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Drei oder vier Tage nach unserer Begegnung sah ich Evelyne wieder. Ich hatte sie angerufen, um meinen Mantel zurückzubekommen, und wir verabredeten uns für den späten Nachmittag im Café an der Rue du Petit-Musc. Ich ging nach den Vorlesungen erst nach Hause und streifte mir ein hellblaues Hemd über, das besser zu ihrem Stil passte. Danach machte ich einen Umweg, um Zigaretten zu kaufen, und da sah ich sie an der Ecke zur Rue Saint-Antoine. Evelyne hielt ungefähr auf der Höhe ihrer Schulter einen Kleiderbügel in der linken Hand. Sie trug eine Stoffhose und einen beigefarbenen Regenmantel. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit trotz des Winds, der die weiße Hülle aufbauschte. Es sah aus, als würde sie mir ein Signal, einen Notruf aussenden, wie eine weiße Flagge, die am Horizont flatterte. Ich folgte ihr langsam aus einiger Entfernung, bis sie das Café betrat, ohne dass ich wagte, sie anzusprechen, sie hatte mir, als ich sie zum ersten Mal sah, nicht gesagt, wie sie hieß, und auch am Telefon nicht. Als ich sie so beobachtete, fiel mir auf, dass das Café sich in einem einstöckigen Haus befand, was eher an eine kleine Provinzstadt denken ließ.

Ich trat ein und ging auf Evelyne zu, sie hatte sich im großen Raum mit dem Rücken zur Wand hingesetzt, unter die Porträts des Mannes und der Frau aus den fünfziger Jahren. Mein Mantel lag ausgebreitet neben ihr auf der Bank. Ich hatte das Gefühl, ich sei noch nie in diesem Café gewesen, so anders war die Atmosphäre hier als in dieser Ecke, wo der Flipperkasten fast den ganzen Raum einnahm. Obwohl es draußen bereits dunkel war, war es hier heller, und das Geschirrklappern hinter dem Ausschank, die Gespräche ringsum vermittelten mir nicht das übliche Gefühl der Einsamkeit. Als ich sie begrüßte, antwortete sie kaum; sie beeilte sich zu sagen, der Flecken sei rausgegangen.

Evelyne bestellte ein Glas Rotwein und rief dem Kellner mit einem zwinkernden Seitenblick auf mich zu:

»Ich hoffe, heute wird er es nicht verschütten!«

Sie schien nicht sehr oft hierherzukommen, denn der Kellner zog ein schiefes Gesicht, als hätte er die Anspielung auf das Missgeschick ein paar Tage zuvor nicht verstanden.

»Für mich dasselbe«, sagte ich.

Der Kellner hatte auf dem Hals, hinter dem Ohr, eine blaue Tätowierung, ein leicht gebogenes Kreuz, das sich jedes Mal wellte, wenn er sich an einen Kunden wandte, um die Bestellung aufzunehmen.

Ich war überrascht, dass Evelyne etwas Zeit mit mir verbringen wollte. Sie hatte mich das letzte Mal ignoriert, in ihrer Zeitschrift gelesen, und als sie darauf beharrte, sich um die Reinigung zu kümmern, war ihr Ton herablassend. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie zu dem Treffen erscheinen würde, sie hätte den Mantel auch an der Theke abgeben und nie wieder herkommen können.

Ich hatte viel an sie gedacht seit unserer Begegnung im Café, aber da ich ihren Namen nicht kannte, war sie mir nur verschwommen im Gedächtnis geblieben, etwas unwirklich, wie die Leute auf den Visitenkarten. Ich hatte das Metroticket mit ihrer Telefonnummer in das durchsichtige Fach meines Portemonnaies geschoben, und wenn ich es öffnete, überprüfte ich, ob Evelynes Nummer wirklich draufstand, um mich zu vergewissern, dass ich nicht geträumt hatte. Ich konnte die Nummer schließlich auswendig, als wäre sie ein unsichtbarer Faden, den ich aufgreifen konnte, um in Gedanken mit ihr in Verbindung zu treten. Nach unserer ersten Begegnung hatte ich mehrmals geglaubt, sie im Viertel zu sehen. Evelyne war so präsent in mir, dass ich ihr Gesicht auf unbekannte Frauen projizierte, die ich auf der Straße sah, bis ich merkte, dass ich mich getäuscht hatte. Ich hatte sogar geglaubt, sie in einem Film zu sehen, der im Fernsehen lief. Die Schauspielerin hatte einen kleinen Auftritt, eine junge Frau, die an einer Ampel abgesetzt wird und den Fahrer durch die halb offene Scheibe lässig fragt: »Hast du vielleicht einen Hunderter für mich?« Es dauerte nur einen kurzen Moment, ich war nicht sicher, ob sie es war. Vielleicht war es Aurore Clément, von der sie mir später irgendwann erzählte, dass sie oft mit ihr verwechselt wurde. Evelyne hatte mehrmals Autogramme gegeben in ihrem Namen. Obwohl sie gegen das Lachen ankämpfte, musste sie sich konzentrieren, um bei der Widmung nicht ihren eigenen Namen zu schreiben.

Evelyne sprach in heiterem Ton, und ich dachte, dass sie genauso einsam war wie ich, dass sie jemanden brauchte, an dem sie sich festklammern konnte. Sie sprach von dem letzten Film, den sie im Kino gesehen hatte, und erzählte mir dann von einer Reise, auf der sie in der Mailänder Scala ein Sinfoniekonzert mit Musik von Respighi besucht hatte. Es war das erste Mal, dass ich den Namen dieses Komponisten hörte, und ich wagte nicht zu fragen, ob er noch lebte. Vor zwei Jahren hatte sie ein Schuljahr lang eine Stellvertretung in Cannes gemacht und die freie Zeit genutzt, um die Côte d’Azur entlang und durch Norditalien zu reisen. Sie liebte diese Gegend. Ich konnte kaum meine Sätze beenden, hatte sie schon das Thema gewechselt, und manchmal ließ sie zwischen uns lange Pausen entstehen. Dann hatte ich das Gefühl, ihr noch besser zuzuhören, so als hätten wir schweigend am meisten miteinander zu teilen, als sagte sie mir so, was sie nicht in Worte fassen konnte. Ich betrachtete sie, während sie das Gespräch anführte. Evelyne hatte blaue Augen, und ihre leicht abstehenden Ohren waren hinter den offenen Haaren versteckt. Wenn sie nicht lächelte, gaben ihr die Mimikfalten um die Mundwinkel einen ernsten und traurigen Ausdruck.

Als sie erfuhr, dass ich im ersten Jahr Jura studierte, zeigte sie sich überrascht, dass ich so jung war.

»Witzig. Ich war mir sicher, Sie würden Klassenarbeiten korrigieren, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. In Ihrem Alter kommt einem das Leben noch unendlich vor, und mit fünfunddreißig scheint es bereits so kurz. Man hat den Eindruck, etwas verpasst, nicht die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben.«

Und dann fügte sie hinzu, indem sie als Zeichen des Vorwurfs leicht das Kinn anhob:

»Sie werden den Frauen noch viel Kummer bereiten. So sind die Anwälte!«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »werde ich bei den Jahresprüfungen bestimmt durchfallen.«

Und wir mussten beide lachen. Ich war genauso überrascht wie sie über meine Kühnheit; vielleicht hatte sie sich in diesem Moment nur über mich lustig gemacht. Sie hatte ein derbes, ansteckendes Lachen, das im Gegensatz stand zu ihrer sehr femininen Art, sich aufrecht zu halten, mit gereckter Brust, und zur Sorgfalt, die sie auf ihr Äußeres legte.

Evelyne kümmerte sich nicht um die Leute im Café, die uns beobachten könnten. Beim Eintreten hatte ich nur die Stammgäste an der Theke bemerkt. Sie schaukelte ihren Fuß unter dem Tisch, sodass ihr Anhänger regelmäßig an den Knopf ihrer Bluse schlug. Ich bekam Lust, die Halskette zwischen ihren Brüsten zu packen, damit dieses unangenehme Hin und Her aufhörte, ich stellte mir vor, dass sie sich zu mir beugte und ich die Strähne von ihrer Wange strich, um sie zu küssen. Sie gefiel mir, sie war anders als die Mädchen, mit denen ich in Antibes zusammen gewesen war. Es ging von ihr eine Kraft und gleichzeitig eine große Zerbrechlichkeit aus. Für Momente ging sie mir auf die Nerven, sie hatte dieses lässige, etwas unechte Gehabe, das mir schon beim ersten Mal aufgefallen war, so als versuchte sie ihre Bedrücktheit zu überspielen. Doch die Zerbrechlichkeit, gegen die sie ankämpfte, kam im Laufe des Gesprächs nach und nach wieder zum Vorschein. Evelyne wurde weniger redselig, sanfter, und strich mit dem Ende der verglimmenden Zigarette über den Rand des Aschenbechers, um meinem Blick auszuweichen. Ich hätte gerne ihre Hand genommen, damit sie mit dieser Manie aufhörte. Es schien mir, dass Evelyne sich in ihre Gedanken flüchtete, dass sie, während sie mit ihrer Zigarette spielte, identische Kreise in sich selbst zeichnete, die kleiner und kleiner wurden, und sich darin einschloss. Wenn ich sie zum Lachen brachte, hörte sie auf, mich auf Distanz zu halten, und ich wollte, dass sie noch mehr, noch heftiger lachte. Während ich sie beobachtete, spürte ich noch immer das gewohnte lastende Gefühl auf der Brust, aber es war nun nicht mehr so feindselig, wir mussten es nur mit unserem Lachen übertönen.

»Ich bin erst vor Kurzem nach Paris gezogen, ich wohne in einer kleinen Wohnung gleich hier um die Ecke«, sagte ich, indem ich mit der Hand Richtung Rue de la Cerisaie zeigte. »Die Straße ist ruhig, gut zum Arbeiten.«

Ich wagte sie nicht zu fragen, ob sie im selben Viertel wohnte. Ich hoffte, dass Evelyne mir ihre Adresse verriet, für den Fall, dass sie mir nicht vorschlagen sollte, uns wiederzusehen. Trotz meiner Angst, mich zu verirren, sah ich mich bereits durch die Straßen ihres Viertels streifen, um sie zufällig zu treffen und dabei einen Termin in der Gegend vorzutäuschen. Ich hatte Lust, mich auf ihre Suche zu begeben, so wie ich für die Suche nach mir selbst nach Paris gekommen war. Ganz sicher würde dieses Unbehagen verfliegen, wenn ich mit der Gewissheit, sie bald wiederzusehen, durch die Stadt gehen könnte.

»Sie wirken sehr seriös auf mich, scheinen jemand zu sein, der sich Gedanken um seine Zukunft macht«, sagte Evelyne zu mir.

»Ich habe nichts anderes zu tun, als zu studieren, und außerdem kenne ich niemanden hier, abgesehen von einer alten Cousine. Ganz allein ist es nicht so einfach, sich zu amüsieren, meinen Sie nicht?«

War es die leichte Beschwipstheit, die mich dazu brachte, so ungezwungen mit ihr zu sprechen, oder die Aufgeregtheit, die bei mir die Gegenwart einer solch verführerischen Frau auslöste? Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte ihr gefallen, und die Situation war so seltsam, dass ich selbst überrascht war über meine Unerschrockenheit, so als wäre ich in einem Traum und keines meiner Worte könnte nach dem Erwachen gegen mich verwendet werden.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, arbeiten Sie so viel, weil Sie noch keine Freunde gefunden haben? Und Sie haben neben Ihrem Studium noch keine Ablenkungen gefunden, die Ihnen lohnenswert erscheinen, das meinen Sie?«, fragte sie, während ich mein Feuerzeug ihrem Gesicht näherte, um ihre Zigarette anzuzünden.

»Genau. Seit ich in Paris wohne, habe ich den Eindruck, dass das ganze Leben so abläuft. Und dass wir alle ohne Kühnheit leben.«

Sie nickte, und wir schwiegen eine Weile, zwangen uns zu einem Lächeln, als ein amerikanisches Paar sich an den Nebentisch setzte. Sie waren um die zwanzig und trugen beide ein Jeanshemd. Der Mann hatte einen Stadtplan vor sich ausgebreitet, den er mit seinem Stift bekritzelte, er markierte die Orte, die sie besichtigt hatten, mit einem Kreuz. Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen: zwei Cola und eine Portion Pommes frites für zwei.

»Sprechen Sie gut Englisch?«, fragte mich Evelyne.

»Nicht wirklich. Ich komme aus Antibes und brauche es nur im Sommer, wenn die Touristen an die Côte d’Azur kommen und nach dem Weg fragen.«

Als die Amerikanerin die Hand ihres Verlobten streichelte, holte mich meine Schüchternheit wieder ein, und das Gefühl der Trunkenheit, das mich bisher getragen hatte, war wie verflogen. Ich spürte ein gewisses Unbehagen neben diesem Paar, das seine Intimität zur Schau stellte, während Evelyne und ich uns kaum kannten. Bin ich mit ihr zu weit gegangen, wenn ich nicht einmal fähig war, anders als in Gedanken, ihre Hand zu nehmen? Sie studierten den Plan, der Mann führte die Spitze des Kugelschreibers über die Wege, die sie wohl gegangen waren, indem er wie bei einem Malbuch achtgab, nicht über den Rand zu geraten. Evelyne und ich konnten unseren Lachanfall kaum unterdrücken, als wir den Akzent hörten, mit dem sie die Straßennamen aussprachen, so als befänden sie sich in einem imaginären Paris.

Der junge Mann unterbrach uns mit der Bitte, sie zu fotografieren. Er streckte mir mit verschwörerischer Miene die Kamera entgegen, er dachte wohl, wir seien ein Liebespaar im selben Alter wie sie. Jetzt, da Evelyne nicht mit ihrem Sohn zusammen war, kam sie mir wie eine Studentin vor, leicht und unbekümmert. Sie musste sehr jung Mutter geworden sein, und vielleicht machte es ihr deshalb Spaß, mit einem Achtzehnjährigen zusammen zu sein, so als könnte sie in falscher Reihenfolge leben und wieder zu einer Studentin im ersten Jahr werden. Ich stellte mich in die Mitte des Raums, um den besten Winkel zu finden. Die Amerikaner hielten sich um die Schultern, der Pommes-Teller, den der Kellner auf den Pariser Stadtplan gestellt hatte, war aufgegessen. Durch das Objektiv beobachtete ich Evelyne zu ihrer Rechten. Sie war im Profil und betrachtete die Bilder an der Wand, während sie mit ihrem Anhänger spielte, was das Bild etwas leer aussehen ließ, ohne Vordergrund, vor allem weil der Arm des jungen Mannes abgeschnitten war. Doch statt das Objektiv auf das Paar zu richten, drückte ich auf den Auslöser im Gedanken, dass auf diese Weise eine Spur von dem Augenblick, den ich mit Evelyne teilte, auf dem Film dieses Fotoapparats erhalten bleiben würde.

Als sie fünf Minuten später das Café verließen, winkten sie uns hinter der Scheibe herzlich zu. Sie würden in zwei Tagen, hatten sie uns in einem holperigen Französisch erklärt, nach Denver, Colorado, zurückkehren.

Evelyne beugte sich zu mir vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange, um gleich wieder in den schäkernden Ton unseres Gesprächs zu verfallen. Dann imitierte sie den strengen Ton, mit dem die junge Frau sich an ihren Verlobten gerichtet hatte:

»It’s simple, honey. Here we are at the Rjuu du Petite-Mjusc«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den Tisch.

Ich brach in Lachen aus, während sie wegen des Blitzlichts des Fotoapparats noch immer die Augen zukniff.

Ich weiß nicht, warum Evelyne mir so gefallen hat, ich hätte sie genauso gut nicht ausstehen können. Sie war nicht natürlich und versuchte sich als jemand anders auszugeben. Diejenige, die ich liebte, war die entspannte junge Studentin, die in dem Café schallend loslachte, ich fühlte mich aber auch von dieser Frau mit der eleganten Erscheinung angezogen. Wahrscheinlich fehlte es ihr, wenn sie so viel Mühe auf ihr Äußeres verwendete, an Selbstvertrauen. Manche Aspekte ihrer Persönlichkeit, die in mir jeder anderen gegenüber Antipathie ausgelöst hätten, zogen mich bei ihr an: ihre frivole Art, ihre Vorliebe für Luxuskleider, ihr leicht mondäner Tonfall, in dem sie die Sätze betonte, und der italienische Akzent, mit dem sie die Titel von Respighis Werken aussprach, die sie in Mailand gehört hatte. Noch nie war ich mit einer solch starken Präsenz konfrontiert gewesen, bestimmt, weil Evelyne älter war als ich. Ich war in dem Café euphorisch wie nach einer Anästhesie, die mich vergessen ließ, dass ich mir selbst überlassen war. Und während ich mich weigerte, mich unter die anderen Erstsemester zu mischen, und in der Einsamkeit jene Verbindung suchte, die mich mir selbst näherbrachte, wünschte ich mir jetzt im Gegenteil, mit ihr zusammenzubleiben, die Gewissheit zu haben, sie am nächsten Tag wiederzusehen. Ich hing an ihren Lippen in dem Bedürfnis, sie kennenzulernen, wollte sie aber auch über das erfassen, was sie durchscheinen ließ, wenn sie nicht sprach. Zeitweise kam es mir vor, als hätte ich selbst die Sätze gesagt, die sie äußerte, so sehr versuchte ich, Teil ihres Lebens zu werden.

Evelyne war Klavierlehrerin und sollte bald eine Stelle in einem Gymnasium im Vallée de la Bièvre antreten, wo ihr eine Dienstwohnung zur Verfügung stand. Es machte ihr Angst, Paris mit der Banlieue zu tauschen. Sie lebte von einer Stellvertretung zur anderen, die das Rektorat ihr anbot, und dazwischen gab sie Privatstunden bei den Schülern zu Hause und spielte ganze Nachmittage lang Klavier. Sie gab mir ihre Visitenkarte, auf der dieselbe Telefonnummer stand wie auf dem Metroticket:

Mme Evelyne Arnaudin

Klavierlehrerin

Diplomiert am Conservatoire Lausanne

42 56 20 78

Ich untersuchte die Karte, aber auch auf der Rückseite stand ihre Adresse nicht.

»Du kannst sie behalten, wenn du willst.«

Es war das erste Mal, dass sie mich duzte.

»Aber«, sagte ich, »du hast gar keinen Schweizer Akzent.«

Ich hatte erst gezögert, bevor ich sie ebenfalls duzte, wegen unseres Altersunterschieds.

»Na und, du doch auch nicht, du hast doch auch keinen südfranzösischen Akzent. Ich habe es hingeschrieben, damit es seriöser wirkt. Ich habe meine Klavierausbildung am Conservatoire von Besançon gemacht, wo ich aufgewachsen bin.«

»Ehrlich gesagt dachte ich, du seist aus Paris.«

»Wirklich? Wie kommst du denn darauf«, fragte sie mich mit einem falschen Ton der Entrüstung.

»Einfach so … Die Pariserinnen sind hübscher als die aus der Provinz.«

»Hör zu, weißt du, was jemanden aus der Provinz von einem Pariser unterscheidet?«, fragte sie und gab die Antwort gleich selbst: »Ein Pariser schaut dich auf der Straße an, ohne dich zu sehen, so als hätte er dich schon vergessen, bevor er dich kennengelernt hat.«

Evelyne war nicht diese Frau bürgerlicher Abstammung, deren Gehabe sie angenommen hatte. Als ich sie über ihre Kindheit sprechen hörte, glaubte ich einen Augenblick, sie habe sich um meinen Mantel gekümmert, um mit mir zu reden, um alles rauszulassen, was sie in sich verborgen hielt, und dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.

»Wenn du Schüler suchst, kann ich dem Wirt deine Karte geben, damit er sie hinter der Theke aushängt. Weißt du, ich komme jeden Tag zur gleichen Zeit hierher, sobald es dunkel wird.«

Sie schwieg einen Augenblick. Als ich spürte, dass sie von mir wegdriftete, sah ich vor mir, wie sie auf einem Gemälde von Edward Hopper abends allein an diesem Tisch sitzt, über ihr Glas Wein gebeugt, und im Versuch, sie da herauszuholen, sie ihrem Schweigen zu entreißen, fragte ich ganz laut:

»Und Jérôme? Wie geht es ihm?«

»Er lebt bei seinem Vater, ich sehe ihn nur selten. Es ist besser so.«

Seit sie in Cannes war, habe sich ihre Beziehung noch weiter gelockert.

»Er ist ein schwieriger Junge«, fügte sie in gleichgültigem Ton hinzu, als wäre sie es gewohnt, diesen vorgefertigten Satz jedem Beliebigen zu wiederholen.

Es schien ihr für einen Moment gutzutun, schlecht über ihn zu reden. Dann wechselte sie erneut das Thema. Ihr Blick war leer, Evelyne war wieder zu einer gut gekleideten Frau geworden mit diesem etwas ernsten Ausdruck, den die Frauen aus bürgerlichem Haus oft aufsetzen. Der Gedanke streifte mich kurz, sie habe sich verkleidet: Sie war einfach nur ein Mädchen in meinem Alter, dem man die Jugend gestohlen hatte, und das es, genau wie ich, nicht schaffte, so unbekümmert zu sein wie die anderen Studenten.

3

Drei Tage nach unserem Treffen rief ich Evelyne von einer Telefonzelle aus an. Ich war nicht sicher, dass sie zu Hause war. Es musste ungefähr vier Uhr nachmittags sein, und meistens gab sie um diese Zeit bei ihren Schülern Klavierstunden. Vielleicht sollte ich mein Schicksal einfach dem Zufall überlassen? Wenn das Telefon ins Leere klingelte, würde ich nicht mehr versuchen, sie wiederzusehen.

Wir waren vor dem Café etwas überstürzt auseinandergegangen. Evelyne wollte nicht, dass ich sie zur Metrostation begleitete. Sie habe es eilig, hatte sie kurz angebunden gesagt. Ich ging nach Hause und hielt die weiße Hülle auf Schulterhöhe, um mich davon abzuhalten, ihr mit dem Blick zu folgen und auf dem Gehsteig hinterherzurennen. Am liebsten hätte ich den Reißverschluss aufgemacht und mein Gesicht hineingedrückt, um darin zu verschwinden. Sie hatte mich nicht geküsst zum Abschied. Ich bereute es, dass ich sie nach Jérôme gefragt hatte, denn fünf Minuten später brach Evelyne unser Gespräch ab und ging zur Theke, um die Getränke zu bezahlen, unter dem Vorwand, sie sei in der Nähe der Madeleine verabredet. Bestimmt schämte sie sich, mir zu gestehen, dass ihr Sohn nicht bei ihr lebte. Ich hatte nichts dazu gesagt, konnte jedoch meine Überraschung und den Gedanken schlecht verbergen, der mich spontan überkam, sie sei eine schlechte Mutter. Hatte sie ihren Sohn denn nicht ein ganzes Schuljahr lang alleingelassen, um in Cannes zu leben?

Ich spürte die Einsamkeit noch immer, doch seit unserer Begegnung im Café hatte die Leere das Gesicht von Evelyne. Wenn es verwischte, versuchte ich mich an das Foto zu erinnern, das ich von ihr neben dem amerikanischen Pärchen gemacht hatte, und sie tauchte wieder vor mir auf. Einen Augenblick lang saß sie dann auf der Bank und spielte mit ihrer Halskette, während sie die Fotos an den Wänden betrachtete, und das Stimmengewirr eines Cafés füllte meine Ohren. Evelyne war ein Schatten, den die Sonne entstehen und gleich wieder verblassen ließ, bis er sich ganz aufgelöst hatte, aber es schien mir, ich könnte danach genau an der Stelle, wo das Licht ihn hingelegt hatte, noch immer seinen Abdruck, seine intakten Umrisse sehen.

»Hallo. Guten Tag, hier ist Yves.«

»Hallo … Wer ist am Apparat?«, fragte sie in einem strengen Lehrerton.

Ich hörte das Klavier im Hintergrund, falsche Noten, die mich hinderten, sie deutlich zu verstehen.

»Yves, vom Café an der Rue du Petit-Musc. Ich würde Sie … dich gern wiedersehen …«, sagte ich mit gepresster Stimme.

»Ich bin in einer halben Stunde fertig, ruf mich dann noch einmal an«, sagte sie und legte auf.

Ich war froh, dass Evelyne mich nicht vergessen hatte, und fragte mich, ob sie auch an mich gedacht hatte. Doch als ich dreißig Minuten später wieder anrief, nahm niemand ab. Was sollte sie auch an einem Achtzehnjährigen finden. Ich probierte es noch ein zweites Mal und überließ die Kabine dann einem Mann, der draußen wartete. Es war kühler geworden, und er hatte seinen Rücken an die Tür gedrückt, bestimmt um sich vor dem Nieselregen zu schützen, der eingesetzt hatte. Er stampfte mit den Füßen, um sich aufzuwärmen, was die Tür zum Klappern brachte. Bevor ich hinausging, klopfte ich an die Scheibe, um ihm nicht wehzutun. Die massige Statur des Mannes hatte einen Schatten in die Kabine geworfen, während ich telefonierte, und dieser Schatten begleitete mich auf der Straße weiter. Aber es war nur der Himmel, der noch grauer geworden war.

Zu Hause hängte ich den Mantel an einen Kleiderbügel und packte ihn in die weiße Hülle, auf der die Adresse der Reinigung stand, Rue de Birague 3, im vierten Arrondissement, daneben der Vermerk »de luxe«. Ich weiß nicht warum, aber ich war mir sicher, dass Evelyne in dem Viertel leben musste, in der Nähe ihres Sohnes, und dass sie auf dem Nachhauseweg an dieser Reinigung vorbeikam. Am Tag nach unserem Treffen hatte ich die Rue de Birague auf einem Plan gesucht, es ist eine Querstraße zur Rue Saint-Antoine. Die Vorderfront und die Auslage des Ladens waren in derselben Farbe gehalten wie die Hüllen, mit denen sie die Kleider schützten. Ich lief weiter die Straße hinunter, die zu einem kleinen Park führte, ohne dass ich die Place des Vosges erkannte. Dieselbe rote Backsteinfassade, dasselbe steile Schieferdach wiederholten sich auf allen vier Seiten des Platzes, und die Arkaden ließen mich an einen langen Tunnel denken, an dessen Ende ich in einen Abgrund fallen würde. Eine Touristengruppe fotografierte den Platz, und ich hätte um sie herumgehen müssen, um die Gegend weiter zu erkunden. Wegen dieser Angst, mich zu verlaufen, und angesichts der Menge Menschen machte ich wieder kehrt. Wenn ich mich von meiner Wohnung entfernte, hatte ich oft das Gefühl eines Taumels, eine Straße hinunterzugleiten, die leicht abschüssig war wie der Grund eines Schwimmbeckens, in dem man nach und nach den Boden unter den Füßen verliert.

Ich versuchte nicht mehr, sie zu erreichen. Ich hatte Angst, bei meinen Jahresprüfungen durchzufallen, wenn ich mich weiter mit dieser Frau traf, und so führte ich, geborgen in meiner Einsamkeit, das Leben, das ich mir mit Evelyne erträumte, einfach, indem ich an sie dachte. Abends stellte ich mir vor, sie sei bei mir im Zimmer: Evelyne, wie sie auf dem Rand meines Schreibtischs sitzt, in einem meiner Universitätsbücher blättert und ihr Bein durch die Luft schaukeln lässt. Die Szene schien so real, dass ich nicht mehr wusste, ob ich sie wirklich erlebt hatte oder ob es ein Bild war, das ich mir einzuprägen versuchte. Sie erklärte mir lachend, sie verstehe nichts von Verwaltungsrecht, und legte das Buch mit amüsierter Miene auf den Schreibtisch zurück. Ihr Ton war nicht lehrerhaft, sondern eher der einer Studentin in meinem Alter. Ich rief mir das Timbre ihrer hohen Stimme ins Gedächtnis, an der ich mich festklammern konnte und die in mir weitersprach, die mir antwortete, auch wenn ich nichts sagte. Es schien, als würde ich mich an eine Vergangenheit erinnern, die wir nicht erlebt hatten, und diese Vergangenheit füllte sich im Laufe der Tage immer mehr an. Es gefiel mir, mich ganz von Evelynes Gegenwart durchdringen zu lassen, und am Morgen vertiefte ich mich in meine Bücher, um sie wieder zu verdrängen. Im Café hörte ich noch immer ihr Lachen durch den Raum hallen, dann versuchte ich, sie zu vergessen, um die Leere wiederzufinden, nackt und gesichtslos. Es war, als würde ich jedes Mal einen Alarmknopf betätigen, um mich mit Gewalt einem Traum zu entreißen.

Mein Studium an der Assas war nur ein Vorwand gewesen, um nach Paris zu kommen, wo ich von unvergesslichen Begegnungen träumte. Aber auch wenn die Einsamkeit mich ins Bistro bei mir um die Ecke trieb, so hielt ich mich weiterhin abseits. Mein Unbehagen, meine ständige Angst ließen mich auf Distanz zu meinen Kommilitonen bleiben. Im Hörsaal belauschte ich die Gespräche des großen Blonden aus Bordeaux, er unterhielt sich mit seinen Freunden darüber, in welchen Vierteln der Hauptstadt, die ich nur dem Namen nach kannte, es abends Partys gab. Sie führten mir ihre Leichtigkeit vor Augen, während mich ein schweres Gewicht bei den Leuten dieser Kneipe zurückhielt. Ich hatte in Paris keinen einzigen Kontakt geknüpft, und ich hatte das Gefühl, meine Jugend zu verpassen. Sollte ich bei den Prüfungen durchfallen, würde ich zu meinen Eltern nach Antibes zurückkehren, und niemand würde sich an diesen jungen Mann erinnern, der sich immer an denselben Platz setzte, außer vielleicht ein, zwei Tage lang der Kellner mit dem blauen Tattoo im Nacken. Oft fiel mir der Satz meines Vaters ein: Das Leben ist ein Hindernislauf, und man muss Hürde für Hürde überwinden, um nicht zu fallen. Und die Semesterprüfungen waren die erste Hürde, die sich mir in den Weg stellte. Ich war ein Provinzler, der nach Paris kam, um all das hinter sich zu lassen, was er seit jeher gekannt hatte, die alten Schwarz-Weiß-Postkarten über dem Bett, den Hund, der jedes Mal hinter dem Eingangstor bellte, wenn jemand klingelte, die gerade Linie des Meers am Horizont, und ich wollte, sobald mir die Stadt einmal nicht mehr so viel Angst machen würde, herausfinden, wer ich wirklich war, über meine Kindheit hinaus.

Als ich eines Nachmittags das Lernen unterbrach, um Zigaretten zu kaufen, und am Collège des Francs-Bourgeois an der Rue Saint-Antoine, Ecke Rue du Petit-Musc, vorbeikam, erblickte ich Evelynes Sohn. Er hielt das rote Fahrrad am Lenker, das am Flipper gestanden hatte. Statt die Straße zu überqueren, um dem Gedränge nach Schulschluss auszuweichen mit dem Geschrei der Schüler und den Müttern, die in ihren Autos in der zweiten Reihe hupten, ging ich auf dieser Seite des Gehsteigs weiter. Ich hatte plötzlich den Eindruck, wieder ein Kind zu sein und vor meiner Schule in Antibes zu stehen. Eigenartigerweise fühlte ich mich fragiler als damals, als wären die Jahre umsonst verstrichen: Nicht nur war ich kein bisschen reifer geworden, ich hatte darüber hinaus die Unbekümmertheit verloren, die Kindern eigen ist. Jérôme war in Begleitung einer schwarzhaarigen Frau um die vierzig, die den Arm um seine Schulter gelegt hatte. Sie trug einen Nerzmantel und hielt einen dunkelbraunen Rucksack an einem seiner roten Träger. Es musste die neue Frau seines Vaters sein, denn sie hatte dasselbe Auftreten wie Evelyne, nur noch bürgerlicher. Die Frau sah mich mit abwesendem, leerem Blick an. Ich sagte Jérôme Guten Tag, aber niemand achtete auf mich. Ich fühlte ein Unwohlsein aufkommen und lehnte mich neben dem Schuleingang ans Geländer. Ich beobachtete die Kinder auf der Straße: Sahen sie mich, wie ich sie sah? Stellte mein Körper für die Schüler, die mich mit der Schulter anrempelten, wirklich ein Hindernis dar? Und dann diese bohrende Frage, die mich jedes Mal mit dem Gefühl überfiel, ich würde in der nächsten Sekunde das Gleichgewicht verlieren und in Ohnmacht fallen: Existierte ich überhaupt?

Schließlich beruhigte ich mich. Die Menge der Schüler hatte sich zerstreut, und ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich Zigaretten kaufen wollte. Langsam ging ich weiter, was mir guttat. Was mir fehlte, dachte ich auf dem Weg, war eine gehörige Dosis Mut, um meinen Ängsten die Stirn zu bieten, dann wäre das Leben angenehmer. Die Universität war nach den Prüfungen zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen, und meine Eltern hatten mit mir eine Reise nach Sardinien geplant. Doch es wäre besser für mich, ich würde Paris erkunden, jeden Tag dieser Ferienwoche nutzen, um ein neues Arrondissement kennenzulernen, damit mir die Stadt vertrauter wurde. Ich bräuchte mir nur einen detaillierten Plan von den Straßen und Vierteln zu beschaffen, ich wollte Montmartre, die Butte-aux-Cailles, Saint-Germaindes-Prés, das Quartier Latin entdecken, die Orte, an denen sich die anderen Studenten trafen, wie Saint-Michel oder das Odéon, die für mich nur Metrostationen waren, und warum nicht in den Vorortszug steigen und Versailles besichtigen. Danach würde ich mich leichter fühlen, ohne dieses Gewicht auf den Schultern.

Am Abend rief ich aus einer Telefonzelle meine Mutter an. Ich hätte keine Zeit für die Sardinien-Reise, sagte ich, ich hätte viel zu tun für das zweite Semester, und ich weiß noch, dass ich mit bewegter, zitternder Stimme auflegte. Beim einzigen Mal, da ich meine Eltern besuchte, seit ich in Paris lebte, hatte ich den Eindruck zu ersticken und war augenblicklich in die Gewohnheiten zurückgefallen, die ich ein paar Wochen zuvor hinter mir gelassen hatte. Nach meiner Rückkehr fühlte ich mich noch fragiler, noch einsamer als zuvor. Mein kurzer Aufenthalt in der stattlichen Villa meiner Eltern hatte meine Einzimmerwohnung düster gemacht, und die Holzbalken zu beiden Seiten des Fensters vermochten das Ambiente auch nicht aufzuheitern. Das nur mit einem Bett und einem Schreibtisch ausgestattete Zimmer kam mir plötzlich karg vor und enger als in meiner Erinnerung. Ein Gefühl der Traurigkeit hing in der Luft; ich hatte es mit der Zeit vergessen.

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