Au“, ließ mein Vater sich vernehmen.
„Was ist denn?“, fragte ich.
„Jetzt habe ich mir den Finger am Zaun aufgeritzt.“ Ein Blutstropfen erschien an seinem rechten Zeigefinger.
„Ablecken!“, rief ich.
Gehorsam steckte mein Vater den verletzten Finger in den Mund und lutschte daran.
„Schmeckts?“
„Hab schon Süßeres geschleckt“, sagte er.
„Der Finger muss verbunden werden“, sagte ich.
„So schlimm ist es nicht“, sagte mein Vater, ohne an die Gefahren zu denken, von denen er mir so oft gepredigt hatte.
„Ich sage schnell Frl. Lampe Bescheid!“, rief ich.
„Das wird nicht nötig s-“
Aber schon sssssssauste ich los zum anderen Ende des Schulhofes, wo Frl. Lampe vor der Holzbank einem Mädchen eine rosafarbene Schleife ins Haar band.
„Frl. Lampe!“, brachte ich atemlos hervor.
„Was ist denn, Nick?“
„Mein Vater braucht einen Verband!“
„Ist es so schlimm mit ihm?“
„Am Stacheldraht hat er sich aufgeschlitzt!“
„Am Stacheldraht?“
„Ja. B-b-is aufn Knochen!“
Frl. Lampe ging eilig ins Schulgebäude und kam mit Verbandszeug und einer blauen Flasche zurück. Draußen, auf der Bank vor unserem Klassenzimmer, saß mein Vater inmitten einer Traube von Kindern, die gespannt verfolgten, was ich hier angestellt hatte.
„Tut es sehr weh?“, erkundigte Frl. Lampe sich mitfühlend bei meinem schüchternen Vater.
„Sehr“, sagte mein Vater und biss die Lippen aufeinander.
Nach und nach kamen alle Kinder der Schule näher und umringten unsere beiden jungen Lehrer.
„Dann muss ich Ihnen leider noch einmal weh tun“, sagte Frl. Lampe und schraubte den Deckel der blauen Flasche ab.
„Was ist das?“, fragte Keule interessiert.
„Das ist Jod“, erklärte Frl. Lampe. „Es wird über die offene Wunde gegossen, damit sie sich nicht entzündet.“
„Jod kenne ich“, sagte Minni kühl. „Es brennt wie Feuer!“
Mein Vater lächelte gequält. „Besser Jod als tot“, sagte er halblaut.
„Sie werden es überleben“, versprach Frl. Lampe und goss ein paar Tropfen in die Wunde.
Ich bemerkte zufrieden, dass mein Vater keine Miene verzog, als Frl. Lampe die Wunde abtupfte und ein kleines Pflaster über den Finger klebte.
„Gut so?“, fragte sie lächelnd, wobei man ihre schönen weißen Zähne sehen konnte.
„Perfekt“, erkannte mein Vater ihre Hilfe an. „Ich bedanke mich herzlich. Sie haben mir das Leben gerettet.“
„Finden Sie?“, fragte Frl. Lampe und legte ihre Stirn in viele kleine Falten.
Mein Vater räusperte sich und blickte in die Runde der Kinder, die, während sie gespannt zuhörten, eifrig ihr Pausenbrot aßen.
„Nun“, sagte mein Vater bedeutsam, „der Mensch lebt nicht vom Jod allein.“
Frl. Lampe wurde ein ganz klein wenig rot, und mein Vater fragte:
„Haben Sie eigentlich schon gefrühstückt?“
„Nein“, sagte sie. „Ich fürchte, ich habe heute Morgen in der Eile vergessen, mein Brot in die Tasche zu stecken.“
„Picknick hat ihr Brot aufgefressen!“, petzte Angeber.
„Das stimmt nicht!“, verteidigte ich mich.
Ein Murren durchlief die aufgeregte Kinderschar.
„Wie auch immer“, sagte mein Vater freundlich. „In diesem Fall lade ich Sie ein, mit mir zusammen zu frühstücken.“
„Aber das geht doch nicht“, sagte Frl. Lampe verunsichert.
„Doch, das geht!“, rief Beule überschwänglich.
„Ja, das geht!“, stimmten gleich mehrere Kinder ein.
„Sie müssen was essen“, sagte Babette mit tiefem Ernst.
„Ja“, ließ Keule sich über die Köpfe der anderen Kinder hinweg vernehmen. „Sonst wird Ihnen gleich ganz schlecht.“
„Da hören Sie es“, sagte mein Vater. „Ich glaube, die Kinder haben Recht.“
„Unter dieser Voraussetzung bin ich selbstverständlich bereit, Ihr großzügiges Angebot anzunehmen“, willigte Frl. Lampe ein.
Vater wickelte das Pergamentpapier seines Frühstücksbrotes auseinander, nahm eine mit Salami belegte Schnitte heraus und reichte sie seiner Kollegin.
„Hm“, machte sie, als sie mit Genuss in das frische Landbrot biss.
„Schmeckt es?“, fragte ich mit echtem Interesse.
„Köstlich“, sagte Frl. Lampe. „Ist das Brot von unserem Bäcker aus Plunderland?“
„Ja“, antwortete mein Vater. „Aus der Bäckerei Lehmann. Das beste Brot weit und breit!“
Alle Zuschauer kauten in Gedanken jeden Bissen mit. Ein paar winzige Krümel fielen herunter auf die Erde.
„Die holen sich gleich die Spatzen“, sagte mein Vater und wies mit dem Kopf auf den ausladenden Lindenbaum, in dessen Geäst einige Spatzen hin und her hüpften. „Hier habe ich noch etwas Feines.“ Er öffnete seine Brotdose, zerriss vorsichtig ein rundes Stück Kuchen in zwei Hälften und reichte Frl. Lampe eine davon. „Plunderländer Bienenstich“, erklärte er. „Etwas für Genießer.“
„Hmmm“, ließ Frl. Lampe sich vernehmen und biss von dem duftenden weichen süßen Kuchen ein kleines Häppchen ab. ”Da kann man einfach nicht nein sagen.“
„Kann es Schöneres geben?“, fragte mein Vater kühn. Diesmal, so schien es, wurde er ein wenig rot, und Frl. Lampe verdrehte belustigt ihre hübschen grünen Augen.
„Schmeckt der Kuchen auch gut?“, fragte Beule sachlich, wobei er sich eilig an den anderen Kindern vorbeidrängelte.
„Hier“, sagte Frl. Lampe und zupfte ihm ein Stückchen ab.
„Darf ich auch mal probieren?“, fragte ich, obwohl ich eben erst mein eigenes Frühstück gegessen hatte.
„Natürlich“, sagte mein Vater und zerpflückte seinen Kuchen in viele kleine Häppchen. Frl. Lampe tat es ihm nach.
„Bedient euch, Kinder!“
Alle kosteten von dem süßen Kuchen, von dem Frl. Lampe meinte, er sei ein Gedicht, und alle waren sich einig, es gebe nichts Schöneres.
Mein Vater holte aus seiner Jackentasche einen rotgelben Apfel heraus, zerschnitt ihn mit seinem silbernen Taschenmesser in der Mitte und reichte seiner Kollegin eine Hälfte.
„Auch diesen reifen Apfel wollen wir gerecht teilen“, sagte er ritterlich. „Ich gebe Ihnen selbstverständlich gern die rote Hälfte.“
Frl. Lampe aber zögerte, das Apfelstück anzunehmen. Sie lächelte meinen Vater vieldeutig und verschwörerisch an und sagte:
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die gelbe Hälfte zu überlassen?“
„Warum?“, fragte mein Vater ahnungslos.
„Darum“, antwortete Frl. Lampe leise und vergnügt, und alle in der weiten bunten Runde lachten.
Das Klingelzeichen über der Eingangstür unserer Schule ertönte. Die Pause war zuende.
„Ich weiß, warum Frl. Lampe die gelbe Apfelhälfte essen wollte“, verkündete ich, als wir Kinder langsam in die Klassenzimmer zurückgingen.
„Warum denn?“, fragte Angeber mit uneinsichtigem Gesicht.
„D-d-arum!“, antwortete ich, wobei ich versuchte, Frl. Lampes Tonfall nachzuahmen, was mir aber nicht ganz gelang.
„D-d-d-arum!“, äffte Angeber mich nach.
Ich beschloss, es ihm bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit heimzuzahlen!
Während der folgenden Unterrichtsstunde wurde noch lange über die Geschichte von der wunderbaren Brotverzehrung getuschelt und gemurmelt.
Babette stieß mich von hinten mit ihrem Holzlineal ans Ohr.
„He“, flüsterte sie, „Picknick!“
„Was ist denn?“
„Glaubst du, dein Vater wird Frl. Lampe bald heiraten?“
„Bestimmt.“
„Und wann?“
„Weiß nicht. Aber lange kann es nicht mehr dauern.“
„He“, hörte ich wieder Babettes Stimme.
„Was willst du wissen?“
„Hast du Frl. Lampes Frühstücksbrot wirklich aufgegessen?“
„Nein.“
„Wo steckt es denn?“
„W-w-arte bis zur nächsten Pause“, sagte ich hinter der vorgehaltenen Hand, „dann verrate ich es dir!“
DIE GESCHICHTE VOM VERLORENEN TON
Die schönsten Augenblicke des Schuljahres hatten wir Kinder in Plunderland an unserem Geburtstag. Dann nämlich war jeder für einen ganzen Vormittag der Mittelpunkt der Klasse.
Als Angeber seinen zehnten Geburtstag hatte, gaben Eule, Beule, Keule und ich uns die allergrößte Mühe, ihm diese unvergesslichen Augenblicke gehörig zu versalzen, denn er hatte es nicht besser verdient. Ich konnte Angeber nicht leiden, weil er mich manchmal nachäffte. Angeber äffte mich manchmal nach, weil ich ihn nicht leiden konnte. Wir hatten ein etwas verzwicktes Verhältnis zueinander.
Während die Klasse Happy Birthday anstimmte, sangen wir so schräg und falsch wie wir nur vermochten. - Aber Angeber merkte es nicht einmal. Nur Frl. Lampe wirkte während des Singens manchmal ein wenig irritiert. Sie sah auch nicht, wie wir oft ohne Ton trällerten und nur zum Schein unsere Lippen bewegten, doch schnitten wir dabei unsere grässlichsten Grimassen.
Gegen Mittag setzte sich Frl. Lampe für Angeber sogar ans Klavier. Sie klappte den Deckel hoch und begann Happy Birthday. Aber an einer Stelle des Liedes streikte das Klavier und ließ nur ein gedämpftes Tuck, tucktuck ertönen.
„Nanu“, sagte Frl. Lampe verwundert. „Mit dem Klavier scheint etwas nicht zu stimmen.“
Tuck, tucktuck ...
„Das Klavier ist kaputt!“, freute Keule sich.
„Es muss gestimmt werden“, sagte Babette und blinzelte mir listig zu.
„Das kostet zweihundert Mark“, bemerkte Tina.
„So?“, sagte Frl. Lampe ratlos.
„Ja. Meine Mutter hat letzte Woche unser Klavier stimmen lassen. Mein Vater hat darüber geschimpft.“
„Und warum?“, wollte Frl. Lampe nun wissen.
„Er sagte: ’Ungestimmt klingt das Klavier viel besser!‘“
„Nun ja“, sagte Frl. Lampe. „Über Geschmack kann man nicht streiten. Was - was machen wir denn jetzt nur?“
„Ich kenne einen, der jedes Klavier reparieren kann“, rief ich in die Runde. „K-k-ostenlos!“
„So - wen denn?“, fragte unsere Lehrerin hoffnungsvoll und erhob sich von ihrem Drehhocker.
„Herrn Presszeh!“, riefen alle Jungen und Mädchen wie aus einem Munde.
„Ich hole ihn!“
Noch bevor Frl. Lampe widersprechen konnte, war ich aus dem Klassenzimmer herausgestürmt. Ich sauste durch das Treppenhaus, schlinderte über den blankgebohnerten Flur des Obergeschosses und riss, ohne anzuklopfen, atemlos vor Aufregung, die Tür der Klasse meines Vaters auf.
„Herr Presszeh!“, entfuhr es mir, wobei ich einen flüchtigen Blick auf die verdutzten Gesichter in den Bänken warf. Gelassen hielt mein Vater beim Schreiben an der Tafel inne.
„Mein Freund“, sagte er, „kann ich dir vielleicht helfen?“
„Fräulein Lampe“, japste ich, nach dramatischen Worten ringend.
„Was ist denn mit Fräulein Lampe?“
„Sie kriegt keinen Ton heraus!“, brachte ich die komplizierte Lage treffend auf den Punkt.
„Na sowas“, sagte mein Vater lächelnd. „Wir wollen mal sehen, ob wir ihr helfen können.“
Mit wildem Gejohle stürmten alle Kinder der Klasse über Tische und Bänke und eilten mit meinem Vater in das Untergeschoss des Schulgebäudes.
„Gibt es ernstliche Probleme?“, fragte mein Vater, als er unseren Klassenraum betrat. Seine linke Hand steckte in der Hosentasche.
„Das Klavier ist kaputt!!!“, riefen alle Kinder mit merkwürdiger Begeisterung. „Heilemachen!!“
„Nun, dann wollen wir mal sehen, was sich machen lässt“, sagte mein Vater fachmännisch.
„Der C-Akkord hat uns verlassen“, erklärte Frl. Lampe achselzuckend.
„Keine Sorge, der kommt schon wieder“, beruhigte mein Vater sie.
Er klappte den oberen Deckel des Klaviers hoch und beugte sich darüber, um einen Blick in das Innere zu werfen.
„Aha“, sagte er triumphierend. „Die Geschichte vom verlorenen Ton kommt zu einem glücklichen Ende.“
„Haben Sie den Fehler?“, fragte Frl. Lampe und atmete dabei erleichtert auf.
„Allerdings“, bemerkte mein Vater und griff mit der rechten Hand tief in das Gehäuse hinein. Er angelte ein kleines graues Paket ans Tageslicht. Es sah aus wie ein in Pergamentpapier gewickeltes Frühstücksbrot.
„Nanu“, sagte Frl. Lampe und wurde ein wenig rot.
„Ihr Pausenbrot ist wieder da!“, jubelten die Kinder mit vergnügten Gesichtern.
„Das sehe ich. Mich würde nur interessieren, wer – “
„Aufessen! “, unterbrach ich sie.
„Ja! Aufessen!“, tobten alle durcheinander.
„Sie sehen, uns bleibt keine andere Wahl, als uns dem Willen des Volkes zu beugen“, sagte mein Vater und wickelte das Papier von dem Brot. Er gab Frl. Lampe eine der beiden Schnitten und blickte sich amüsiert nach allen Seiten um. In diesem Moment bimmelte die Schulglocke. ”Mahlzeit“, sagte er trocken und biss vorsichtig in das mit Käse belegte Brot. Doch dann verzog er das Gesicht, wobei er aussah wie Herr Piesepampel, unser mürrischer Hausmeister. „Ziegelhart“, sagte er. „Diesen Belastungen sind meine Zähne nicht gewachsen.“
„Meine auch nicht“, sagte Frl. Lampe lächelnd.
„Wer von euch hat zu Hause ein Schwein?“, fragte mein Vater in die Klasse hinein.
„Wir haben sechsundzwanzig Schweine im Stall“, rief Eule aus der mittleren Bankreihe.
„Das trifft sich gut“, sagte mein Vater. ”Dann übertrage ich dir hiermit den schwierigen Auftrag, diese zwei Käsebrote mit Hammer und Meißel in sechsundzwanzig möglichst gleichgroße Stückchen zu zerteilen. Traust du dir diese Aufgabe zu?“
„Klar“, sagte Eule, nahm die Brote in Empfang und steckte sie in seine Büchertasche.
Angeber, an den niemand mehr gedacht hatte, meldete sich nun zu Wort. „Wann bekomme ich denn mein Geburtstagsabschlusslied?“
„An deinem Geburtstag“, erklärte ich und fügte schadenfroh hinzu: „Im nächsten Jahr!“
Dann lief ich mit den anderen Kindern hinaus auf den Schulhof, denn der Unterricht war zuende an diesem Tag.
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