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Elke Kleist

Charmefaktor Hering

Roman

Engelsdorfer Verlag

2009

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Charmefaktor Hering

Nachwort

„Auf dein neues Leben!“

„Auf die Freiheit!“

Die Frauen hielten Jennifer aufmunternd ihre Gläser entgegen, aber die zuckte merklich zusammen.

„Pst!“, sie schaute sich unsicher in dem kleinen Café um, aber ihr Einwand kam zu spät. Die anderen Gäste waren schon auf die drei Frauen aufmerksam geworden.

Jennifer zog den Kopf leicht zwischen die Schultern, als wollte sie sich verstecken. Mit ihrem sorgfältig hochgestecktem blonden Haar und ihrer vornehmen Eleganz strahlte sie nach außen ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und spröde Unnahbarkeit aus. Aber ihre verkrampfte Haltung und ein hektisches Flackern in ihren Augen sprachen dagegen. Ihre scheinbar heile Welt hatte gerade einen gewaltigen Riss bekommen.

Da saßen sie ihr gegenüber, ihre beiden besten Freundinnen und erwarteten von ihr, dass sie sich nun befreit und zufrieden fühlen sollte. Bea, die Ausgeflippte, immer hochmodisch gekleidet (Ich kann verdienen, was ich will, es sind immer tausend Euro zu wenig!) und perfekt gestylt. Sie flatterte wie ein Schmetterling von einem Mann zum nächsten und konnte oder wollte sich doch nie entscheiden. Sie hatte sich in all den Jahren ihren jungmädchenhaften Charme erhalten und brachte damit immer wieder eine Menge frischen Wind in ihre Freundschaft.

Ganz anders Karin. Sie war der Ruhepol in ihrer kleinen Gemeinschaft, die Korrekte, die Beständige. Sie brauchte keinen modischen Schnickschnack. Ordentlich, sauber und praktisch musste es sein.

Karin sorgte stets dafür, dass Jennifer und Bea nach ihren Höhenflügen wieder sicher auf dem Boden landeten.

Jennifer sah ihre Freundinnen an. Was war es, was sie selbst in diese Freundschaft einbrachte? Womit hatte sie diese großartigen Frauen verdient?

Vielleicht lag es daran, dass sie normalerweise von beiden etwas in sich vereinte. Die kleinen Teufel, die in Bea steckten und die bodenständigen Engel, die Karins Wesen bestimmten. Normaler weise. Aber im Moment war nichts normal. Es herrschte Ausnahmezustand.

„Auf den Neuanfang“, flüsterte sie dann doch mit belegter Stimme und stieß zurückhaltend mit den beiden an.

Bea prostete den anderen Gästen, die neugierig zu ihrem Tisch herüber schauten fröhlich zu. „Wir haben uns nämlich scheiden lassen“, teilte sie ihnen triumphierend mit.

Manche von ihnen wendeten ihre Blicke schnell ab, als wären sie bei etwas Unerlaubten ertappt worden. Andere grinsten breit und erhoben ihrerseits ihre Gläser.

„Bea!“ Jennifer versuchte ihre Freundin zu bremsen und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Das geht doch nun wirklich keinen etwas an, außerdem, was heißt hier wir haben?“

„Wir sind schließlich deine besten Freundinnen, da ist deine Scheidung irgendwie doch auch unsere. Ein gemeinsamer Akt der Befreiung sozusagen.“

Karin sah Bea zurechtweisend an und gab ihr ein Zeichen, still zu sein. Sie legte ihre Hand auf die von Jennifer.

„He, Jenny, nun lach doch mal. Es ist vorbei, und du weißt, dass es gut so ist. Du bist doch immer die Stärkste von uns gewesen. Eigentlich hättest du längst Schluss machen sollen. Das war doch keine Ehe mehr. Du brauchst ihn nicht. Denk nur mal an all die ungeahnten Möglichkeiten, die dir jetzt wieder offen stehen. Die ganze Welt breitet die Arme für dich aus.“

„Und die Männer auch. Was meinst du, wie viele schon in den Startlöchern stehen, weil du wieder zu haben bist“, Bea kicherte vergnügt vor sich hin.

„Bea!“ Karin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

Jennifers Gesicht verfinsterte sich zusehend und eine tiefe Furche bildete sich zwischen ihren Augenbrauen.

„Ich will nichts mehr von Männern wissen. Ich hab` die Nase gestrichen voll. Ich brauche diese männliche Selbstverliebtheit nicht mehr, ihre Alkoholexzesse, nächtliches Geschnarche und fremde Haare auf ihren Jacketts.“ Oh nein, sie würde sich nicht noch einmal von einem Mann demütigen lassen.

Ihr Blick schweifte durch das Fenster hinaus. Berlin hatte sich kurz vor Frühlingsbeginn noch einmal in ein schimmerndes Winterkleid gehüllt. Die Menschen hasteten eingemummt mit herum wirbelnden Schneeflocken um die Wette durch die Straßen. Jennifer spürte die Kälte in sich hoch kriechen.

„Ich dumme Kuh hab` nichts gemerkt, hab` gedacht, meine Ehe wäre, na ja, in Ordnung eben, mein Leben normal, wie es war. Ich war so verdammt blind“, sagte sie wie zu sich selbst.

Zugegeben, sie hatte sich die Ehe immer anders vorgestellt. Besser irgendwie. Aber an ein Ende hatte sie dennoch nie gedacht.

Der Kellner kam und servierte das Essen. Jennifer nahm ihren Salat kaum zur Kenntnis, aber Karin bedankte sich strahlend bei ihm. Sie sollte es nicht, aber sie liebte diese in Sahne ertränkten Nudeln.

„Du isst wieder nichts, Bea?“ Karin griff nach ihrem Besteck.

„Nein, nein. Das bisschen, was ich esse kann ich auch trinken“ antworte Bea und leerte ihr Sektglas in einem Zug, um sich sofort nachzuschenken.

„Und du solltest nicht immer dieses fette Zeug essen. Fett gehört in Gesichtcremes und sonst nirgends wohin.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber ich habe mich entschieden, meinen Körper ab jetzt zu nehmen wie er ist. Ich lasse ihn nicht mehr darben, noch dazu für eine Figur, die nun mal sowieso nicht für mich gedacht ist.“ Genüsslich machte Karin sich über ihr Essen her.

Jennifer hatte gar nicht zugehört. Sie stütze das Kinn auf die Handfläche und hing ihren Gedanken nach. Warum hatte sie die Zeichen übersehen? Wahrscheinlich wollte sie sie gar nicht wahrhaben. Es war alles so schön bequem und eingefahren. Warum also sich dagegen auflehnen?

Rüdiger war ihr Traumprinz gewesen. Groß, schlank, ein Bild von einem Mann. Sie war geblendet von seinem gepflegten Äußeren und seiner Klugheit. Aber manchmal ist Intuition nützlicher als Intelligenz. Doch sie ließ die Zweifel nicht an sich heran.

Sie führten ein Leben in Wohlstand. Jeder hatte seine Arbeit, seine Karriere und schon bald seine eigenen Interessen. Sie waren beide viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Mit der Zeit blieben auch die letzten Gemeinsamkeiten auf der Strecke. Und die Liebe auch.

Wenn eine Beziehung nicht mehr stimmt, dann genügt oft ein winziger Funke von außen, um alles in Asche zerfallen zu lassen. Am Ende hatten sie sich gegenseitig nur noch genervt und es war zu vieles geschehen, dass nicht hätte passieren dürfen. Irgendwann meinte er dann, es wäre richtiger sich zu trennen, bevor sie sich hassen würden. Eine schmerzliche Wahrheit wäre besser als eine tröstende Lüge, hatte er gesagt.

Sie stocherte lustlos in ihrem Salat.

Sie wollte keine Scheidung. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass es vorbei war. Liebte sie ihn noch? War es ihr Glaube an die Ehe? Nein, nichts von alledem, musste sie sich jetzt eingestehen, eher die Furcht vor dem, was danach kommen würde und das krampfhafte Festhalten an vertrauten Gewohnheiten. Außerdem konnte sie es nicht ertragen, verloren zu haben. Doch sein Koffer stand schon bei der anderen.

Jennifer hatte ihm ihre Ängste nicht gezeigt, gab sich bis zum Schluss beherrscht, stark und überlegen. Wie immer.

Zusammengebrochen ist sie dann erst bei ihren Freundinnen. Und wurde aufgefangen.

Karin wischte sich den Mund ab und legte die Serviette zusammengeknüllt auf den blitzblank leer gegessenen Teller und lehnte sich zurück. „Mm, das hat mir aber gut geschmeckt.“ Sie stieß Jennifer leicht an. „Hallo, Jenny, wir sind hier“, und holte sie in die Gegenwart zurück. „Nun zerbrich dir nur nicht deinen hübschen Kopf. Daran stirbt man nicht. Im Gegenteil. Sieh es als eine wunderbare Chance!“

Jennifer schob ihren Salat fast unberührt von sich.

„Ist es das wirklich?“ sie schüttelte zweifelnd den Kopf. Eine Haarsträne befreite sich vorwitzig aus seinem Halt und fiel ihr leicht gekringelt über die Augen. Das verlieh ihrem Gesicht für einen Moment einen ungewohnt weichen Zug. Sie strich die Haare nervös beiseite und versuchte mit fahrigen Händen, sie wieder fest zu stecken.

„Natürlich ist es das. Du kannst nichts Neues haben, wenn du das Alte nicht vorher in die Tonne haust.“ Bea gestikuliert wild mit den Armen. „Der Markt ist voll mit phantastischen Männern. Warte nur ein bisschen, dann wirst du sie auch wieder sehen. Und du wirst sie wollen! Wetten?“

Karin lächelte Bea spöttisch an. „Es geht doch nicht immer nur um die Kerle. Abgesehen davon, wo sind sie denn bloß alle, deine ach so herrlichen Männer? Warum hast du dir denn bis heute keinen von ihnen eingefangen?“

„Irgendwann küsse ich schon mal den richtigen Frosch, ihr werdet` s schon erleben.“ Bea schlug die langen schlanken Beine übereinander und betrachtete aufmerksam ihre knallroten Fingernägel.

„Im Durchschnitt ist eine Frau heute mit 12,7 Männern zusammen, ehe sie den richtigen trifft. Wenn ich das richtig sehe, dann habe ich statistisch gesehen durch eure Zurückhaltung noch den einen oder anderen gut.“

Ihre Freundinnen wussten, dass sich hinter ihren Affären nicht nur Abenteuerlust, sondern auch eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe verbarg, die sie aber bisher noch nirgends gefunden hatte. Sie erwartete einfach zu viel. Er sollte gut aussehen, intelligent, fürsorglich und treu sein. Ein toller Liebhaber natürlich, reichlich Geld haben, und eine gute Herkunft wäre auch nicht schlecht.

„Nun, du hast den Durchschnitt wohl auch so schon ganz schön hoch getrieben.“ Karin lachte. „Aber du wirst dich nie entscheiden können. Der Prinz, von dem du träumst, den gibt es auf dieser Welt nicht.“

Bea nahm eine Serviette und polierte ihre Fingernägel wie Brillengläser und grinste schelmisch. „Oh doch, Karin. Ein paar gibt es mit Sicherheit. Nimm doch nur mal Jennys Ex. Der war eigentlich ein Paradebeispiel. Okay, bis dieses viel zu junge, verhuschte Mäuschen kam und ihm den Kopf verdreht hat.“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, entschuldige Jenny, das war ganz blöd eben.“

Jenny winkte ab. „Ist schon gut. Meinetwegen kannst du ihn haben.“

„Oh nein, so verzweifelt bin ich dann doch nicht.“ Bea hob abwehrend die Hände. „Nein, nein. Der ist aus dem Rennen. Aber dein Martin, Karin, ein bisschen rund ist er ja, aber ansonsten… Vielleicht sollte ich es mal bei ihm versuchen?“

„Untersteh dich!“ Karin schlug lachend mit der Speisekarte nach ihr. „Such du dir mal schön deinen eigenen Frosch.“

Jennifer beugte sich über den unabgeräumten Teller hinweg zu Bea hinüber. „Fragt sich eben nur, wie lange der richtige Frosch tatsächlich auch der richtige bleibt. Manche werfen ihren Frosch immer und immer wieder an die Wand, in der Hoffnung, dass er ein Prinz wird und leben letztendlich eben doch nur mit einem ramponierten Frosch zusammen. Mir ging` s doch genau so, und jetzt küsst meinen jämmerlichen Frosch sogar noch eine andere.“ Jennifer nippte frustriert an ihrem Glas.

„Na besser jetzt als später“, meinte Bea. „Jetzt stehen dir noch alle Türen offen.“

Jennifer stellte ihr Glas derb auf den Tisch zurück.

„Unfug. Machen wir uns doch nichts vor, mit über vierzig. Welche Türen stehen dir da noch groß offen? Die Tür zur Küche, ja, die immer. Oder die zum Rheumaspezialisten…“

„Na, wenn er denn gut aussieht…“

„Nein, Bea, im Ernst, so ein Neuanfang kann toll und spannend sein, aber bitteschön vor dem Falten- und Fettzellenzeitalter. Wir können doch von Glück reden, dass wir `was auf dem Kasten haben und so den jungen Dingern wenigstens im Job noch das Wasser reichen können. Auf anderen Gebieten ist unser Zug doch längst abgefahren. Was soll da also noch kommen?“

„Na, sag` mal, so kenn ich dich ja gar nicht, das bist doch nicht du! Alt! Das würde ja bedeutet, ich wäre es auch. Oh nein, das geht gar nicht! Diesen Gedanke lasse ich gar nicht an mich heran. Alt ist immer fünfzehn Jahre älter als ich. Wirklich alt bist du erst,…“, Bea unterbrach ihren Satz als der Kellner kam, desinteressiert fragte, ob es geschmeckt hätte und abräumte.

„…wenn du in die Küche gehst und nicht mehr weißt, was du im Bad wolltest.“

„Oder wenn du nur noch die Wildecker Herzbuben hörst und dir dabei warm ums Herz wird.“ Karin schlug sich unerwartet auf ihre Seite. „Jenny, es gibt zigtausend Beispiele dafür, dass es nie zu spät dafür ist, wieder glücklich zu werden, auf welche Art auch immer. Natürlich, die beste Zeit einen Baum zu pflanzen war vor zwanzig Jahren. Aber die zweitbeste ist jetzt.“

Jennifer und Bea sahen sie überrascht an.

„Der ist nicht von mir. Das haben die alten Chinesen gesagt. Aber sie haben doch Recht. Oder?“

„Na sag ich doch. Ob man nun einen Baum pflanzen will oder nicht“, Bea malte sich die Lippen nach, „du hast allen Grund dich auf die Zukunft zu freuen. Du siehst klasse aus, hast einen tollen Job und dein Ex muss ordentlich löhnen. Bluten soll er, der Kerl. Das ist doch eine prima Ausgangsposition.“ Sie steckte den Lippenstift zurück in ihr Täschchen.

„Was heißt hier bluten?“ griff Karin ein bevor Jennifer etwas sagen konnte. „Jenny hat in all den Jahren schließlich genug gerackert für das, was sie jetzt haben. Außer einem gut bezahlten Job hat er doch auch nicht viel mehr mit in die Ehe gebracht. Da ist es ja wohl nur recht und billig, dass alles Halbe-Halbe geht.“

„Schade ist es schon um das schöne Haus“, sinnierte Jennifer. Als Rüdiger ihr das Haus das erste Mal gezeigt hatte, erschien es viel zu groß, zu protzig. Darüber hinaus lag es so weit draußen, fast schon ländlich. Aber er wollte es unbedingt.

Sie sah sich unter den großen Kastanien entlang auf die Altberliner Villa zugehen. Gott, wie hat sie das viele Laub gehasst. Jeden Herbst wieder. Immer stand sie allein mit der Arbeit da. Und mit den Schwielen an den Händen. Rüdiger hatte stets so viel Wichtigeres zu tun. Aber im Frühling, wenn die Bäume so traumhaft blühten, dann vergaß sie all das für kurze Zeit.

Sie sah sich die paar Treppenstufen rauf und an den beiden Säulen vorbei durch die breite Eingangstür gehen.

Im Laufe der Zeit lebte sie sich ein und akzeptierte es als ihr zu Hause. Der Gedanke wegzuziehen, erfüllte sie jetzt ein wenig mit Wehmut. Ihr vertrautes Leben zerbröckelte unter den Händen.

„Aber ich würde da auch nicht bleiben wollen. Ich kann die Vergangenheit um mich herum nicht mehr ertragen.“

Jennifer war sich nicht darüber im Klaren, ob es die Erinnerung an die schönen Momente war, vor denen sie sich fürchtete oder doch eher der Wunsch, sich von all den Hässlichkeiten der letzten Zeit zu trennen. Viel mehr setzte ihr wohl der eigene verletzte Stolz zu, der sich wie ein großer Schatten scheinbar von jeder der Zimmerwände herablassend auf sie nieder senkte und wie ein Krake mit seinen langen Armen umschlang, dass ihr oft die Luft weg blieb. In den Nächten war es am schlimmsten.

„Und ich glaube auch nicht, dass seine Neue mit meinem Geist in einem Haus tanzen möchte.“ Jennifer verschluckte sich fast bei dem Gedanken. „Eigentlich weiß ich noch gar nicht, was ich will, wohin ich will. Ich fühle mich so zerrissen, so unsicher und allein.“ Hilflos sah sie ihre Freundinnen an.

„He, du hast uns!“ Karin und Bea rückten näher an sie heran. „Das stehen wir zusammen durch. Und wenn du es dort nicht aushältst, bei uns ist jederzeit Platz für dich, bis du was Eigenes gefunden hast. Das weißt du.“

Bea griff nach der Flasche. „Na komm, darauf noch ein Gläschen Sekt.“

Jennifer guckte auf ihre Uhr und fuhr erschrocken auf, so dass ihr Stuhl nach hinten weg kippte.

„Oh Gott, schon so spät. Ich muss zurück in die Redaktion. Der Alte reißt mir den Kopf ab, und das kann ich gerade gar nicht gebrauchen.“ Sie merkte, dass einige der anderen Gäste ihren Aufbruch aufmerksam beobachteten. Automatisch setzte sie ihr unterkühltes Lächeln auf, ihr Körper straffte sich. Immer schön den Schein wahren. Es ging niemanden etwas an, wie es in ihr drinnen aussah. Keinen, außer ihren Freundinnen.

„Wir sehen uns am Wochenende. Ihr könnt mir dann vielleicht ein bisschen beim Packen helfen.“ Sie legte Geld auf den Tisch und umarmte ihre Freundinnen.

„Und danke, dass ihr so lieb und geduldig mit mir seid“, fügte sie leise hinzu.

Mit traumwandlerischer Sicherheit ging sie unter den neugierigen Blicken der Leute an den Nebentischen stolz erhobenen Hauptes zum Ausgang.

An der Tür drehte sie sich kurz um und winkte ihren Freundinnen noch einmal zu, bevor sie das Café verließ.

Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen. Es hatte aufgehört zu schneien. Sie verharrte einen Moment unter dem geschützten Hauseingang und zog ihren Mantel fester um sich. Dann hob sie ihr Gesicht zu der bläulichen Sonne hoch und atmete tief durch. Nur eine einzige Wolke war zu sehen, allein wie sie selbst.

Jennifer konnte sich später nicht mehr erinnern, wie sie es geschafft hatte, die viel befahrenen Kreuzungen unbeschadet zu überqueren, die richtige S-Bahn zu erwischen und heil im Büro anzukommen. Verschwommene Gestalten huschten im grauen Zwielicht an ihr vorbei, Menschen, die wie sie beschlossen hatten, wieder einen Tag unter der Last ihres Lebens zu leiden, statt es mit Leichtigkeit zu nehmen, wie es war. Im Grunde fehlten die ganzen folgenden Tage in ihrem Gedächtnis. Hatte sie überhaupt gearbeitet, gegessen und geschlafen? Gelebt? Ein dichter Nebel lag über dieser Zeit.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte vor sich hin. Jeder ihrer halbherzigen Versuche, sich zu konzentrieren schlug fehl. So war es ihr noch nie ergangen. Bisher konnte doch nichts sie umhauen.

Kaffee! Sie brauchte unbedingt einen heißen Kaffee. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt bediente sie den Automaten auf dem Flur.

Ihre Kolleginnen schielten zu ihr hinüber und tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, aber Jennifer schien es nicht wahrzunehmen. Tief in ihre Gedankenwelt versunken ging sie zurück in ihr Büro. Mit dem Kaffeebecher in beiden Händen schaute sie aus dem Fenster und verfolgte die fliehenden Wolken am Himmel.

Es klopfte an den Rahmen ihrer stets offenen Tür und ihr Chef, Richard Wedekind, kam, ohne auf ihre Antwort zu warten, mit großen Schritten zu ihr an den Schreibtisch. Erst da erwachte sie aus ihrer Lethargie. Sie erschrak heftig und ihr Kaffee kippte fast um, als sie hektisch zu irgendwelchen Unterlagen griff, die auf ihrem Tisch lagen, als wäre sie intensiv mit deren Bearbeitung beschäftigt.

„Frau Dorn“, er sah ernst auf sie herab, „kommen Sie doch nachher bitte in mein Büro. Ich denke, wir sollten uns einmal in Ruhe unterhalten.“ Er sprach die Worte wie immer mit Bedacht besonders langsam und deutlich. Er hüstelte. „Um Fünfzehn Uhr. Das würde gut passen.“ Er ging zur Tür. „Und seien Sie pünktlich.“

Wie oft hatte sie sich über seine Behäbigkeit und überdimensionale Korrektheit, besonders wenn es um Termine ging amüsiert, manchmal auch aufgeregt. In diesem Moment fühlte sie die nackte Angst ihren Rücken hinauf kriechen. Was, wenn sie ihren Job auch noch verlieren würde?

Sie liebte ihre Arbeit als Reisejournalistin, und sie war gut. Das wusste sie. Aber ihr war plötzlich auch klar, dass sie in den letzten Wochen zwar physisch anwesend, aber mit ihren Gedanken doch nicht wirklich da gewesen war. Aber deswegen entließ man doch niemanden? Sie fühlte die Panik wie eiskalte fremde Hände auf ihrer Haut.

Wedekind war streng, aber gerecht, stand hinter seinen Mitarbeitern und forderte nie mehr von ihnen, als er sich selbst abverlangte. Aber auch nicht weniger. Er war eine Arbeitsmaschine, und als solche betrachtete er alle anderen auch. Das kam Jennifer gelegen. Ihr Privatleben ging niemanden hier etwas an, genau so, wie sie das der anderen nicht kennen wollte. Sie hielt stets eine gewisse Distanz zu ihren Kolleginnen, war freundlich und hilfsbereit, wenn es um die Arbeit ging, aber nie privat. Alle hier hielten es so. Sie waren Arbeitsmaschinen.

Wie sollte da auch nur einer von ihnen Verständnis für ihren momentanen Zustand haben? Hätte sie es denn im umgekehrten Fall?

Jennifer ging zum Fenster und öffnete es weit. Die frische kalte Luft drang tief in ihre Lunge ein und sie hatte das Gefühl, etwas klarer denken zu können. Aber sie konnte sich nach wie vor nicht vorstellen, was Wedekind ihr zu sagen hätte. Nein, raus schmeißen würde er sie nicht. Abmahnen vielleicht. Okay, damit musste sie leben. Wurde auch Zeit, dass jemand ihr ein bisschen Feuer unterm Hintern machte. Sie ärgerte sich selbst genug über sich. Normaler weise billigte sie sich keine Schwächen zu. Schwach waren nur andere. Dieses Gefühl, wie gelähmt zu sein, kannte sie nicht, und sie wusste nicht, wie sie mit dieser für sie neuen Situation umgehen sollte.

Sie schloss fröstelnd das Fenster.

Ihr Kaffee war inzwischen kalt geworden. Sie hasste kalten Kaffee. Aber sie hatte keine Zeit mehr, frischen zu holen. Wedekind erwartete sie.

Wedekind schaute auf seine wertvolle alte Taschenuhr und nickte kaum erkennbar. Er gab Jennifer ein Zeichen, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf die vorderst Stuhlkante und knete nervös ihr Taschentuch zwischen den Händen. Sie, die sonst so selbstbewusst jedem entgegentrat, keinen Blickkontakt scheute, traute sich jetzt kaum, ihren Chef anzusehen.

Wedekind lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete die Hände über dem Bauch und blickte Jennifer forschend an.

„Ihre Kolleginnen machen sich Sorgen um Sie, und auch ich habe sie beobachtet, Frau Dorn. Mir scheint, Sie haben eine schwere Last, die Sie da gerade mit sich herum tragen.“ Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch legte die Fingerspitzen aneinander.

Jennifer fühlte sich überrumpelt. Was wollte Wedekind? Mit ihr über ihre Sorgen reden? Sie verstand die Welt nicht mehr.

Wedekind drückte den Knopf der Wechselsprechanlage. „Frau Schulze, bitte bringen Sie uns Kaffee.“ Er wendete sich Jennifer zu, „Milch und Zucker?“

„Nein danke, schwarz“, antwortete Jennifer leise, immer noch irritiert, „ohne alles.“

„Also, Frau Schulze, einmal davon schwarz.“ Er machte eine kurze Pause. „Schwarz, ohne alles“, fügte er dann belustigt hinzu.

Jennifer sah ihn überrascht an. Sie glaubte nicht, sich erinnern zu können, ihn je lächeln gesehen zu haben. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Nein, er würde ihr nicht kündigen. Was auch immer er wollte, es konnte so schlimm nicht werden, solange sie bleiben durfte.

Einen Moment herrschte Schweigen. Wedekind hatte sich wieder zurück gelehnt und musterte Jennifer.

Erst als Frau Schulze den Kaffe gebracht und das Büro wieder verlassen hatte, sprach er weiter.

„Frau Dorn, Sie wissen, dass Sie eine meiner besten Mitarbeiterinnen sind. Was allerdings Ihre Stellung hier in unserem Team betrifft“, er räusperte sich und strich mit der Hand das Kinn, wie immer, wenn er sehr konzentriert war, als suchte er nach dem richtigen Wort, „nun ja, also, da weiß ich nie ganz, was ich davon halten soll.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Wedekind.“ Es war nur ein Flüstern. Jennifer hatte keine Ahnung, worauf dieses Gespräch hinauslief, und das verunsicherte sie noch mehr.

„Nun entspannen Sie sich doch erst mal. Sie sind ja nur noch ein Schatten Ihrer selbst.“ Wedekind stand auf und ging zum Wandschrank. Er goss golden schimmernden Cognac in einen edlen Schwenker und reichte ihn ihr.

„Hier, nehmen Sie. Sie werden sehen, der wärmt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.“ Er setzte sich wieder. „Und ich denke, die ist es, die Ihnen zu schaffen macht.“

Jennifer war perplex. Seit wann interessierte sich Wedekind für ihre Seele? Hat er überhaupt je gewusst, dass sie und ihre Kolleginnen eine hatten?

Sie hielt sich an dem Glas fest wie an einem Rettungsanker.

„Na ja“, sie schluckte heftig, „ich habe gerade eine“, sie stockte wieder, unschlüssig darüber, was sie preisgeben wollte, „ich habe tatsächlich momentan ein paar Probleme.“ Nun war es raus. „Aber die sind rein privater Natur“, ihre Stimme schien sich zu überschlagen, „und ich weiß, es ist unverzeihlich, dass meine Arbeit darunter leidet“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie nahm schnell einen Schluck. „Aber es geht mir wieder gut. Sie können sich auf mich verlassen.“ Sie spürte, wie der Cognac sich seinen Weg durch ihren Körper bahnte und sie etwas ruhiger wurde.

„Ich weiß, dass Sie gerade geschieden worden sind.“

Jennifer riss vor Überraschung die Augen weit auf. „Sie wissen?“ Sie konnte nicht weiter sprechen und ihr ganzer Körper verkrampfte sich.

„Wo Informationen fehlen, Frau Dorn, entstehen Gerüchte. Sie kennen mich, ich liebe Klarheit. Also habe ich mich informiert.“

Jennifer wäre am liebsten im Erdboden versunken. Nun war genau das eingetroffen, was sie immer vermeiden wollte. Ihr Privatleben war öffentlich geworden. Aber warum machte Wedekind sich Gedanken um sie? Warum ihre Kolleginnen? War sie womöglich die einzige im Büro, die…, auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es war doch mehr als nur die Arbeit, die alle hier verband, nur sie selbst hatte sich nie für die anderen interessiert. Wie sehr mussten ihre Kolleginnen sie verachten.

„Frau Dorn, keine Angst, ich will hier nicht in Ihr Leben eindringen“, seine Stimme wurde ungewöhnlich sanft, „keiner von uns will das, aber erlauben Sie einem alten Mann, Ihnen zu sagen, so ist das Leben nun mal. Es besteht nicht nur aus Höhen. Pausenloses Wohlgefühl gibt es nicht, auch nicht in einer Partnerschaft.“

Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Sicher, mit jedem neuen Lebensabschnitt wird es Dinge geben, die unwiederbringlich vorbei sind. Aber dafür kommen Neue, nicht weniger Schöne.“

Jennifer guckte auf ihre Schuhspitzen. „Es ist so schwer, nach fast dreißig Jahren vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Ich bin nicht mehr gut genug. Ist das nicht der Anfang vom Ende?“ Sie schluckte heftig.

„Na, na, nun aber mal langsam. Niemand, wirklich niemand kann Ihnen ein Minderwertigkeitsgefühl einreden ohne Ihre Einwilligung. Wo ist Ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein geblieben?“ Wedekind setzte seine Brille wieder auf, kam um den Schreibtisch herum und legte Jennifer die Hand auf die Schulter. „Das Leben ist ein ununterbrochener Abschiedsprozess. Aber es ergeben sich daraus oft ungeahnte Möglichkeiten.“

„Das haben meine Freundinnen auch gesagt“, schluchzte Jennifer.

Wedekind blickte freundlich auf sie herunter. „Heute glauben Sie noch, der Schmerz wird Ihnen den Verstand rauben, aber das einzig Gute am Schmerz ist nun mal, dass er irgendwann nachlässt. Vielleicht wachen Sie schon morgen auf, und es ist ausgestanden und vorbei.“

Jennifer heulte los. Das unerwartete Mitgefühl ließ sie jede Kontrolle über sich verlieren.

Wedekind schob ihr ein Paket mit Taschentüchern hin und wartete.

Als hätten die Tränen ihren Blick geklärt, sah Jennifer auf einmal alles wieder deutlich. Sie schnaubte geräuschvoll in ihr Taschentuch.

Wedekind schmunzelte zufrieden.

„Na sehen Sie, nun sieht die Welt doch schon wieder ein bisschen heller aus. Ich hab` mir gedacht, Sie sollten vielleicht, wenn Sie das aktuelle Projekt abgeschlossen haben, ein paar Tage Urlaub machen? Arbeiten Sie nicht gerade an einem Ostseebericht? Fahren Sie doch mal dort hin. Lassen Sie sich so richtig vom Sturm durchpusten. Das soll Wunder wirken.“ Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.

Jennifer nickte zaghaft. „Ich werde darüber nachdenken.“

Wedekind hatte unbewusst eine tief in ihrem Innern versteckte Sehnsucht geweckt.

„Ich war als Kind oft an der Ostsee“, sagte sie zögernd, als scheute sie sich noch, darüber zu reden. „Ich bin dort geboren“, fügte sie leise hinzu.

Bilder aus der Kindheit tauchten vor ihren Augen auf. Sie sah das Haus mit dem Schilfdach und den bunten Fensterläden, in dem es immer nach Kakao und frisch gekochter Marmelade roch. Ihre Oma stand lachend mit Erdbeeren aus dem Garten in der Tür, und Opa, in seiner Schafwollstrickjacke, streichelte die Kaninchen. Ein verträumtes Lächeln zog für Sekunden über ihr Gesicht.

„Ach ja?“ Wedekind wurde hellhörig. „Wo denn da?“

„In Prerow. Auf dem Darß“, entgegnete Jennifer, in Gedanken weit weg. Das Bild in ihrem Kopf blieb. Wie hieß ihr kleiner geliebter Kater noch? Kasimir. Natürlich.

„In Prerow, mm, das ist ja sehr interessant“, sagte Wedekind nachdenklich und rieb sich wieder das Kinn, „aber“, und er winkte ab, „erholen Sie sich erst mal. Hören Sie auf meinen Rat, machen Sie Urlaub. Ja, fahren Sie nach Prerow.“

Jennifer stand auf und reichte Wedekind die Hand. „Vielleicht haben Sie Recht.“ Sie schwieg einen Moment verlegen.

„Und danke. Für alles.“ Sie ging zur Tür.

Wedekind sah ihr hinterher. „Vergessen Sie nicht“, Jennifer drehte sich noch einmal zu ihm um, „wir sind für Sie da, wenn Sie uns brauchen.“

Als sie in ihr Büro kam stand ein heißer Kaffee für sie bereit. Schwarz, ohne alles.

Es gab Zeiten, da hatte Jennifer sich nicht vorstellen können, sich je an dieses dunkle Haus zu gewöhnen, an Fenster, die ihr wie tote Augen entgegen starrten und Bäume, die mit ihren herunter hängenden Ästen nach ihr griffen, wenn sie abends müde von der Arbeit kam. Am Anfang war Rüdiger häufig vor ihr zu Hause gewesen. Er konnte sich seine Zeit einteilen. Mit den Jahren kam er immer öfter spät, irgendwann sehr viel später, bis er ganz weg blieb.

Nachdenklich blieb sie an der Gartenpforte stehen und musterte das Haus. Die ersten Wochen nach Rüdigers endgültigem Auszug erschien es ihr bedrohlich und erschreckend. Es kostete sie sehr viel Überwindung, nicht einfach umzudrehen und bei Bea oder Karin Zuflucht zu suchen. Aber sie kämpfte dagegen an. Das war die Zeit, in der ununterbrochen Licht in allen Räumen brannte. So versuchte Jennifer, die Geister der Einsamkeit zu verscheuchen. Mit mäßigem Erfolg.

724,51 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
420 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783954889624
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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