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Erhard Schümmelfeder

Das Ende der Unendlichkeit

oder Die Lügengeschichten des Friedolin Riemenspanner

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Inhaltsverzeichnis

Titel

V o r w o r t

WIE DIE GESCHICHTE BEGANN

DAS ENDE DER UNENDLICHKEIT

WIE DIE GESCHICHTE ENDETE

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Impressum neobooks

V o r w o r t

Die wichtigste Stunde

ist immer die Gegenwart,

der wichtigste Mensch immer der,

der dir gerade gegenübersteht

und die notwendigste Tat

die Liebe.

Meister Eckhart

Der seltsame Junge namens Friedolin Riemenspanner, mit dem ich im Jahre 1986 eine Zeitlang die Schulbank teilte, wurde von allen Schülern und Lehrern nur Klette genannt.

Wenn man mich heute fragt, was ich über den Jungen von einst weiß, kann ich umfassend Auskunft geben, denn uns verbindet seit langem eine feste Freundschaft. Meine erste Erinnerung an die Zeit unseres gegenseitigen Kennenlernens ist diese: Er war der einzige Schüler in meiner Klasse, der noch keinen Computer besaß. Im bunten Mosaik seiner Persönlichkeit aber ist diese Information nur ein Baustein mit geringem Erkenntniswert.

Bei dem Versuch einer Charakterisierung Friedolin Riemenspanners sollen die Meinungen der Leute, die ihn damals kannten, nicht unerwähnt bleiben. Die volkstümlich anmutenden Umschreibungen Herumtreiber, Springinsfeld, Quasselkopf und Nervensäge fanden in der Schülerakte ihre Entsprechung in dem Vermerk verhaltensauffällig. Destabile Familienverhältnisse und die offensichtliche Zugehörigkeit zur belächelten Second-Hemd-Klasse, deren modische Grundbedürfnisse von der städtischen Altkleiderkammer befriedigt wurden, boten den Mitschülern genügend Gründe, um über diesen Jungen die Nase zu rümpfen. Im Bewusstsein der Dummen aber war für den Schmuddeljungen mit den schwarzen Fingernägeln die Bezeichnung asozial fest verankert.

Als Störenfried und Clown erfreute sich Friedolin Riemenspanner einer gewissen Beliebtheit bei den Mitschülern, während er manchen Lehrer an die Grenze seiner pädagogischen Belastbarkeit brachte, beispielsweise wenn er auf der Schulbank afrikanische Rhythmen trommelte, seine Hausaufgaben nicht in Heften, sondern auf Bierdeckeln präsentierte oder wenn er im Musikunterricht die angestimmten Gesänge mitpfiff.

Empörte Mütter beschwerten sich bei der Schulleitung über den Missstand, ein Mitglied unserer Klassengemeinschaft esse frecherweise ständig die Frühstücksbrote ihrer Kinder oder nasche an diesen. Als Beweise wurden dem Direktor Brote mit halbmondförmigen Lücken oder angebissene Bananen vorgelegt. In einigen Fällen hatte der Übeltäter nur zwei dünne Brotrinden übrig gelassen. Trotz erhöhter Wachsamkeit verschwanden in der Folgezeit immer wieder Wurst und Käsescheiben von den Pausenbroten. Ein Täter konnte nie ermittelt werden. Man hegte aber einen Verdacht.

Als notorischer Zuspätkommer erfand Friedolin Riemenspanner, der nach der Trennung seiner Eltern beim Großvater wohnte, ständig neue Ausreden, deren Wahrheitsgehalt alle Lehrer grundsätzlich bezweifelten. „Mein Wecker is heut Nacht stehn geblieben.“ - „Mein Oppa is mit seinem Auto vorn Baum gefahren.“ - „Mein Oppa musste zum Arzt.“ Die Ansicht, es gebe keine unverbrauchten Ausreden mehr, wurde widerlegt, als er eines Morgens atemlos zur zweiten Unterrichtsstunde erschien mit der Erklärung: „Heute Nacht sind unsere Nacktarschhühner ausgebüxt.“

Frau Meise, unsere strenge Englischlehrerin, von allen nur Missis Middlepoint genannt, ereiferte sich immer wieder über die Unart des Zuspätkommens und wurde nicht müde, ihn zu ermahnen: „Mein lieber Friedolin Riemenspanner! Dein Vater, den ich auch schon unterrichten durfte, war an dieser Schule ein vorlauter Rabauke, ein Faultier und ein unkonzentrierter Schüler, aber er ist nie zu spät zum Unterricht erschienen. Nimm dir daran ein Beispiel!“

Unser Mathematiklehrer, Herr Lohmann, atmete erleichtert auf, als während einer Sichtstunde vor dem Schulrat morgens der Bankplatz des Klassenkaspers unbesetzt war. Sichtlich nervös horchte Herr Lohmann auf, als beim Unterricht plötzlich aus dem Besenschrank neben dem Waschbecken die gepfiffene Melodie von Spiel mir das Lied vom Tod ertönte. Knarrend öffnete sich die Schranktür. Friedolin Riemenspanner marschierte unter dem Gejohle der Klasse zu seinem Platz, um sich artig am Unterricht zu beteiligen. Für den Rest der Stunde saß der Schulrat knichelnd in der hinteren Bankreihe. Einen solchen Auftritt hatte er bislang noch nicht erlebt.

Sein von Spontaneität und Irrationalität geprägtes Verhalten bot uns Schülern ständig neuen Gesprächs und Lachstoff: Während einer großen Pause kletterte er am Regenrohr des Hauptgebäudes auf das Dach, um sich die Welt aus dieser Perspektive einmal anzusehen. Als die Aufsicht führenden Lehrer ihn energisch aufforderten, sofort vom Dach herunterzuklettern, brach ein Stück der Dachrinne ab. Die Feuerwehr eilte mit Tatütata herbei und rettete Klette im Beisein aller Schulklassen aus dieser gefährlichen Lage.

Seinen größten Triumph erlebte er im Religionsunterricht von Herrn Buschmeier, als dieser mit uns Schülern über die menschlichen Vorstellungen vom Paradies und der Unendlichkeit diskutierte.

„Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende. Er ist das Symbol für die Unendlichkeit des Lebens. Ich möchte, dass ihr eure subjektiven Gedanken über die Unendlichkeit zur nächsten Unterrichtsstunde zeichnerisch ausdrückt und in der Klasse vorstellt.“

Die meisten Schüler legten bald darauf ein Bild mit einem blumenverzierten oder schlichten Kreis vor. Alle hielten zunächst den kunstvoll als Dornenkrone gestalteten Kreis von Gaby Winter für das fantasievollste Motiv dieser Aufgabenstellung. Aber dann brachte Friedolin Riemenspanner mit einem Bollerwagen ein lumpenverhülltes Etwas in den Klassenraum und irritierte Herrn Buschmeier mit dem Hinweis, dies sei seine Hausaufgabe. Als er den Stofffetzen entfernte, sahen wir die Frisierkommode seiner Mutter. Herr Buschmeier wies darauf hin, er unterrichte nicht das Fach Werken, sondern Religion. Es war eine Anspielung auf Klettes gelungenen Versuch, im Werkunterricht aus einem ausgehöhlten Kürbis einen Lautsprecher zu bauen. Alle wollten nun wissen, welche Bewandtnis es mit diesem Möbelstück auf sich habe. Ein rechteckiger Spiegel bildete die Rückwand der Kommode. Links und rechts des Spiegels befanden sich klappbare Seitenspiegel. Als Klette die Seitenspiegel so ausrichtete, dass sie sich gegenüber standen, legte er einen Bierdeckel, auf den er das Wort Unendlichkeit gekritzelt hatte, zwischen sie. Unendlich oft vervielfältigte sich das Bild des Bierdeckels zwischen den beiden Spiegeln. Herr Buschmeier war beeindruckt und schoss ein Foto von diesem überzeugenden Beispiel. Der Rückweg der Holzkommode auf dem Bollerwagen durch das Treppenhaus unserer Schule endete als Katastrophe: Polternd und krachend stürzte das Möbelstück auf die Treppe, wobei die Spiegel in tausend Teile zersplitterten. „So also kann ich mir das Ende der Unendlichkeit vorstellen“, murmelte Herr Buschmeier vor sich hin, als er die Bescherung sah, während unser Hausmeister, wenig begeistert von dem Objekt, nur verständnislos über Friedolin Riemenspanner den Kopf schüttelte.

Trotz komödiantischer Zwischenfälle, die dem oft langweiligen Unterricht die Farbe verliehen, wollte niemand gern neben Friedolin Riemenspanner sitzen. Innerhalb der Klassengemeinschaft blieb er ein Außenseiter, der auch bei Geburtstagsfeiern nie zu den geladenen Gästen gehörte.

Der Junge, der ständig verrückte Streiche spielte und Lügengeschichten erfand, stand auch unter Generalverdacht bei Diebstählen aller Art. Ich erinnere mich genau: Eine Zeitlang erschien Friedolin Riemenspanner zu jedem Unterricht mit einer Plastiktüte, in der sich ein weißer Mauerstein befand. Aufmerksame Schülerspitzel berichteten bald, er stehle die Steine auf dem morgendlichen Weg zur Schule bei der Kartonfabrik Giehse, die auf dem Firmengelände eine neue Lagerhalle errichten lasse. Als Banknachbar von Friedolin Riemenspanner fühlte ich mich berechtigt, ihm die Frage zu stellen, was er mit den gestohlenen Steinen anfangen wolle. Er verweigerte mir hartnäckig eine Antwort, doch gelang es mir wenig später, das Geheimnis zu lüften.

Jan Krüger

WIE DIE GESCHICHTE BEGANN

An einem sonnigen Herbsttag klingelte es unverhofft an unserer Haustür, während ich in meinem Zimmer damit beschäftigt war, einen Abschiedsbrief an Maren zu schreiben.

Mein Brief war eine handschriftliche Antwort auf ihren läppischen Anruf, mit welchem sie mir das Ende unserer Beziehung mitgeteilt hatte. Obwohl ich mich gedanklich mit den Möglichkeiten des Freitods beschäftigte, war es mir gelungen, meinen Worten einen Ton von großer Gelassenheit zu verleihen. Um meine Selbstachtung zu wahren, hatte ich hervorgehoben, dass nicht sie mit mir, sondern ich mit ihr Schluss machte.

Als die Schelle unten im Flur gleich zweimal nacheinander ertönte, riss mich Hectors Knurrgebell aus meinen Tagträumen. Wenn Maren ihre Trennungsabsicht bereute und nun um Einlass bettelte, wollte ich sie noch einige bange Sekunden warten lassen. Mit flüssigem Tipp-Ex hatte ich einige Ungereimtheiten in meiner Botschaft unkenntlich gemacht und blies nun meinen Atem gegen die feuchten Stellen auf dem Blatt.

Beim dritten Klingeln wendete ich den Brief mit der beschrifteten Seite nach unten, stellte das Tipp-Ex-Fläschchen darauf, legte den silbernen Kugelschreiber daneben und erhob mich liebeskrank von meinem Stuhl am Schreibtisch. Hectors Bellen im Eingangsflur steigerte sich zu blindwütigem Fauchen. Ich hörte das kratzende Geräusch seiner aufgeregt tänzelnden Krallen auf den Steinfliesen.

In meiner Selbstmitleidsversunkenheit öffnete ich meine Zimmertür, ging zum Flurfenster und warf einen Blick auf unsere Außentreppe. Sehen konnte ich niemanden. Um diese Zeit kehrte zumeist meine Mutter, die als Sekretärin arbeitete, von ihrer Arbeit nach Hause zurück. Aber da ich ihren Wagen vor dem Haus vermisste, konnte sie es nicht sein. Hectors Bellen ließ nicht nach. Plötzlich hörte ich den langgezogenen Pfeifton: Es war die Melodie des Songs The Good The Bad And The Ugly. Im gleichen Moment wusste ich: Klette steht vor der Tür. Da ich die erste Ferienwoche bei meiner Tante in Bochum verbracht hatte, war es mir gelungen, ihm in dieser Zeit nicht zu begegnen.

Ich beschloss, mich still zu verhalten und wartete darauf, dass er wieder gehen würde. Auf leisen Sohlen schlich ich in mein Zimmer, schaltete die Musik aus und lauschte nach Geräuschen. Mit jedem neuen Klingelton steigerte sich Hectors Drohgebell.

Wusste Klette, dass ich zu Hause bin? Ich hörte, wie eine Zeitung durch den Postkastenschlitz geschoben wurde und dann in den Flur plumpste. Hector verstummte und schnüffelte an dem Druckwerk. Erst jetzt fiel mir ein: Klette verteilte oft Werbezeitungen und Prospekte an die Haushalte in unserer Gegend. Von meinem Fenster aus sah ich sein postkastengelbes Fahrrad: Es lehnte an der Birke neben der offenen Garage. Auf dem Gepäckträger befand sich eine leere blaue Tasche. Also hatte er bereits alle Zeitungen verteilt.

Ich war nicht in der Stimmung, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er sollte sich auf sein Fahrrad schwingen und wegfahren.

Das Klingeln verstummte.

Noch einmal hörte ich die gepfiffene Einleitungsmelodie des Songs, der mir aus der Schulzeit vertraut war. Dann folgte ein blechernes Geräusch aus unserem Garten. Ich wusste sofort: Er hatte seine Hände um das Regenrohr neben meinem Fenster gelegt. Das Kratzen an der Hauswand verhieß nichts Gutes. Er wird doch wohl nicht versuchen, an dem Regenrohr bis zum meinem Zimmer zu klettern, dachte ich angespannt. Die tastenden Hände an dem hohl klingenden Blech näherten sich bedrohlich. Ich hielt den Atem an und lauschte. Seine Schuhe schabten über den weißen Außenputz der Hauswand. Feine Körner rieselten auf die verwelkenden Blätter im Rosenbeet. Ein Auto näherte sich unserer Einfahrt. Ich erkannte sogleich am Schnurren des Dieselmotors den Wagen meiner Mutter.

Klette bewegte sich nicht mehr. Wegen der breiten Edeltanne vor dem Haus konnte meine Mutter ihn nicht sehen, als sie die Stufen der Eingangstreppe hinauf ging. Er wartete, bis sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte.

Unten im Flur beruhigte Mama unseren Hund. Ich stand in der Mitte des Zimmers, hielt den Atem an und starrte auf das offene Fenster. Draußen schien die Sonne. Ich hörte Vogelgesang aus den Bäumen ringsum. Ein Lastwagen rollte auf der Straße vorbei. Irgendwo ertönte das Martinshorn des Unfallwagens.

Dann sah ich Klettes Hände, die sich verstohlen über den Rand des Fensterrahmens schoben. Wie zwei Affenpfoten, ging es mir durch den Sinn. Zuerst brachte er das linke Bein auf das Fensterbrett, dann folgte das rechte. Mit einem Griff zog er die windbewegte Gardine beiseite und spähte schlitzäugig ins Zimmer. Sein Mund stand offen, als er fast geräuschlos auf den Teppichläufer hüpfte.

Er erstarrte, als sich unsere Augen trafen.

Bevor ich meiner Empörung Ausdruck verleihen konnte, sagte er hastig:

„Shengdankualle Xinnian kualle!“ Ablenkend fügte er hinzu: „Beißt der Köter?“

„Das ist kein Köter!“ entfuhr es mir. „Das ist unser Hund!“

„Mein ich doch.“

„Ja“, sagte ich. „Er beißt. Wenn ich ihn auf dich hetze, bist du ein toter Mann. Wie kommst du dazu, einfach in mein Zimmer -“

„Hab ja geschellt. Hundert Mal. Aber als euer Hund bellte, wollt ich mich verkrümeln. Hab dann das Fenster gesehen.“

„Du kannst doch nicht einfach bei fremden Leuten an der Hauswand hochkraxeln und einbrechen!“

„Bin nicht eingebrochen. Das Fenster steht ja offen. Du hast gesagt, du willst Trommelunterricht bei mir nehmen.“

„Blödsinn“, stieß ich hervor. „Das habe ich nie gesagt.“

„Dann hab ich dich falsch verstanden. Aber wenn ich schon mal hier bin, kann ich dir schnell was beibringen. Sind das deine Bongos?“ Er wies mit dem Kopf zum Regal über meinem Bett.

„Ja“, sagte ich verstimmt. „Aber ich will jetzt nicht trommeln. Außerdem mache ich mit dir keine Geschäfte. Trommelunterricht! Was du für Ideen hast! Wie teuer sollte eine Stunde denn sein?“

„Hundert Mark“, erklärte er, machte zwei Schritte nach vorn, nahm die Bongos herunter und ließ die Finger seiner rechten Hand auf den Fellen trippeln.

Nicht anfassen, wollte ich sagen, doch dazu war es bereits zu spät. „Du spinnst“, sagte ich. „Erstens würde ich keinen Unterricht bei dir nehmen. Zweitens habe ich auch keine hundert Mark. Stell die Bongos wieder hin.“

„Wie viel Geld hast du denn?“

„Das geht dich überhaupt nichts an. Überleg dir lieber, wie du den Weg zu deinem Fahrrad findest, ohne unserem Hund zu begegnen.“

„Bei dir würde ich sogar einen Sonderpreis machen“, feilschte er weiter, stellte das Instrument aber an seinen Platz.

„Vielleicht fünfzig Mark?“, fragte ich wachsam, während mir das Wort Lügengeschichten durch den Sinn ging.

Klette führte seinen Gedanken zuende: „Wollte dir zeigen, wie man n Lied auf ner Trommel spielt. Dauert nur ne Minute. Mit fünf Mark bist du dabei. Is doch billig, oder?“

Von Klette wollte ich mich nicht einwickeln lassen. „Und wo ist der Haken? Da ist doch was faul. Ich kenne dich.“

„Da is kein Haken“, verteidigte er sich.

„Fünf Mark. Haha. Was, was für ein Lied sollte es denn sein?“, forschte ich. „Alle meine Entchen?“

„Das kann ich dir auch beibringen. Kein Problem. Kennste Oh Susanna?“

„Ja. Nur würde ich dafür kein Geld ausgeben.“

„Ich könnt dir auch Pop Corn beibringen.“

„Aber nicht mit schmutzigen Schuhen auf meinem Teppich“, beendete ich die Diskussion.

„Ziehe sie sofort aus.“

Fast ebenso schnell wie er es gesagt hatte, streifte er seine weißen Turnschuhe ab und stellte sie neben die Lampe auf meinem Schreibtisch.“

War er dreist oder nur unbeholfen? Ich wollte ihn loswerden und fragte vorwurfsvoll: „Machst du das zu Hause auch so?“

„Was?“, fragte er arglos.

„Die Schuhe auf den Tisch stellen.“

„Nee.“ Sofort nahm er die schiefhackigen Turnschuhe vom Tisch herunter und stellte sie mit demonstrativer Artigkeit neben den Kleiderschrank.

„Gut so?“

Ich hörte den Wagen meines Vaters draußen in der Einfahrt. Der Motor verstummte. Nach dem knarrenden Anziehen der Handbremse schlug die Tür zu. Schritte näherten sich auf knirschendem Kies.

„Dein Vatter?“, fragte Klette aufhorchend.

„Ja.“

„Strenger Typ?“

„Ziemlich streng“, übertrieb ich, weil ich hoffte, ihn mit diesem Argument vertreiben zu können.

Das Ächzen der Holztreppe, die zu meinem Zimmer führte, verriet mir, dass meine Mutter sich näherte. Sie klopfte, öffnete die Tür und sagte lächelnd:

„Jan? Oh, ich sehe, du hast Besuch.“

„Tach“, sagte Klette artig, ging durch den Raum und reichte Mama die Hand.

„Wir kennen uns ja schon“, sagte sie. Dann wandte sie sich an mich: „Jan, wir können gleich essen.“

„Ich bin schon unterwegs“, sagte ich. „Klette wollte sowieso gerade gehen.“

„Du könntest deinen Freund aber gern zum Abendbrot einladen. Ihr Jungs habt ja ständig Hunger, nicht wahr?“

„Kann man so sagen“, bestätigte Klette. „Abendbrot finde ich gut.“

„Hast du nicht gesagt, du hättest es eilig?“, mischte ich mich ein.

„Nee. Eilig hab ich es nich. Für Abendbrot is immer Zeit.“

„Das meine ich auch“, sagte Mama und fügte hinzu: “Drei sind geladen. Vier sind gekommen. Gieß Wasser zur Suppe. Heiß alle willkommen.“

„Was gibt’s denn für Suppe?“, forschte Klette. Soviel Dreistigkeit hatte ich bislang bei Klassenkameraden noch nicht erlebt. Es verschlug mir fast die Sprache.

„Lasst euch überraschen.“

Wir folgten Mama die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Auf der untersten Stufen erinnerte Klette sich an seine Turnschuhe, spurtete die Treppe hinauf in mein Zimmer und sauste nach wenigen Sekunden das hölzerne Treppengeländer herunter, wobei er mich fast umgeworfen hätte. Er war ein Eindringling, der sich benahm, als wäre er hier zu Hause.

Am gedeckten Küchentisch löffelten wir bald darauf eine dampfende Tomatensuppe, während Hector, vorsorglich auf der Terrasse festgeleint, darauf wartete, seinen Abendspaziergang zu unternehmen.

„Ihr seid also Klassenkameraden“, bemerkte mein Vater gut gelaunt und trank aus seinem Glas von dem Dunkelbier.

„Nich mehr lange“, sagte Klette mit vollen Backen. Es war bereits das dritte Brötchen mit Pfefferkäse, das er verspeiste.

„Willst du die Schule wechseln?“, fragte Mama ihn.

„Am Wochenende zieh ich nach Berlin. Zu meim Vatter.“

„Für immer?“, entfuhr es mir.

Er nickte kauend.

Die schlichte Aussage löste meine Verstimmung gegen ihn augenblicklich auf. Berlin. Umzug. Weg von hier. Ein Gefühl von Erleichterung beschlich mich.

„Hier in der Provinz hat es dir aber auch gefallen, nehme ich an“, führte mein Vater das Gespräch weiter.

„Klar. Ich wohne hier bei meim Oppa. Der kann nich mehr so wie früher. Is aber noch gut drauf.“

„Wie schön“, bemerkte Mama.

Ich war noch ein wenig irritiert über ihren Satz: Wir kennen uns ja schon.

Die wenigen Äußerungen reichten aus, um meine Eltern über seine ungewöhnlichen familiären Verhältnisse in Kenntnis zu setzen. Sie stellten keine peinlichen Fragen und beschränkten sich auf höfliches Plaudern.

Als Klette sich aus der Kristallschüssel die zweite Portion Salat auf seinen Teller schaufelte, bemerkte ich seine sauberen Fingernägel.

„Tja, dann genießt die letzten Ferientage mal schön, ihr zwei“, sagte mein Vater. An Mama gewandt, fragte er: „Fährst du heute noch zum Einkaufen?“

„In einer Stunde“, antwortete sie. „Das Futter für den Hund geht zuende. Ansonsten fehlt nur Obst im Haus.“

„Das Futter kann ich auch morgen einkaufen“, schlug ich vor.

„Obst?“, platzte Klette dazwischen. „Äppel?“

„Ja“, sagte Mama vergnügt. „Äpfel fehlen auch.“

„Kann ich Ihnen besorgen. Massenhaft. Mein Oppa hat im Garten hundertzwanzig Bäume. Äppel, Zwetschgen, Birnen, Kirschen, Pfirsiche. Alles. Auch ganz billig. Fünfzig Pfennig das Pfund. Ich kanns aber auch billiger machen. Kein Problem. Wir ham alle Sorten. Kleine und große. Wir ham sogar Äppel, die sind groß wie Kinderköppe.“ Mit beiden Händen formte er die Ausmaße.

„Ja“, entschied mein Vater, „dann kaufen wir doch mal ein paar von den Kinderköppen. Heißen die wirklich so?“

„Weiß ich nich. Wir sagen immer Kinderköppe. Schmecken gut. Bringe ich gleich morgen vorbei. Wie viel? N Zentner?“

„Um Gottes Willen“, wehrte Mama ab. „Ein Kilo müsste vorerst reichen.“

„Geht klar. Könn sich drauf verlassen.“

Mein Vater zog aus seiner Jacke, die hinter ihm über der Stuhllehne hing, die Geldbörse hervor und gab Klette fünf Mark.“

„Vier zu viel“, stellte Klette fest.

„Für das Pflücken und Bringen.“

„Thank you, Sir!“

Nach dem Essen brachte ich Klette zur Haustür.

„Dann machs gut.“

„Tschüs bis neulich.“

Als er die Stufen der Außentreppe hinunter sprang, fiel mir ein: „Klette, verrate mir noch etwas!“

Er wandte sich um. „Was denn?“

„Warum sind deine Totengräberfingernägel plötzlich so sauber?“ Es war nicht böse gemeint.

„Abgekaut“, erklärte er.

„Im Ernst?“

„Mache ich immer so.“

„Hat es denn wenigstens geschmeckt?“

Er überlegte kurz. Dann antwortete er: „Tomatensuppe schmeckt besser.“

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126 стр. 11 иллюстраций
ISBN:
9783847622543
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