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Читать книгу: «Seine Exzellenz Eugene Rougon», страница 3

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Kapitel II

Am Morgen hatte im »Moniteur«17 der Rücktritt Rougons gestanden, der »aus Gesundheitsgründen« demissioniert habe. Er war nach dem Frühstück in den Staatsrat gekommen mit der Absicht, seinem Nachfolger schon diesen Abend den Platz aufgeräumt zu hinterlassen. Und in dem großen rot und goldenen Arbeitszimmer, das dem Präsidenten vorbehalten war, leerte er, vor dem riesigen Schreibtisch aus Palisanderholz sitzend, die Schubfächer und ordnete Papiere, die er mit rosafarbenen Bindfäden bündelte.

Er klingelte. Ein Türhüter trat ein, ein prachtvoll gewachsener Mann, der bei der Kavallerie gedient hatte.

»Bringen Sie mir eine brennende Kerze«, bat Rougon.

Und als der Türhüter, nachdem er einen kleinen Leuchter vom Kamin auf den Schreibtisch gestellt hatte, gehen wollte, rief Rougon ihn zurück.

»Merle, hören Sie! – Lassen Sie niemanden herein. Verstehen Sie, niemanden.«

»Jawohl, Herr Präsident«, antwortete der Türhüter und schloß geräuschlos die Tür.

Rougon lächelte leicht.

Er wandte sich zu Delestang um, der am anderen Ende des Raumes vor einem Schrank mit Pappschubfächern stand, die er sorgfältig durchsah.

»Der brave Merle hat heute morgen den ›Moniteur‹ nicht gelesen«, murmelte er.

Delestang schüttelte, da er nichts zu sagen wußte, nur den Kopf. Er hatte einen wundervollen Kopf, sehr kahl, aber mit einer dieser frühzeitigen Glatzen, die den Frauen gefallen. Sein nackter Schädel, der die Stirn übermäßig hoch erscheinen ließ, gab ihm den Anschein umfassender Intelligenz. Sein rosiges, ein wenig viereckiges Gesicht ohne ein einziges Barthaar erinnerte an jene korrekten und gedankenvollen Gesichter, wie phantasiebegabte Maler sie gern den großen Politikern verleihen.

»Merle ist Ihnen sehr ergeben«, sagte er schließlich.

Und er versenkte wieder den Kopf in das Pappfach, das er gerade durchstöberte. Rougon, der eine Handvoll Papiere zusammengedreht hatte, zündete sie an der Kerze an und warf sie dann in eine große Bronzeschale, die auf einer Ecke des Schreibtisches stand. Er sah zu, wie sie verbrannten.

»Delestang, die unteren Fächer rühren Sie mir bitte nicht an«, sagte er. »Darin sind Akten, in denen nur ich mich auskenne.«

Dann setzten beide eine reichliche Viertelstunde lang schweigend ihre Tätigkeit fort. Es war sehr schönes Wetter, die Sonne schien durch die drei großen Fenster, die auf die Uferstraße hinausgingen. Eines der Fenster, das einen Spalt breit offenstand, ließ den leichten kühlen Luftzug von der Seine herein, der mitunter ein wenig die seidenen Fransen der Vorhänge hob. Zerknitterte, auf den Teppich geworfene Papiere flatterten mit leisem Rascheln weiter.

»Hier, sehen Sie doch mal dies«, sagte Delestang und reichte Rougon einen Brief, den er soeben gefunden hatte.

Rougon las den Brief und zündete ihn gelassen an der Kerze an. Es war ein delikater Brief. Und sie plauderten in abgerissenen Sätzen, sich jeden Augenblick unterbrechend, die Nase in allerlei Papierkram. Rougon dankte Delestang dafür, daß er gekommen sei, ihm zu helfen. Dieser »liebe Freund« war der einzige, mit dem er unbekümmert die schmutzige Wäsche seiner fünf Präsidentschaftsjahre waschen konnte. Er hatte ihn in der Gesetzgebenden Versammlung kennengelernt, wo sie nebeneinander auf derselben Bank gesessen hatten. Dort hatte er eine echte Zuneigung zu diesem schönen Mann empfunden, wobei er ihn gleichzeitig köstlich dumm, hohl und stolz fand. Für gewöhnlich pflegte er mit überzeugter Miene zu sagen, daß »dieser verteufelte Delestang es weit bringen« werde. Und er förderte ihn, band ihn durch Dankbarkeit an sich, benutzte ihn wie ein Möbel, in das er alles verschloß, was er nicht mit sich herumtragen konnte.

»Wie dumm ist man doch, daß man Papiere aufhebt!« meinte Rougon, während er ein anderes überquellendes Schubfach öffnete.

»Da ist ein Brief von einer Frau«, sagte Delestang mit einem Augenzwinkern.

Rougon lachte herzlich. Seine ganze breite Brust schütterte. Protestierend nahm er den Brief. Sobald er die ersten Zeilen überflogen hatte, rief er: »Den hat der kleine d'Escorailles versehentlich hiergelassen! – Hübsche Zettelchen übrigens, solche Briefchen! Man bringt es weit mit drei Zeilen von einer Frau.«

Und während er den Brief verbrannte, fügte er hinzu: »Sie wissen, Delestang, man soll sich vor den Frauen hüten!«

Delestang senkte den Kopf. Immer steckte er in irgendeiner heiklen Liebesaffäre. 1851 hätte er sogar fast seine politische Zukunft gefährdet; damals war er leidenschaftlich in die Frau eines sozialistischen Abgeordneten verliebt, und um sich ihrem Gatten angenehm zu machen, stimmte er meist für die Opposition, gegen das Elysée18. Daher traf ihn der 2. Dezember19 wie ein wahrer Keulenschlag. Zwei Tage lang schloß er sich ein, hilflos, am Ende, zerschmettert, zitternd vor Angst, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihn verhaften würde. Rougon hatte ihn aus dieser bösen Klemme retten müssen; er hatte ihn veranlaßt, nicht mehr bei den Wahlen in Erscheinung zu treten, und ihn ins Elysée gebracht, wo er eine Stellung als Staatsrat für ihn ergatterte. Delestang, Sohn eines Weinhändlers aus Bercy, ehemals Anwalt, Eigentümer eines Musterguts in der Nähe von Sainte Menehould, war mehrere Millionen schwer und bewohnte in der Rue du Colisée ein äußerst elegantes Stadthaus.

»Ja, hüten Sie sich vor den Frauen«, wiederholte Rougon, der nach jedem Wort eine Pause machte, um einen Blick in die Aktenstücke zu werfen. »Wenn die Frauen einem keine Krone aufs Haupt setzen, legen sie einem einen Strick um den Hals ... In unserem Alter muß man nämlich mit seinem Herzen ebenso pfleglich umgehen wie mit seinem Magen.«

In diesem Augenblick erhob sich im Vorzimmer großer Lärm. Man hörte die Stimme Merles, der jemandem den Eintritt verwehrte. Und plötzlich kam mit den Worten: »Zum Teufel, ich muß ihm die Hand drücken, diesem teuren Freund«, ein kleiner Mann herein.

»Sieh da, Du Poizat!« rief Rougon, ohne aufzustehen.

Und als Merle heftige Gebärden machte, um sich zu entschuldigen, befahl er ihm, die Tür zu schließen.

Dann sagte er ruhig:

»Ich glaubte Sie in Bressuire ... Man läßt also seine Unterpräfektur im Stich wie eine alte Geliebte.«

Du Poizat, ein schmächtiger Mann mit einem kleinen, verschlagenen Gesicht und sehr weißen, unregelmäßig stehenden Zähnen, zuckte leicht mit den Achseln.

»Ich bin seit heute morgen geschäftlich in Paris und wollte Ihnen erst abends in der Rue Marbeuf die Hand drücken. Ich hätte Sie zum Essen eingeladen ... Aber nachdem ich den ›Moniteur‹ gelesen hatte ...«

Er zog einen Sessel an den Schreibtisch heran, ließ sich ungeniert Rougon gegenüber nieder.

»Hören Sie mal, was geht denn eigentlich vor? Da komme ich von weit hinten aus dem Departement DeuxSèvres ... Ich hatte zwar da unten schon von irgendwas Wind bekommen. Aber ich war weit davon entfernt, zu ahnen ... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?«

Jetzt zuckte Rougon seinerseits mit den Achseln. Es war klar, Du Poizat hatte dort unten erfahren, daß Rougon in Ungnade gefallen war, und kam nun angerannt, um zu sehen, ob es hier keinen Strohhalm gäbe, an den er sich klammern könnte. Rougon blickte ihm bis in die Seele, als er sagte: »Ich hätte Ihnen heute abend geschrieben ... Reichen Sie Ihren Rücktritt ein, mein Bester ...«

»Das ist alles, was ich wissen wollte, ich werde meinen Rücktritt einreichen«, erwiderte Du Poizat nur.

Und vor sich hin pfeifend, stand er auf.

Als er mit kleinen Schritten auf und ab ging, bemerkte er Delestang, der inmitten eines wüsten Haufens von Pappschachteln auf dem Teppich kniete. Schweigend gab er ihm die Hand. Dann zog er eine Zigarre aus der Tasche und steckte sie an der Kerze an.

»Da man umzieht, darf man auch rauchen«, sagte er, während er sich abermals in den Sessel niederließ. »Umziehen ist lustig!«

Rougon war in einen Stoß Papiere vertieft, die er mit größter Aufmerksamkeit las. Er sortierte sie sorgfältig, verbrannte die einen, bewahrte andere auf. Du Poizat blies mit zurückgelehntem Kopf dünne Rauchfäden aus dem Mundwinkel und sah Rougon bei seinem Tun zu. Sie hatten sich ein paar Monate vor der Februarrevolution kennengelernt. Damals wohnten beide bei Frau Mélanie Correur, im Hôtel Vanneau in der Rue Vanneau. Du Poizat lebte als ihr Landsmann dort; er war ebenso wie Frau Correur in Coulonges, einer kleinen Stadt im Arrondissement Niort, geboren. Sein Vater, ein Gerichtsvollzieher, hatte ihn zum Rechtsstudium nach Paris geschickt, wohin er ihm monatlich hundert Francs für den Lebensunterhalt zahlte, obgleich er schöne runde Summen verdiente, indem er Geld auf kurze Zeit zu hohen Zinsen auslieh; das Vermögen dieses Biedermannes blieb selbst in seiner Heimatgegend so unerklärlich, daß man ihn verdächtigte, in irgendeinem alten Schrank, dessen gerichtliche Beschlagnahme er durchgeführt hatte, einen Schatz gefunden zu haben. Seit den ersten Anfängen der bonapartistischen Propaganda machte sich Rougon diesen mageren Burschen zunutze, der wütend und mit beunruhigendem Lächeln seine monatlichen hundert Francs aufbrauchte; und sie beteiligten sich gemeinsam an den verfänglichsten Unternehmungen. Als später Rougon in die Gesetzgebende Versammlung einzutreten wünschte, war es Du Poizat, der mit aller Gewalt seine Wahl im Departement DeuxSèvres durchsetzte. Nach dem Staatsstreich arbeitete dann Rougon seinerseits für Du Poizat, indem er ihn zum Unterpräfekten in Bressuire ernennen ließ. Der junge Mann, kaum dreißig Jahre alt, hatte in seiner Heimat seinen Erfolg auskosten wollen, ein paar Meilen von seinem Vater entfernt, dessen Geiz ihn seit seinem Abgang vom Gymnasium marterte.

»Und wie geht's dem Papa Du Poizat?« fragte Rougon, ohne aufzusehen.

»Zu gut«, antwortete der andere geradeheraus. »Er hat sein letztes Dienstmädchen weggejagt, weil sie drei Pfund Brot gegessen hat. Jetzt hat er zwei geladene Gewehre hinter der Tür stehen, und wenn ich zu ihm gehe, muß ich mich über die Hofmauer hinweg in Unterhandlungen einlassen.«

Während der Unterhaltung hatte sich Du Poizat vorgebeugt und wühlte mit den Fingerspitzen in der Bronzeschale, in der noch halbverbrannte Papierstücke lagen. Rougon, der dieses Spiel bemerkt hatte, hob mit einem Ruck den Kopf. Er hatte vor seinem ehemaligen Kampfgefährten, dessen unregelmäßig stehende weiße Zähne denen eines jungen Wolfs glichen, immer eine leise Angst empfunden. Einst, als sie noch zusammen arbeiteten, war er stets sehr darum besorgt gewesen, ihm auch nicht das geringste kompromittierende Aktenstück in den Händen zu lassen. Deshalb warf er jetzt, als er sah, daß jener die unversehrt gebliebenen Wörter zu lesen versuchte, eine Handvoll brennender Briefe in die Schale. Du Poizat verstand vollkommen. Aber er lächelte, scherzte.

»Das ist das Großreinemachen«, meinte er. Und er ergriff eine lange Schere und bediente sich ihrer als Pinzette. Er steckte die Briefe, die am Erlöschen waren, aufs neue an der Kerze an, ließ die allzu fest zusammengedrückten Papierknäuel in der Luft verbrennen und rührte in den glimmenden Überresten wie in dem flammenden Alkohol einer Punschbowle. In der Schale flogen leuchtende Funken umher, indes bläulicher Rauch aufstieg und langsam zu dem offenen Fenster zog. Die Kerze begann zuweilen zu flackern und brannte dann wieder mit einer ganz geraden, sehr hohen Flamme.

»Ihre Kerze sieht aus wie ein Kirchenlicht«, sagte Du Poizat grinsend. »Oh, was für ein Begräbnis, mein armer Freund! Wie viele Tote muß man in die Asche betten!«

Rougon war im Begriff zu antworten, als abermals Lärm aus dem Vorzimmer drang. Zum zweitenmal verwehrte Merle jemandem den Eintritt. Und als die Stimmen lauter wurden, sagte Rougon: »Delestang, seien Sie doch so liebenswürdig und sehen Sie nach, was da vor sich geht. Wenn ich mich blicken lasse, fällt man über uns her.«

Delestang öffnete behutsam die Tür, die er hinter sich wieder schloß. Aber fast im selben Augenblick steckte er den Kopf herein und flüsterte: »Kahn ist hier.«

»Nun gut, soll er hereinkommen«, entschied Rougon. »Aber nur er, hören Sie!«

Und er rief Merle herbei, um diesem seine Anordnungen zu wiederholen.

»Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Freund«, sagte er, sich Kahn zuwendend, als der Türhüter hinausgegangen war. »Aber ich bin so beschäftigt ... Setzen Sie sich neben Du Poizat und rühren Sie sich nicht, sonst werfe ich Sie alle beide hinaus.«

Den Abgeordneten schien dieser ungehobelte Empfang nicht im geringsten zu berühren. Er war an Rougons Eigentümlichkeiten gewöhnt. Er nahm einen Sessel, setzte sich neben Du Poizat, der sich eine zweite Zigarre ansteckte. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, begann er: »Es ist schon heiß ... Ich komme aus der Rue Marbeuf, ich glaubte, Sie noch zu Hause anzutreffen.«

Rougon antwortete nicht, es entstand eine Pause. Er zerknüllte Papiere und warf sie in einen Korb, den er zu sich herangezogen hatte.

»Ich muß mit Ihnen reden«, fing Herr Kahn an.

»Reden Sie, reden Sie«, sagte Rougon. »Ich höre Ihnen zu.«

Aber der Abgeordnete schien ganz plötzlich die Unordnung zu bemerken, die im Zimmer herrschte.

»Was machen Sie denn?« fragte er mit vollendet gespieltem Erstaunen. »Wechseln Sie das Arbeitszimmer?«

Er hatte den Ton so gut getroffen, daß Delestang die Freundlichkeit besaß, aufzustehen, um Herrn Kahn einen »Moniteur« hinzureichen.

»O mein Gott!« rief Herr Kahn, sobald er einen Blick auf die Zeitung geworfen hatte. »Ich dachte, die Sache sei seit gestern abend beigelegt. Das ist ein wahrer Blitzschlag ... Mein lieber Freund ...«

Er war aufgesprungen und drückte Rougon die Hände. Der sah ihn schweigend an; auf seinem vollen Gesicht zogen sich zwei große spöttische Falten scharf an den Mundwinkeln vorbei. Und da Du Poizat den Gleichgültigen spielte, vermutete er, daß sich die beiden am Vormittag getroffen hätten, um so mehr, als Herr Kahn versäumt hatte, erstaunt zu scheinen, als er den Unterpräfekten erblickte. Der eine mußte in den Staatsrat gegangen sein, während der andere in die Rue Marbeuf lief. Auf diese Weise waren sie sicher, ihn nicht zu verfehlen.

»Nun, Sie hatten mir etwas zu sagen?« fragte Rougon in seiner gelassenen Art.

»Sprechen wir nicht mehr davon, mein lieber Freund«, rief der Abgeordnete. »Sie haben Verdrießlichkeiten genug. Ich werde Sie an einem solchen Tage ganz gewiß nicht mit meinen kleinen Kümmernissen quälen.«

»Nein, lassen Sie sich dadurch nicht stören. Reden Sie nur.«

»Je nun, es ist wegen meiner Angelegenheit. Sie wissen ja, wegen dieser verwünschten Konzession ... Ich bin sogar froh, daß Du Poizat hier ist. Er wird uns einige Aufschlüsse geben können.«

Und er setzte lang und breit auseinander, wie weit seine Angelegenheit gediehen war. Es handelte sich um eine Eisenbahnlinie von Niort nach Angers, einen Plan, den er seit drei Jahren hegte. Allerdings führte der Schienenstrang über Bressuire, wo er Hochöfen besaß, deren Wert sich dadurch verzehnfachen sollte; einstweilen hielt sich das Unternehmen nur gerade so, wegen der Transportschwierigkeiten. Ferner bot die Verwirklichung des Projekts die Aussicht, höchst erfolgreich im trüben fischen zu können. Deshalb entfaltete Herr Kahn eine ungeheure Betriebsamkeit, um die Konzession zu erhalten; Rougon unterstützte ihn nachdrücklich, und die Konzession sollte gerade erteilt werden, als Herr de Marsy, der Innenminister, einerseits ärgerlich darüber, daß er an dem Geschäft, bei dem er prächtige Spekulationsgewinne witterte, nicht beteiligt war, andererseits sehr begierig darauf, Rougon Unannehmlichkeiten zu bereiten, den ganzen Einfluß seiner hohen Stellung dazu verwandte, gegen den Plan anzukämpfen. Er hatte sogar kürzlich mit der Dreistigkeit, die ihn so gefürchtet machte, die Konzession durch den Minister für öffentliche Arbeiten dem Direktor der WestbahnGesellschaft anbieten lassen; und er verbreitete das Gerücht, einzig diese Gesellschaft sei imstande, den Bau einer Zweigbahn, der ernsthafte Garantien erfordere, erfolgreich durchzuführen. Herr Kahn würde dabei hart mitgenommen werden. Der Sturz Rougons mußte ihn vollends ruinieren.

»Gestern habe ich erfahren«, sagte er, »daß ein Ingenieur jener Gesellschaft beauftragt worden ist, eine neue Streckenführung zu prüfen ... Haben Sie davon Wind gehabt, Du Poizat?«

»Gewiß«, antwortete der Unterpräfekt. »Man hat sogar schon mit der Prüfung angefangen ... Man versucht, den Bogen zu vermeiden, den Sie machen wollten, um Bressuire zu berühren. Die Strecke wird in gerader Richtung über Parthenay und Thouars verlaufen.«

Der Abgeordnete machte eine mutlose Gebärde.

»Das ist ja Schikane«, knurrte er. »Was würde es ihnen ausmachen, die Strecke an meinem Hüttenwerk vorbeizuführen? – Aber ich werde Einspruch erheben, ich werde eine Denkschrift gegen ihre Streckenführung verfassen ... Ich fahre mit Ihnen nach Bressuire zurück.«

»Nein, warten Sie nicht auf mich«, entgegnete Du Poizat lächelnd. »Ich werde wohl meinen Rücktritt einreichen.«

Herr Kahn ließ sich, wie von einer endgültigen Katastrophe getroffen, in seinen Sessel sinken. Mit beiden Händen rieb er seine Bartfräse und blickte flehend Rougon an. Der hatte seine Akten hingelegt. Die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, hörte er zu.

»Sie möchten einen Rat haben, nicht wahr?« sagte er schließlich mit harter Stimme. »Nun gut, verhalten Sie sich ganz still, meine teuren Freunde, bemühen Sie sich darum, daß die Dinge auf ihrem derzeitigen Stand bleiben, und warten Sie ab, bis wir die Herren sind ... Du Poizat wird seinen Rücktritt einreichen, weil er, wenn er das nicht tut, vor Ablauf von vierzehn Tagen seine Entlassung erhalten wird. Was Sie betrifft, Kahn, so schreiben Sie an den Kaiser, verhindern Sie mit allen Mitteln, daß die Konzession an die WestbahnGesellschaft vergeben wird. Sie werden sie jetzt bestimmt nicht bekommen, aber solange sie niemandem gehört, kann sie später mal Ihnen gehören.« Und da die beiden Männer den Kopf schüttelten, fuhr er noch brutaler fort: »Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Ich liege am Boden, lassen Sie mir Zeit, mich wieder zu erheben ... Mache ich ein trauriges Gesicht? Nein, nicht wahr? Also gut, machen Sie mir das Vergnügen, nicht mehr so auszusehen, als gingen Sie hinter meinem Leichenwagen her ... Ich bin geradezu entzückt, ins Privatleben zurückzukehren. Endlich werde ich mich doch ein wenig ausruhen können!«

Die Arme verschränkt, den großen Körper wiegend, atmete er tief. Und Herr Kahn sprach nicht mehr von seiner Angelegenheit. Er ahmte Herrn Du Poizats gleichgültige Miene nach, bestrebt, vollständige Unbefangenheit an den Tag zu legen. Delestang hatte einen anderen Kasten in Angriff genommen, er machte hinter den beiden Sesseln so wenig Geräusch, daß man es zuweilen für das leise Geraschel einer Schar Mäuse halten konnte, die in den Aktenstößen spielten. Die Sonne, die über den roten Teppich wanderte, schnitt in den Schreibtisch einen Winkel blonden Lichts, in dem noch immer ganz bleich die Kerze brannte.

Inzwischen hatte ein vertrauliches Geplauder begonnen. Rougon, der jetzt wieder Bündel verschnürte, versicherte, die Politik sei nichts für ihn. Er lächelte gutmütig, während seine Lider, wie vor Müdigkeit, wieder über das Flammen seiner Augen sanken. Er hätte gern riesige Ländereien zu bestellen gehabt, mit Feldern, die er nach seinem Belieben bearbeiten würde, mit Viehherden, Pferden, Rindern, Schafen, Hunden, deren unumschränkter Gebieter er wäre. Und er erzählte, daß einst in Plassans, als er noch nichts weiter als ein kleiner Provinzadvokat gewesen, seine größte Freude darin bestanden habe, im Kittel loszuziehen und tagelang in den Schluchten der Seille zu jagen, wo er Adler abgeschossen habe. Er nannte sich einen Bauern, sein Großvater habe noch auf dem Felde schuften müssen. Dann fing er an, den der vornehmen Welt überdrüssigen Mann zu spielen. Die Macht langweile ihn. Er werde den Sommer auf dem Lande verbringen. Nie habe er sich unbeschwerter gefühlt als seit diesem Morgen; und er zuckte so gewaltig mit seinen starken Schultern, als würfe er eine Last ab.

»Was haben Sie hier als Präsident gehabt? Achtzigtausend Francs?« fragte Herr Kahn.

Rougon bejahte mit einer Kopfbewegung.

»Und nun bleiben Ihnen nur Ihre dreißigtausend Francs als Senator.«

Was ihm das ausmache! Er könne von nichts leben, denn er habe keine Laster, was übrigens stimmte. Weder Spieler noch Schürzenjäger, noch Schlemmer. Er sehne sich nur danach, Herr in seinem Hause zu sein, nach nichts sonst. Und unausweichlich kam er auf seine Idee von einem Bauernhof zurück, wo ihm alle Tiere gehorchen würden. Sein Ideal sei, eine Peitsche zu haben und zu befehlen, allen überlegen, klüger und stärker als alle zu sein. Nach und nach wurde er lebhaft, sprach von den Tieren, wie er von Menschen gesprochen haben würde, und behauptete, die Massen liebten den Stock, die Hirten lenkten ihre Herden nur mit Steinwürfen. Er verwandelte sich förmlich, seine dicken Lippen blähten sich vor Verachtung, das ganze Gesicht strotzte von Kraft. In der geballten Faust schwang er ein Aktenbündel und schien nahe daran zu sein, es Herrn Kahn und Herrn Du Poizat, die dieser plötzliche Leidenschaftsausbruch in Unruhe und Verlegenheit versetzte, an den Kopf zu werfen.

»Der Kaiser hat sehr schlecht gehandelt«, murmelte Du Poizat.

Da beruhigte sich Rougon plötzlich. Sein Gesicht wurde wieder grau, sein Körper sackte mit der Plumpheit eines fettleibigen Mannes zusammen. Er begann den Kaiser in übertriebener Weise zu loben: der besitze einen mächtigen Verstand, einen Geist von unglaublicher Tiefe. Du Poizat und Herr Kahn wechselten einen raschen Blick. Aber Rougon überbot sich noch, indem er von seiner Ergebenheit redete und ganz demutsvoll sagte, er sei immer stolz darauf gewesen, nichts weiter als ein einfaches Werkzeug in den Händen Napoleons III. zu sein. Schließlich machte er sogar Du Poizat, einen Burschen von unangenehmer Lebhaftigkeit, ungeduldig. Und ein Streit entspann sich. Du Poizat sprach bitter von all dem, was Rougon und er von 1848 bis 1851 für das Kaiserreich getan hätten, während sie bei Frau Mélanie Correur am Hungertuch nagten. Er erzählte von den schrecklichen Tagen, vor allem während des ersten Jahres, Tagen, die sie damit verbrachten, im Schmutz von Paris herumzupatschen, um Parteigänger zu werben. Später hatten sie zwanzigmal ihre Haut zu Markte getragen. War es nicht Rougon gewesen, der sich am Morgen des 2. Dezember an der Spitze eines Linienregiments des PalaisBourbon20 bemächtigt hatte? Bei diesem Spiel ging es um den Kopf. Und heute gab man ihn preis, wurde er das Opfer einer Hofintrige. Aber Rougon widersprach; man habe ihn nicht preisgegeben; er ziehe sich aus persönlichen Gründen zurück. Als dann Du Poizat, vollends in Schwung geraten, die Leute in den Tuilerien »Schweine« schimpfte, brachte ihn Rougon zum Schweigen, indem er dem Palisanderschreibtisch einen solchen Faustschlag versetzte, daß es krachte.

»Dumm ist das alles!« sagte er nur.

»Sie gehen ein wenig zu weit«, murmelte Herr Kahn.

Delestang, sehr bleich geworden, hatte sich hinter die Sessel gestellt. Leise öffnete er die Tür, um nachzusehen, ob niemand lausche. Doch im Vorzimmer bemerkte er nur die hohe Silhouette Merles, dessen ihm zugewandter Rücken wie die Verschwiegenheit selber wirkte. Rougons Worte hatten Du Poizat erröten lassen; nüchtern geworden, verstummte er nun und kaute mit verdrossener Miene auf seiner Zigarre herum.

»Zweifellos hat der Kaiser nicht die richtigen Leute um sich«, fing Rougon nach einer Pause wieder an. »Ich habe mir erlaubt, ihm das zu sagen, und er hat gelächelt. Er hat sogar zu scherzen geruht, indem er hinzufügte, daß meine Umgebung nicht mehr tauge als die seine.«

Du Poizat und Herr Kahn lachten gezwungen. Sie fanden den Ausspruch sehr hübsch.

»Aber ich wiederhole«, fuhr Rougon in einem eigentümlichen Ton fort, »ich ziehe mich aus freien Stücken zurück. Wenn man Sie fragt, die Sie zu meinen Freunden gehören, so versichern Sie, daß es mir noch gestern abend freigestanden habe, meine Demission zurückzunehmen ... Erklären Sie auch das Altweibergeschwätz für Lüge, das in bezug auf die RodriguezAngelegenheit umgeht, aus der man, wie es scheint, einen ganzen Roman macht. Vielleicht habe ich in dieser Sache nicht mit der Mehrheit des Staatsrates übereingestimmt, und das hat gewiß zu Reibungen geführt, die meinen Rücktritt beschleunigt haben. Aber ich hatte ältere und schwerwiegendere Gründe. Ich war schon lange entschlossen, die hohe Stellung aufzugeben, die ich dem Wohlwollen des Kaisers verdankte.«

Diesen ganzen Erguß begleitete er mit einer Geste der rechten Hand, wie er sie im Übermaß anzuwenden pflegte, wenn er vor der Kammer sprach. Seine Erklärungen waren augenscheinlich für die Öffentlichkeit bestimmt. Herr Kahn und Du Poizat, die ihren Rougon kannten, versuchten durch schlau geführte Reden, die eigentliche Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Der große Mann, wie sie ihn unter sich vertraulich nannten, mußte irgendein ungeheures Spiel treiben. Sie brachten das Gespräch auf die Politik im allgemeinen. Rougon machte sich über das parlamentarische System lustig, das er den »Misthaufen der Mittelmäßigkeiten« nannte. Die Abgeordnetenkammer genieße seiner Ansicht nach noch eine sinnlose Freiheit. Dort werde viel zuviel geredet. Frankreich müsse von einem gut zusammengesetzten Apparat regiert werden, an der Spitze der Kaiser, unten, auf die Funktion eines Räderwerks beschränkt, die großen Körperschaften und die Beamten. Er lachte, und seine Brust hüpfte, während er mit einer rasenden Verachtung für die Dummköpfe, die eine starke Regierung forderten, sein System übertrieben pries.

»Aber«, unterbrach ihn Herr Kahn, »der Kaiser oben, alle anderen unten, das ist nur für den Kaiser vergnüglich!«

»Wenn man sich langweilt, geht man eben«, sagte Rougon gelassen.

Er lächelte und fügte dann hinzu: »Man wartet ab, bis es unterhaltsam wird, und kommt dann wieder.«

Eine lange Pause trat ein. Herr Kahn begann seine Bartfräse zu reiben, zufrieden, weil er erfahren hatte, was er zu erfahren wünschte. Er hatte tags zuvor in der Abgeordnetenkammer richtig geraten, als er zu verstehen gab, Rougon sei in der Erkenntnis, daß sein Ansehen in den Tuilerien erschüttert war, von sich aus einer Entlassung zuvorgekommen, um ein neues Leben anzufangen; die Sache mit Rodriguez bot ihm eine prachtvolle Gelegenheit, als Ehrenmann zu fallen.

»Und was sagt man?« fragte Rougon, um das Schweigen zu brechen.

»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete Du Poizat. »Immerhin habe ich soeben in einem Café einen ordengeschmückten Herrn Ihren Rücktritt lebhaft billigen hören.«

»Béjuin war gestern sehr ergriffen«, erklärte Herr Kahn, als die Reihe an ihm war. »Béjuin ist Ihnen äußerst zugetan. Er ist ein etwas farbloser Bursche, aber von großer Zuverlässigkeit. Selbst der kleine La Rouquette schien sich mir sehr angemessen zu verhalten. Er spricht vortrefflich von Ihnen.«

Und sie setzten die Unterhaltung über diese und jene Leute fort. Rougon stellte ohne die geringste Befangenheit Fragen, ließ sich einen genauen Bericht von dem Abgeordneten erstatten, der ihm willfährig und bis ins einzelne seine Beobachtungen über das Verhalten des Corps législatif in bezug auf ihn mitteilte.

»Heute nachmittag«, unterbrach ihn Du Poizat, dem es schmerzlich war, daß er nicht mit Auskünften dienen konnte, »werde ich durch Paris bummeln, und morgen früh, sobald ich aufgestanden bin, werde ich Ihnen viel zu erzählen haben.«

»Dabei fällt mir ein«, rief Herr Kahn lachend, »ich vergaß, Ihnen von de Combelot zu erzählen! – Nein wirklich, ich habe noch nie einen verlegeneren Menschen gesehen ...«

Doch er brach ab, weil Rougon mit einem Augenzwinkern auf den Rücken Delestangs wies, der gerade auf einen Stuhl gestiegen und damit beschäftigt war, den Oberteil eines Bücherschrankes auszuräumen, wo sich Zeitungen häuften. Herr de Combelot war mit einer Schwester Delestangs verheiratet. Letzterer litt, seit Rougon in Ungnade gefallen war, etwas unter seiner Verwandtschaft mit einem Kammerherrn; deshalb wollte er gern etwas Keckheit beweisen. Er wandte sich um und sagte mit einem Lächeln: »Warum sprechen Sie nicht weiter? – Combelot ist ein Dummkopf. So, nun wissen Sie Bescheid.«

Diese unbekümmerte Aburteilung eines Schwagers erheiterte die Herren sehr. Als Delestang seinen Erfolg sah, trieb er es so weit, daß er sich über de Combelots Bart lustig machte, den berüchtigten schwarzen Bart, der bei den Damen so berühmt war. Dann sagte er ohne jeden Übergang, während er ein Bündel Zeitungen auf den Teppich warf, ernst: »Des einen Kummer ist des andern Freude.«

Dieser Ausspruch ließ den Namen des Herrn de Marsy in der Unterhaltung auftauchen. Rougon, den Kopf gebeugt, als sei er angelegentlich mit einer Aktenmappe beschäftigt, deren einzelne Taschen er sorgfältig durchsah, ließ seine Freunde sich ihren Groll vom Herzen reden. Sie sprachen von de Marsy mit dem Ingrimm von Politikern, die über einen Gegner herfallen. Es hagelte nur so von groben Worten, abscheulichen Beschuldigungen, bis zur Lüge übertriebenen wahren Geschichten. Du Poizat, der Marsy schon früher, vor dem Kaiserreich, gekannt hatte, versicherte, jener sei damals von seiner Geliebten ausgehalten worden, einer Baronin, deren Diamanten er innerhalb von drei Monaten durchgebracht habe. Herr Kahn behauptete, es gebe an der Pariser Börse kein einziges anrüchiges Geschäft, in dem man nicht Marsys Finger finde. Und sie feuerten sich gegenseitig an, warfen einander immer stärkere Tatsachen zu: bei einem Grubenunternehmen habe Marsy Bestechungsgelder in Höhe von fünfzehnhunderttausend Francs eingestrichen, letzten Monat habe er der kleinen Florence vom »Les Bouffes21« ein vornehmes Stadthaus spendiert, eine Bagatelle von sechshunderttausend Francs, sein Anteil aus einem unsauberen Handel mit Aktien der marokkanischen Eisenbahnen; schließlich sei vor noch nicht acht Tagen das große Geschäft mit den ägyptischen Kanälen, das von seinen Kreaturen aufgezogen worden sei, mit einem ungeheuren Skandal zusammengebrochen, nachdem die Aktionäre erfahren hätten, daß in den zwei Jahren, in denen sie Geld eingezahlt, noch kein Spatenstich getan worden war. Dann fielen sie über seine persönlichsten Dinge her, bemühten sich, sein vornehmes Äußere, das eines eleganten Abenteurers, herabzusetzen, sprachen von früheren Krankheiten, die ihm später noch einen bösen Streich spielen würden, und gingen so weit, die Gemäldesammlung anzugreifen, die er damals zusammenbrachte.

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